MEINE ERFAHRUNG MIT DER BEFREIUNGSTHEOLOGIE
Lima: Seminar zur Befreiungstheologie
Die Theologie der Befreiung verbindet sich für mich mit einem Gesicht: Gustavo Gutiérrez. Im Jahre 1988 nahm ich mit mehreren Theologen aus Deutschland und Österreich auf Einladung des damaligen Chefs von MISEREOR, Josef Sayer, an einem Kurs zu diesem Thema teil. Der Ort war das damals schon berühmte Institut Bartholomé de Las Casas. Zu diesem Zeitpunkt lehrte ich schon 2 Jahre lang die Dogmatik an der Ludwig-Maximilians-Universität in München.
Als Theologieprofessor war ich natürlich mit den Schriften und den bekannten Vertretern dieser theologischen Strömung vertraut, die in Lateinamerika entstanden war, aber weltweit diskutiert wurde, besonders aufgrund der teilweise kritischen Bemerkungen seitens der Internationalen Theologenkommission bei der Kongregation für die Glaubenslehre und durch die Erklärungen von 1984 und 1986 seitens der Kongregation selbst unter Vorsitz ihres Präfekten Joseph Kardinal Ratzinger, unseren heutigen Papst Benedikt XVI.
Mit dem Seminar unter Leitung von Gustavo Gutiérrez vollzog sich bei mir eine Wende von der akademischen Reflexion über eine neue theologische Konzeption zu der Erfahrung mit Menschen, für die diese Theologie entwickelt worden ist. Für meine eigene theologische Entwicklung ist diese Umkehrung der Reihenfolge von der Theorie zur Praxis hin zu dem Dreischritt »Sehen-Urteilen-Handeln« entscheidend geworden.
Wir Teilnehmer an dem genannten Seminar waren voll bepackt mit vielen Kenntnissen über den Ursprung und die Entwicklung der Befreiungstheologie und diskutierten hauptsächlich über die Analyse der Situation, der eine zu naive Nähe zum Marxismus vorgeworfen wurde. Die Aussagen der lateinamerikanischen Bischofskonferenz von Medellín und Puebla waren uns geläufig.12 Der Streit ging darum, ob hier aus dem Christentum eine Art politisches Erlösungsprogramm gemacht werden sollte, wobei sogar revolutionäre Gewalt gegen Menschen und Sachen unter bestimmten Umständen toleriert werden sollte. Die Befreiungstheologie stand bei den einen im Verdacht und wurde von anderen dazu herangezogen, terroristische Gewalt im Dienste der gerechten Revolution zu legitimieren.
Das Erste, was uns Gustavo Gutiérrez beibrachte, war die wichtige Einsicht, dass es hier um Theologie und nicht um Politik geht. Er machte auch den Unterschied von Befreiungstheologie und katholischer Sozialethik in der Linie der großen Sozialenzykliken der Päpste deutlich. Während sich die Sozialethik auf das Naturrecht gründet und mit den Prinzipien der Personalität, Subsidiarität und Solidarität die Grundlage für ein sozial und gerecht angelegtes Gemeinwesen sichern will, handelt es sich bei der Theologie der Befreiung um ein praktisches und theoretisches Programm, das Welt, Geschichte und Gesellschaft im Licht der übernatürlichen Selbstoffenbarung Gottes als Erlöser und Befreier der Menschen verstehen und verändern hilft.
Wie kann man von Gott sprechen angesichts des Leidens der Menschen, der Armen, die ihren Kindern kein Brot zu essen geben können, die keine medizinische Versorgung beanspruchen können, denen die Schulbildung verwehrt bleibt, die vom gesellschaftlichen und kulturellen Leben ausgeschlossen, die marginalisiert und als Last und Bedrohung des Lebensstils einiger weniger Reicher empfunden werden?
Und diese Armen sind nicht eine anonyme Masse. Jeder von ihnen hat ein Gesicht. Wie kann ich als Christ, ob Priester oder Laie, wenn ich kerygmatisch oder theologisch-wissenschaftlich von Gott und seinem Sohn, der für uns Mensch wurde und für uns aus Liebe am Kreuze starb, reden und ihn bezeugen, wenn ich nicht ein theologisches Denkgebäude neben den schon vorhandenen aufrichten will, sondern wenn ich dem konkreten Armen vor mir von Gesicht zu Gesicht sagen will: Gott liebt dich, und deine unverlierbare Würde ist in Gott begründet. Wie wird die biblische Einsicht konkret im individuellen und gemeinschaftlichen Leben der Menschen erfahrbar, wenn die Menschenrechte in der Erschaffung des Menschen nach Gottes Bild und Gleichnis entspringen.
Mit dem Aufenthalt in Peru im Jahr 1988 war aber nicht nur das Seminar mit Gustavo Gutiérrez verbunden, in dem mir der echt, theologische Ansatz der Befreiungstheologie klar wurde, sondern eben auch die lebendige Begegnung mit den Armen, über die wir gesprochen hatten. Wir lebten einige Zeit zusammen mit den Menschen in den Elendsvierteln von Lima und dann auch mit den Campesinos der Pfarrei von Diego Irrarazaval am Lago Titicaca. Seit dieser Zeit bin ich etwa 15-mal in Peru und anderen Ländern Lateinamerikas gewesen – oft über viele Monate während der Semesterferien in Deutschland. Meine Arbeit bei theologischen Kursen vor allem im Priesterseminar von Cuzco, Lima, Callao u. a. war immer auch verbunden mit langen Wochen der Pastoral in den Andengemeinden, besonders in Lares, in der Erzdiözese Cuzco. Hier sind mir Gesichter zu Namen und schließlich auch zu vielen persönlichen Freunden geworden – eine Erfahrung der weltumspannenden Communio in der Gottes- und Nächstenliebe, was das Wesen der katholischen Kirche sein muss. Zuletzt war es mir tiefe Freude, dass ich schon als Bischof 2003 in Lares, in der Erzdiözese Cuzco, das Sakrament der Firmung Jugendlichen spenden konnte, deren Eltern ich seit Langem kenne und die ich selbst getauft hatte.
Ich rede darum nicht abstrakt und theoretisch über die Befreiungstheologie oder gar ideologisch, um mich in einem progressiven kirchlichen Lager als Gesinnungsgenosse zu empfehlen. Ebenso wenig habe ich Angst, dass dies als Verdacht auf mangelnde Orthodoxie ausgelegt werden könnte. Wie immer man es auch wendet, die Theologie von Gustavo Gutiérrez ist orthodox, weil sie orthopraktisch ist, und sie lehrt uns das gebotene christliche Handeln, weil sie aus dem rechten Glauben kommt.
Ein Blick in das Buch »Aus der eigenen Quelle trinken«13 (»Beber en su proprio pozo«) macht deutlich, dass die Theologie der Befreiung in einer tiefen Spiritualität begründet ist. Ihr Nährboden ist die Nachfolge Jesu, die Begegnung mit Gott im Gebet, die Teilnahme am Leben der Armen und Unterdrückten und die Bereitschaft, teilzuhaben an ihrem Schrei nach der Freiheit und Herrlichkeit der Kinder Gottes, ihren Kampf mitzuführen um ein Ende von Ausbeutung, Unterdrückung, um die Respektierung der Menschenrechte und eine gleichberechtigte Teilnahme am kulturellen und politischen Leben in der Demokratie und der Erfahrung, dass man im eigenen Land kein Fremder ist, sondern dass Kirche und Staat uns Heimat und die Garantie der geistlichen und zivilen Freiheit geben wollen. Die Einleitung und Begleitung eines dynamischen Prozesses, der die Menschen aus kultureller und politischer Abhängigkeit befreien will, ist das Ziel.
Vorbild: Bartolomé de Las Casas
So wie Gustavo Gutiérrez mit seiner Person, seinem geistlichen Zeugnis, seinem Engagement für die Armen und seiner großartigen Reflexion der Befreiungstheologie in unserer Zeit ein Gesicht gibt, so hat er uns auch eindrücklich die Gestalt Bartolomé de Las Casas nahegebracht, der im 16. Jahrhundert anders als sein Bekannter Kolumbus nicht ein Land entdeckte und für die spanische Krone in Besitz nahm, sondern der das Unrecht der Unterdrückung und Entwürdigung der einheimischen Bevölkerung entdeckte und die Menschen für das Reich Gottes in Besitz nehmen wollte, in dem es keine Herren und Sklaven, sondern nur gleichberechtigte Brüder und Schwestern geben kann.
Las Casas kam nach Westindien, wie er annahm, dem von Kolumbus entdeckten Erdteil, den man heute Amerika nennt, als Abenteurer und Glücksritter. In der Perspektive der »Entdecker« Amerikas handelte es sich um ein Land, das man für die eigenen Könige in Besitz nehmen konnte, dessen Bodenschätze und Menschen rechtlos waren und damit dem Zugriff des eigenen Willens zur grenzenlosen Selbstbereicherung offenstanden. Las Casas war anfangs in das gesamte System der Freiheitsberaubung und Ausbeutung einbezogen.
Schließlich erkannte er im Gesicht der Gequälten das Gesicht Christi und er wurde zu einem wortmächtigen Fürsprecher und Vorkämpfer für die unterdrückten Völker in deren Heimat, in Amerika. Damit verbunden war auch die Rückkehr zum ursprünglichen Sinn christlicher Mission. Jesus hatte seine Jünger in die Welt ausgesandt, um allen Menschen das Evangelium von der Erlösung und Befreiung zu verkünden. In diesem Sinn ist Mission als Begegnung von Mensch zu Mensch im Namen Jesu das strikte Gegenteil zu einer nur religiös ummäntelten Form von Kolonialismus und Imperialismus. Man kann keine Eroberung von Ländern für Christus betreiben und ihre Menschen irgendeinem christlich geprägten Staat als Untertanen unterwerfen.
Vielmehr entspricht der Verkündigung der bevollmächtigten Boten Christi die freie Annahme des Glaubens. So entsteht ein weltweites Netz von Jüngerinnen und Jüngern Jesu, die nach seinem Willen eine Gemeinschaft von Brüdern und Schwestern und somit die sichtbare Kirche Gottes sind in der Welt. In diesen pfingstlichen Prozess bringen die Menschen ihre gewachsene Herkunft und ihre kulturelle Identität mit ein und lassen sich vom Geist Gottes in eine höhere gemeinsame Identität umformen: nämlich die Erkenntnis, dass wir Kinder Gottes sind und berufen zu einem vorbildlichen Leben, bestimmt für die Vollendung in Gottes Zukunft. So kann die Kirche in Christus Sakrament des Heils der Welt sein. Sie dient als Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung der Menschen mit Gott wie für die Einheit der Völker.14 (vgl. Lumen gentium 1).
Las Casas nennt in seinem Bericht von...