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E-Book

Nach der Welle

AutorSonali Deraniyagala
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl272 Seiten
ISBN9783104030623
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
*** »Ein ganz erstaunliches, wunderschönes Buch.« Joan Didion *** »Ich schrie nicht, heulte nicht auf. Ich fiel nicht in Ohnmacht. Abwarten, dachte ich mir. Ich warte ab, bis sie sie alle gefunden haben, und dann bringe ich mich um.« Sri Lanka, 26. Dezember 2004. Sonali Deraniyagala verbringt die Weihnachtsferien mit ihrer Familie in einem wunderschönen Hotel direkt an der Küste, als die Welle kommt. Sonali selbst überlebt knapp, aber sie verliert ihre gesamte Familie, ihren Mann, die beiden kleinen Söhne und ihre Eltern. »Ein unglaublich starkes und zutiefst bewegendes Buch, wie ich schon lange keines mehr gelesen habe. ... Sonali Deraniyagala beschreibt eine Katastrophe und ihre Auswirkungen, die keiner von uns miterleben musste. Und gleichzeitig erweckt sie in ihrem atemberaubenden Erfahrungsbericht alle diejenigen wieder zum Leben, die sie verloren hat, so dass auch wir sie niemals vergessen werden.« Michael Ondaatje

Sonali Deraniyagala wurde in Colombo, Sri Lanka, geboren. Sie studierte Wirtschaftswissenschaften in Cambridge und promovierte an der Oxford University. Heute leitet sie die wirtschaftswissenschaftliche Fakultät an der University of London und hat ein Forschungsstipendiat der Columbia University, New York. Sie lebt in New York und London.

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Leseprobe

Eins


Yala, Sri Lanka, 26. Dezember 2004

Anfangs dachte ich mir nichts dabei. Das Meer schien einfach unserem Zimmer ein wenig näher zu sein als sonst. Eine einsame, weiß gesäumte Welle hatte sich bis zu einer Sandbank vorgeschlagen, an der der Strand jäh in Richtung Meer abfiel. So nah kam das Wasser eigentlich nie.

Orlantha, eine Freundin von mir, hatte mich darauf aufmerksam gemacht. Sie hatte an unsere Hotelzimmertür geklopft, um zu erfahren, ob wir schon ausgehen konnten. Wir waren fast so weit; nur Steve stand noch unter der Dusche – oder, und das war wahrscheinlicher, er saß auf der Toilette und hatte sich in irgendetwas festgelesen. Und unsere Jungs spielten ausgelassen auf der hinteren Terasse mit ihren Weihnachtsgeschenken, also plauderten Orlantha und ich im Eingangsbereich unseres Zimmers.

So war das Leben in Yala, einem ruhigen Nationalpark an der Südküste Sri Lankas, wo es von prächtiger Flora und Fauna nur so wimmelte. Vikram, der ältere meiner beiden Jungs, begeisterte sich besonders für die Weißbauchseeadler. Dafür, dass er noch nicht ganz acht Jahre alt war, wusste er überhaupt erstaunlich viel über Vögel. Aber die Weißbauchseeadler hatten es ihm besonders angetan: Ein Pärchen nistete an einer Lagune in Hotelnähe, und Vik konnte stundenlang auf einem Stein am Lagunenstrand verharren und fast regungslos darauf warten, einen Blick auf sie zu erhaschen. Sie ließen ihn auch nie im Stich, sondern zeigten sich immer im Laufe des Tages, so verlässlich wie die Zahnfee. Seit wir mit meinen Eltern vor vier Tagen angereist waren, hatte Vik fast täglich dort gesessen und hatte auch fest vor, das weiter zu tun, zumindest bis Steve, die Jungs und ich wieder nach London fliegen mussten, zurück nach Hause.

Wir waren von Colombo aus nach Yala gefahren, wo Malli, der Jüngere, am Tag vor unserer Abreise ein Geigenkonzert gehabt hatte. Er war auf die Geige an sich nicht besonders versessen, aber er liebte das Rampenlicht. Er war der geborene Schauspieler. Auf der Bühne imitierte er gekonnt das Mädchen neben sich und schwang seinen Bogen mit so überzeugender Präzision, dass er sogar seinen Bruder dazu brachte, mir beeindruckt zuzuflüstern: »Mum, guck, er tut doch nur so! Er schauspielert nur!«

Orlantha war diejenige, die Malli während unserer Reisen nach Sri Lanka Geigenunterricht gab. Sie war nach Sri Lanka gezogen, um sich ein paar Jahre Auszeit von Los Angeles zu verschaffen, und blühte hier auf. Ihr Kinderorchester, das sie Strings by the Sea getauft hatte, war ein voller Erfolg.

Wir hatten es zwar nicht geplant, aber dann festgestellt, dass auch sie gemeinsam mit ihren Eltern, die sie gerade aus den USA besuchten, nach Yala fahren wollte. Jetzt standen wir also da und redeten über alles Mögliche, auch über Vik und Malli, auf deren Treiben auf der Terrasse wir immer mal wieder ein Auge warfen. Orlantha erzählte mir gerade, wie gerne auch sie bald eine Familie gründen würde. »Was ihr hier habt, das ist einfach ein Traum«, meinte sie.

Dann sah sie die Welle.

 

»O Gott«, rief sie, »das Meer kommt rein.« Ich drehte mich um. Es gab nicht viel zu sehen, nichts Beunruhigendes oder auch nur Bemerkenswertes. Nur der Schaum einer großen Welle.

Nur konnte man von unserem Zimmer aus normalerweise keine Wellen sehen. Selbst das Meer war höchstens als ein vages blaues Funkeln über einem steil abfallenden Sandstreifen zu erkennen. Inzwischen kam das Wasser allerdings bis hoch zu den Nadelbäumen, die auf halbem Wege zwischen unserem Zimmer und dem, was normalerweise der Strand war, vereinzelt in der ansonsten hauptsächlich von Dornengestrüpp überwucherten Landschaft standen. Das hier war nicht normal.

Ich rief Steve, der immer noch im Bad war, zu: »Steve? Komm mal raus, ich muss dir was Komisches zeigen.«

Ich wollte natürlich, dass er schnell rauskam, bevor der ganze Schaum sich verflüchtigte. Aber er murrte nur »Gleich«, offenbar ohne jegliche Absicht, sich zu beeilen.

Dann kam mehr weißer Schaum. Unmengen davon und noch mehr. Vik saß bei der Terrassentür und hatte gerade angefangen, den Kleinen Hobbit zu lesen. Ich sagte ihm, dass er die Tür schließen sollte. Es war eine große Glastür mit vier Paneelen, und er schloss jedes einzelne, bevor er sich neben mich stellte. Er fragte nicht nach, sagte gar nichts.

Aus Schaum wurden Wellen, Wellen, die den Wall am Strandende übersprangen, Wellen, die nicht so waren, wie sie sein sollten, Wellen, die weder brachen noch ausliefen, Wellen, die unerbittlich auf unser Zimmer zu pflügten, brodelnd, böse, bedrohlich.

»Steve, du musst rauskommen. Jetzt, sofort!«

Steve stürzte aus dem Bad und band sich noch im Laufen seinen Sarong zu. Er sah nach draußen. Keiner sagte auch nur ein einziges Wort.

Ich griff mir Vik und Malli und wir rannten zur Tür. Ich lief vor Steve, und da ich beide Jungs an der Hand hielt, rief er mir immer wieder zu »Gib mir einen von den Jungs, gib mir einen.« Aber ich tat es nicht: Das würde uns zu viel Zeit kosten. Ich lief weiter. Wir mussten schnell sein, wir mussten hier weg. Das wusste ich. Aber ich hatte keine Ahnung, wovor wir gerade zu fliehen versuchten.

Meine Eltern waren im Zimmer neben uns untergebracht, aber ich hielt nicht an, um sie zu warnen. Ich hämmerte nicht an ihre Tür, schrie nicht mal im Vorbeirennen, rief ihnen nichts zu. Ich überlegte für den Bruchteil einer Sekunde, ob ich das tun sollte. Aber ich konnte nicht. Wir mussten da raus, es hätte uns aufgehalten. Wir mussten weiterrennen.

Ich hielt die Jungs fest an der Hand, während wir zu der Auffahrt vor dem Hotel flohen. Die Jungs rannten so schnell wie ich, ohne zu stolpern, ohne hinzufallen. Sie maulten nicht, obwohl sie barfuß waren und ich wusste, dass die Dornen und der Kies ihnen weh taten. Sie verlangsamten kein bisschen, sprachen kein Wort. Unsere Füße waren laut genug – ich konnte hören, wie sie aufschlugen.

Ein Jeep, der bis eben noch sehr schnell gefahren war, bremste abrupt vor uns. Es war ein Safarijeep, wie man sie in Yala oft sieht: das Heck und die Seiten offen, mit einem Dach aus braunem Segeltuch. Der Fahrer hatte für uns angehalten. Wir rannten hin.

Ich warf Vikram hinten rein, so grob, dass er mit dem Kopf auf den grünen Metallboden schlug, aber Steve sprang hinterher und hob ihn hoch.

Wir saßen jetzt alle im Jeep, Steve mit Vik auf dem Schoß, ich mit Malli gegenüber. Den Mann, der den Jeep fuhr, hatte ich noch nie gesehen.

Ich blickte mich um und konnte kein Wasser entdecken. Das Hotel sah aus wie immer: die Zimmerreihen mit ihren Ziegeldächern, die langen Flure mit den Terracotta-Fliesen, die staubige Auffahrt mit dem orange-braunen Kies, die wilden Kakteen, die zu beiden Seiten der Auffahrt wuchsen. Alles war so normal, dass ich dachte, die Wellen müssten zurückgegangen sein.

Orlantha war wohl mit uns gerannt, denn sie saß bei uns im Jeep. Auch Orlanthas Eltern waren aus ihrem Zimmer geeilt, als wir aus unserem flohen, und ihr Vater, Anton, hockte schon neben uns. Orlanthas Mutter Beulah zog sich gerade in den Jeep hoch, da gab der Fahrer Gas und wir machten einen Satz nach vorne. Beulah verlor den Halt, hing einen Sekundenbruchteil in der Luft und fiel dann nach hinten. Der Fahrer hatte nichts davon gesehen, ich rief ihm zu, anzuhalten, jemand sei herausgefallen, aber er fuhr weiter. Beulah lag auf dem Boden und lächelte uns verwirrt an. Anton lehnte sich noch aus dem Jeep, aber als er merkte, dass er es nicht mehr schaffen würde, sie hereinzuziehen, sprang er ab.

Sie lagen jetzt beide auf dem Schotter, aber ich versuchte trotzdem nicht, den Fahrer aufzuhalten. Er fuhr sehr schnell. Ich gab ihm insgeheim sogar recht: Wir müssen weiter, dachte ich, weg vom Hotel, so schnell wie möglich.

Als ich begriff, dass wir meine Eltern zurückgelassen hatten, wurde ich panisch. Ich hätte vor ihrer Tür rufen können, und sie wären mit uns gerannt. »Aachchi und Seeya! Wir haben sie zurückgelassen!«, jammerte ich und blickte Steve an. Vikram fing an zu weinen und Steve drückte ihn an seine Brust. »Aachchi und Seeya kommen bestimmt durch. Sie kommen später nach«, sagte er. Vik hörte langsam auf zu schluchzen und kuschelte sich an Steve.

Ich war Steve dankbar dafür, dass er mich und Vik beruhigt hatte. Er hat recht, dachte ich. Da sind keine Wellen mehr, und Ma und Pa kommen bestimmt raus, sie kommen uns einfach nach. Ich malte mir aus, wie mein Vater mit hochgekrempelten Hosen durch die Wasserlachen vor dem Zimmer staksen würde. Ich schwor mir, Ma auf dem Handy anzurufen, sobald ich an ein Telefon kam.

Währenddessen näherten wir uns dem Ende der langen Auffahrt. Wir waren kurz davor, links abzubiegen, auf den Trampelpfad zur Lagune, an der Vik so gerne saß. Steve starrte nach vorn und wippte ungeduldig mit dem Fuß, so dass seine Ferse immer und immer wieder auf den Boden des Jeeps knallte, als wolle er sagen: Mach schon, los, geht das nicht schneller?

 

Und plötzlich waren wir im Wasser. Ich hatte nicht gesehen, wie es uns einholte, das war doch nicht möglich, es musste irgendwie aus dem Boden hochgekommen sein. Was ist hier los?, fragte ich mich, während Wasser über unsere Knie schwappte.

Der Jeep kam im Wasser nur langsam voran. Ich konnte hören, wie der Motor unter der Anstrengung grollte, wie er sich verausgabte. Wir können das Wasser durchfahren, wir schaffen das, dachte ich, wünschte ich. Aber wir kippten von einer Seite zur anderen, und das Wasser stieg immer höher; so hoch, dass es begann, den Jeep ganz zu...

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