2. Der Mensch in einer sich ändernden Welt
Den Menschen kann man körperlich als Organismus, als ein biologisches System verstehen. Damit gehört der Mensch zu jenen Systemen, welche die Fähigkeit haben, sich selbst zu erneuern (Fachausdruck: Autopoiesis). Für eine optimale Entfaltung benötigen sie einen systematischen Wechsel zwischen Belastung und Erholung. Im Gegensatz dazu können mechanische Systeme zwar eine Dauerleistung erbringen, wie z. B. Motoren oder andere Maschinen. Sie brauchen keine Erholung, können sich aber auch nicht selbst regenerieren. Ihre Lebensdauer ist begrenzt durch den Verschleiß des Materials. Nun neigt der Mensch dazu, seinen Körper eher mechanisch zu sehen, was sich in den Anforderungen an seine Leistungsfähigkeit zeigt. Das kann so aber nicht gut gehen, wie jeder irgendwann sicher schon bemerkt hat.
Bereits in der biblischen Schöpfungsgeschichte wird uns gezeigt, dass Gott nach sechs Arbeitstagen einen Ruhetag einlegte. Biologische Systeme brauchen systematisch Pausen, damit die Selbstregeneration greifen kann. Das sind ihre Ruhephasen. Die Natur macht es uns vor mit dem Wechsel der Jahreszeiten, wo die ruhige Zeit im Winter zur Regeneration und dem Kräftesammeln dient. So stellt die Erde mit dem Wechsel aus Tag und Nacht, den angesprochenen Jahreszeiten und anderen Taktgebern eine rhythmische Umgebung dar, die der Tier- und Pflanzenwelt ganz natürliche Ruhephasen verordnet. Sie machen eine schöpferische Pause und regenerieren sich.
Noch vor wenigen Jahrzehnten lebte der Mensch ziemlich angepasst an diesen Lauf der Dinge. Die Weiterentwicklung der Technik und der Mobilität machte uns jedoch unabhängiger von solchen Gegebenheiten und lässt uns die taktgebenden Einflüsse leicht vergessen. Wir gönnen uns selbst immer weniger Abschaltpausen. Wir sind ununterbrochen und überall erreichbar. Wir können 24 Stunden täglich einkaufen, wir können den Jahreszeiten entfliehen, aber wir sind kaum noch in der Lage, abzuschalten und Ruhe einkehren lassen. So fällt es besonders Jugendlichen, aber zunehmend auch Erwachsenen sehr schwer, z. B. das Handy oder den Computer ein paar Tage lang ausgeschaltet zu lassen und sie nicht zu benutzen.
Die Ruhezeiten wie etwa Abende oder die Wochenenden sind weitgehend abgeschafft. In einer globalisierten Welt ist es irgendwo und irgendwie ständig Tag. Wir sind rastlos geworden und füllen eventuelle Leerzeiten gleich mit etwas auf, was unbedingt noch erledigt werden muss. Ein Beispiel dafür ist, dass die Beschäftigung auf Reisen sich kaum von jener am Arbeitsplatz oder anderswo unterscheidet: ständig sind der Laptop und das Handy in Betrieb. Zeit zu haben oder gar zu zeigen, dass man Zeit hat, ist „out“. Bei einer Umfrage unter 20 Teilnehmern eines Seminars für Zeitmanagement wurde gefragt, wie viel Zeit jeder täglich für sich habe. Allein die Frage war vielen schon unangenehm. Nur einer outete sich als Außenseiter, weil er sagte, dass er täglich ausreichend Ruhe- und Mußezeit für sich habe. Das war für die anderen eine verwegene, ja ziemlich unmöglich erscheinende Vorstellung. Die logische Folge solcher Entwicklungen sind die Zunahme von Burn-out- und Erschöpfungserkrankungen ebenso wie von depressiven Verstimmungen sowie das Nachlassen der Leistungsfähigkeit.
2.1 Work-Life-Balance und Muße
Ich habe mich oft gefragt, ob nicht gerade die Tage, die wir gezwungen sind, müßig zu sein, diejenigen sind, die wir in tiefster Tätigkeit verbringen? Ob nicht unser Handeln selbst, wenn es später kommt, nur der letzte Nachklang einer großen Bewegung ist, die in untätigen Tagen in uns geschieht? Jedenfalls ist es sehr wichtig, mit Vertrauen müßig zu sein, mit Hingabe, womöglich mit Freude.
Rainer Maria Rilke
Befasst man sich näher mit der Wortkombination „Work-Life-balance“, so fällt auf, dass hier ein scheinbares Gegensatzpaar in die Balance gebracht werden soll. Schaut man jedoch genau hin, fällt auf, dass „work“ = Arbeit und „life“ = Leben gar keine Gegensätze sind. Arbeit ist eine Tätigkeit mit dem Ziel, etwas zu erhalten oder zu bewirken, also jegliche Aktivität des Menschen. Lebendig sein heißt, das Leben mittels Auseinandersetzung mit der Umwelt unter Einsatz von Energie zu bewältigen. Somit sind Tätigsein (= arbeiten) und Leben untrennbar miteinander verbunden und kein Gegensatzpaar.
Selbst wenn man den Arbeitsbegriff auf die reine Berufstätigkeit beschränkt, bezeichnet er keinen Gegenpol zum Leben, denn auch, während man beruflich tätig ist, ist man ja doch wohl am Leben. Was ist dann mit dem Gegensatz gemeint? Was wäre die richtige Bezeichnung für die gemeinte Polarität, die es in Balance zu halten gilt?
Im Mittelpunkt der Forderung nach einer Work-Life-Balance stehen die Arbeit oder das Tätigsein einerseits und andererseits die passive Regeneration. Anzustreben ist daher zuvorderst eine Arbeit-Ruhe-Balance. So, wie wir Wohlspannung anstreben als eine Balance der Pole Über- und Verspannung einerseits und Schlaffheit andererseits. Da unser Gehirn Zusammenhänge sehr wörtlich und präzise annimmt, verführt die Bezeichnung Work-Life-Balance zu einer speziellen Weltsicht und Handlungsweise. Sie drückt sich z. B. in der Äußerung aus: „Wenn ich in Rente gehe bzw. pensioniert bin, dann werde ich anfangen zu leben.“ Doch Anspannung und Entspannung sind nicht einander ausschließende Gegensätze – sie sind einander zwingend bedingende Pole!
Nehmen wir nun das Wort Muße in unsere Betrachtung mit hinein. Im gegenwärtigen Sprachgebrauch ist Muße ein synonym für Entspannung und Erholung. Das, was wir als Muße bezeichnen, ist jedoch nicht Ruhen oder Schlafen, sondern eine andere Form von Aktivität. Sie gehört streng genommen zu der Rubrik Arbeit. Es handelt sich aber um eine Arbeit mit einer anderen Ausrichtung als jene, die dazu dient, den Lebensunterhalt zu verdienen. Bei Muße – und dies entspricht auch älteren Vorstellungen davon – handelt es sich um eine besondere Form von Tätigkeit. Muße ist etwas, das wir um seiner selbst willen tun, also nicht mit „Gewinnerzielungsabsicht“, nicht als Mittel zu einem Zweck. Raum für Muße ist nur dann gegeben, wenn die lästigen Pflichten uns nicht so sehr beanspruchen, dass nur noch Zeit zum Schlafen und Essen übrig bleibt. Und gerade die Mußezeiten sind jene Zeiten, in denen der Mensch Kreativität entfaltet, in denen die großen Ideen geboren werden.
Eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Thema Muße findet sich in dem Buch „Wie viel ist genug?“ von Robert und Edward Skidelsy (S. 223 ff.). In diesem Sinne ist zusammen mit der Arbeit-Ruhe-Balance auch eine Arbeit-Muße-Balance anzustreben.
2.2 Kurzpause zum Auftanken
Steht es Dir doch frei, zu jeder Stunde Dich auf Dich selbst zurückzuziehen. Gönne dir recht oft dieses Zurücktreten ins Innere und kräftige so Dich selbst.
Marc Aurel
In verschiedenen psychologischen Studien konnte vor allem von Otto Graf belegt werden, dass der Mensch
- eine deutlich bessere und dauerhaftere Leistungsfähigkeit hat, wenn er sich regelmäßig kurze Pausen gönnt, und
- kurze Pausen eine sehr gute Erholung bewirken.
Zum Beleg wird in der Abbildung ein Untersuchungsergebnis von O. Graf angefügt.
Diese Untersuchungen weisen darauf hin, dass wir uns nicht nur die großen und langen Pausen wie z. B. viele zusammenhängende Urlaubstage gönnen sollten. Es sind vor allem die häufig und möglichst regelmäßig eingelegten kurzen Pausen, die für die Gesunderhaltung und ein gutes Funktionieren wichtig sind. Dazu gehört die heute immer mehr zurückgedrängte Sonntagsruhe ohne berufliche Arbeit oder Einkaufsstress, aber auch die „eingesparten“ Kurzpausen zwischendurch in manchen Betrieben. In den Schulen gibt es nicht ohne Grund nach jeweils 45 Minuten Unterricht eine Pause.
Dass wir als biologisches System diese Notwendigkeit haben, wissen wir. Und so lassen sich mittlerweile auch Gegenbewegungen zu den beschriebenen Trends ausmachen – etwa in der modernen Forderung nach einer guten Work-Life-Balance (siehe oben) und nach Zeiten ohne Erreichbarkeit. In Unternehmen setzt sich langsam eine Kultur der Nichterreichbarkeit im Feierabend durch: Die lange Zeit erhobene Forderung nach immer erreichbaren Mitarbeitern wird als unproduktiv und leistungs- wie motivationshemmend erkannt. So habe ich gehört, dass z. B. bei VW der Mailserver zu bestimmten Zeiten einfach abgeschaltet wird. Zunehmend gewinnt auch die Idee Raum, Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Kurzpausen zum Auftanken zu verschaffen. Eine ideale und bereits von vielen Unternehmen gern angenommene Möglichkeit dazu bietet TrophoTraining.
2.3 Die Entfremdung vom Körper und von der Natur
Da die größten Fehler der Menschen in ihren Ansichten bestehen, ist es folglich notwendig, ihr Denken den Lehren der Natur anzupassen.
Leonardo da Vinci
Der eigene Körper spielt ebenso wie die Natur eine wichtige Rolle für ein Leben in Balance. Doch welches Kind weiß beispielsweise heute noch aus eigener Erfahrung, wie eine Kuh aussieht oder gar, wie sie sich anfühlt? Bei unglaublich vielen Dingen des Lebens haben wir den direkten Bezug zur Natur verloren. Ebenso verlieren wir zunehmend den direkten Bezug zu uns selbst und unseren Gegebenheiten.
Für ein Leben im Einklang mit unserem Körper und mit der Natur ist es unabdingbar, dass wir wieder mehr direkten und darüber hinaus bejahenden Kontakt zu uns selbst, unseren Gegebenheiten und zur Natur im Allgemeinen aufbauen. Das kann zum Beispiel durch Spaziergänge oder Wanderungen bis hin zum „Urlaub...