Eine Warnung vorweg
Flughafen Detroit, eine Wartehalle wie überall auf der Welt: viel Gewusel und Lärm, Krawattenmenschen, ein paar Urlauber. Leute, die nichts wie weg wollen. Lange Reihen von Plastiksitzen, unterbrochen von Tischchen mit braunen Glasplatten, darauf volle Aschenbecher. Ja, Aschenbecher: Wir befinden uns mitten in den siebziger Jahren.
Ein Herr mit Hut steht von seinem Sitz auf und geht zu einer der Telefonzellen im Hintergrund. Als er die Tür öffnet, fällt sein Blick sofort auf den Klarsichthefter auf der Ablage. Er nimmt ihn zur Hand und blättert darin. Offenbar handelt es sich um die Bewerbung einer Highschool-Absolventin um einen Studienplatz im Fach Psychologie. Obendrauf auf die Mappe ist eine handschriftliche Notiz geheftet: »Lieber Papa, ich wünsch dir eine gute Reise! Bitte denk daran, die Bewerbung noch vor deinem Flug abzuschicken. Deine Linda.« Nachdem er seinen Telefonanruf erledigt hat, schaut der Herr noch einmal kurz auf das Passbild auf dem Lebenslauf und nimmt die Unterlagen – unter denen sich wie durch ein Wunder auch ein frankierter Briefumschlag befindet – an sich. Er hat noch genug Zeit, um sie im Postamt des Flughafens aufzugeben.
Was der Mann mit dem Hut nicht weiß: Er nimmt gerade an einem psychologischen Experiment teil. Und genauso wenig weiß er, dass an diesem Tag noch 502 andere Passanten irgendwo auf dem Detroiter Flughafen in herrenlosen Bewerbungsmappen blättern, die alle absolut identisch sind: gleicher Name, gleiche Adresse, gleiche Zeugnisse – nur das Foto ist jedes Mal ein anderes. Manche Mappen werden zurückgeschickt, andere nicht. Hinter der angegebenen Adresse steckt kein anderer als der Mann, der den ganzen Betrug organisiert hat: Richard Lerner, ein Sozialpsychologe von der Eastern Michigan University. Zusammen mit seinen Kollegen will er die Frage klären: Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Attraktivität der Bewerberin und der Rücklaufquote? Die Antwort steht ein paar Monate später im Journal of Experimental Social Psychology: je schöner das Gesicht auf dem Foto, desto hilfsbereiter sind die Geister.
Willkommen im Reich der Attraktivitätsforschung. Die Gruppe um Richard Lerner gehört zu einem kleinen Kreis von Pionieren, die unser Aussehen als wissenschaftliches Thema entdeckt haben. Heute hat Schönheit – unter ihrem akademischen Pseudonym »physical attractiveness« – Konjunktur in der Forschung. Jedes Jahr erscheinen Hunderte von wissenschaftlichen Publikationen in allen nur erdenklichen Disziplinen.
Auf den kommenden Seiten werden Sie die wichtigsten Ergebnisse der Attraktivitätsforschung kennen lernen. Ich werde Sie durch ein Forschungsgebiet führen, dessen Erkenntnisse ein vollkommen neues Bild eines uralten Rätsels zeichnen. Wir werden bei unserer Erkundung durch viele Provinzen kommen, die unterschiedlichsten Gedankengebäude besichtigen, in Zement gegossene Theorien, waghalsige Hypothesen und luftige Spekulationen.
Ab und zu werden wir uns für eine Verschnaufpause hinsetzen und darüber nachdenken, was Schönheit mit uns selber und unserer Gesellschaft zu tun hat. Warum ist Schönheit so wichtig? Was ist vom Schönheitskult unserer Tage zu halten? Waren andere Epochen weniger schönheitsfixiert?
Aber Achtung. Schönheit ist kein Stoff wie jeder andere. Sie kommt mit einem langen Beipackzettel.
Als vor fünf Jahren die Idee zu diesem Buch so weit gediehen war, dass ich sie probehalber in einem privaten Literaturkreis vorstellen konnte, erlebte ich hautnah mit, was für eine Sprengkraft in dem Thema liegt. Die Reaktionen reichten von Begeisterungsstürmen bis zu zugeschlagenen Türen. Zurück blieb eine erste Ahnung davon, dass es gute Gründe gibt, kein Buch über Schönheit zu schreiben.
Schönheit ist vermintes Gelände. Schon die Tatsache, dass die einen sie haben und die anderen nicht, macht die Sache brisant.
Dass ihr Besitz gänzlich unverdient ist, macht alles noch schlimmer. Mit welchem Recht bekommt eigentlich ein hübsches Kind in der Schule mehr freundliche Worte, Zuwendung und bessere Noten? Ein gut aussehender Einbrecher vor Gericht eine mildere Strafe als einer mit weniger angenehmem Äußeren? Eine schönere Patientin mehr Aufmerksamkeit von ihrem Arzt?
Schönheit ist ein Affront gegen einen unserer heiligsten Werte: dass alle Menschen mit den gleichen Chancen ins Leben starten.
Ein Affront auch gegen unseren Verstand. Im Bannkreis der Schönheit werfen wir Vernunft, Kritikfähigkeit und Menschenkenntnis mit einem Jubelschrei über Bord. Schönheit täuscht, und wir lassen uns täuschen. Nicht auf Herzensgüte, Charakterstärke, Treue oder Originalität bauen wir unser Urteil über unsere Mitmenschen, sondern allzu oft auf die bloße Verpackung drum herum, die alleräußerlichste aller Äußerlichkeiten, von der wir nicht einmal benennen können, was ihren Reiz eigentlich ausmacht, und die uns trotzdem mit der Macht einer Naturgewalt anzieht.
Schönheit ist ein Skandal. Kein Wunder, dass wir uns um Distanz bemühen. »Schönheit liegt im Auge des Betrachters«, sagen wir gerne und meinen es durchaus ernst. Hat nicht jeder Mensch seine eigenen Vorstellungen von Schönheit? Und ist nicht jeder Mensch auf seine Weise schön? Ist Schönheit nicht reine Ansichtssache?
Wenn ich die Antwort der Attraktivitätsforschung hier schon vorwegnehme, dann deshalb, weil sie für das Fachgebiet – und dieses Buch – von zentraler Bedeutung ist. Wie sollte man sich über etwas verständigen, was jeder anders sieht?
Die Antwort der Wissenschaft lautet klipp und klar: Schönheit ist alles andere als relativ. Quer durch alle Schichten der Gesellschaft, durch alle Kulturen und Kontinente, unabhängig von Alter, Beruf oder Geschlecht – überall werden dieselben Gesichter als attraktiv wahrgenommen.
Natürlich gibt es Geschmacksunterschiede, Moden und Marotten. Es gibt nicht ein Schönheitsideal, sondern sechs Milliarden. Sie überschneiden sich jedoch in erstaunlichem Maße. Sie enthalten einen gemeinsamen »harten Kern«, einen universalen Konsens, der alle Zeiten und Kulturen verbindet. Auch wenn sich die Dialekte der Schönheit unterscheiden, ihre Sprache ist immer und überall dieselbe.
Dieser Befund liegt denkbar quer zur allgemein verbreiteten Weltsicht, vorneweg der feministischen. Die Frauenbewegung hatte die bislang radikalste Antwort auf den Skandal der Schönheit gefunden: Sie erklärte Schönheit zu einer Erfindung – einem Mythos, von den Männern in die Welt gesetzt, um Frauen auf ihre Rolle als Lustobjekt festzunageln (und dabei perfiderweise noch Geld zu verdienen, indem sie ihnen Schminke und Dauerwellen verkaufen).
Die Ergebnisse der Attraktivitätsforschung – die übrigens zu einem großen Teil von Wissenschaftlerinnen betrieben wird – unterstützen diese These nicht. Schon ein nur wenige Tage altes, vom Patriarchat noch nicht beeinflusstes Baby blickt ein schönes Gesicht länger an als ein weniger schönes.
Ein weiterer Grund, warum Schönheitsforschung lange Zeit der Geruch von politischer Unkorrektheit anhing, hat mit einem Brille tragenden Ameisenforscher von der Universität Harvard zu tun. Edward O. Wilson veröffentlichte 1975 ein drei Kilo schweres Buch mit dem Titel Soziobiologie, in dem er das tierische Sozialverhalten aus dem Blickwinkel der Evolutionstheorie beschreibt. Das Werk hätte sich wohl einer ruhigen Zukunft in den Regalen der Universitätsbibliotheken erfreut, wenn der Autor es sich hätte verkneifen können, in einem Kapitelchen am Schluss des Werkes auf ein paar Aspekte menschlichen Sozialverhaltens einzugehen – beispielsweise Inzestvermeidung, Geschlechterrollen und Altruismus. Seiner Ansicht nach ließen sich auch diese Verhaltensweisen biologisch erklären.
Was für unsere heutigen Ohren recht harmlos klingt, war seinerzeit reines Plutonium – eine Kampfansage an den unter Sozialwissenschaftlern herrschenden Konsens, wonach soziales Verhalten ausschließlich erlernt ist. Jede Deutung menschlichen Verhaltens aus seinen Erbanlagen galt – in Reaktion auf Hitlers Rassenwahn und Menschenzucht-Phantasien – als verpönt und reaktionär.
Was hat unser Ameisenforscher nun mit Schönheit zu tun?
Ziemlich viel. Das inkriminierte Kapitel war der Startschuss für eine neue Disziplin, die sich für die Schönheitsforschung als außerordentlich fruchtbar erweisen sollte: die Evolutionspsychologie. Von nun an war Schönheit – vorher fast ausschließlich von Psychologen beackert – auch ein biologisches Problem. Die Evolutionspsychologie ging über das Beschreiben von Zusammenhängen (beispielsweise zwischen der Attraktivität eines Menschen und der Anzahl seiner Sexualpartner) hinaus und fragte nach dem evolutionären »Sinn« hinter den Daten. Welchen Vorteil hatten unsere Vorfahren von einem geschärften Schönheitssinn? Das neue Fachgebiet brachte schon bald die ersten zusammenhängenden Theorien der Schönheit hervor, deren Stichhaltigkeit zwar nicht immer mit ihrer Originalität mithalten konnte, die aber in jedem Fall frischen Wind in die Schönheitsdebatte brachten.
Inzwischen hat sich der Streit um das »angeborene« und »erlernte« Sozialverhalten etwas entschärft. Trotzdem zieht sich der Marianengraben zwischen den Denkschulen bis heute durch alle Wissenschaftsgebiete, die sich mit menschlichem Verhalten beschäftigen. Selbstverständlich kommen in diesem Buch beide Seiten zu Wort. Zu einem aktuellen Gesamtbild der Schönheit tragen alle an ihrer Erforschung beteiligten Fachgebiete bei, von den Sozialwissenschaften über die Evolutionsbiologie bis zu den Geschichts- und Wirtschaftswissenschaften. Wer einfache Erklärungen aus einem ideologischen Guss sucht, wird enttäuscht sein....