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E-Book

Seelenscherben

Wenn die Normalität zerbricht

AutorWerner Dopfer
VerlagVerlagsgruppe Droemer Knaur
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl240 Seiten
ISBN9783426426449
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,99 EUR
Ein Psychotherapeut und seine Patienten - authentische Geschichten über die Brüchigkeit des Lebens. Ein Mann verliert die Selbstkontrolle und löst eine Beziehungstragödie aus. Der Unfalltod der Zwillingsschwester führt eine Frau in den Burnout. Ein Polizist findet nach einem Flugzeugabsturz die unversehrte Leiche eines Mädchens und wird dadurch schwer traumatisiert - außergewöhnliche Fälle aus dem psychotherapeutischen Alltag. Sie machen deutlich, dass die Normalität, in der wir leben, ein schmaler Grat ist. Manche stürzen ab: Eine Bedrohung, ein Unfall oder eine Verletzung genügt oft, und die Seele zerbricht. Der Psychotherapeut Werner Dopfer berichtet von den inneren Kämpfen seiner Patienten, er steigt hinab in die Tiefen der menschlichen Psyche und beschreibt anhand berührender Fälle, wie es gelingen kann, die Scherben wieder zusammenzufügen.

Werner Dopfer, Jahrgang 1963, aufgewachsen in Südafrika und Namibia, ist Diplom-Psychologe und seit mehr als 20 Jahren als Psychotherapeut, Berater und Coach in eigener Praxis sowie als Management- und Führungskräftetrainer für renommierte Unternehmen tätig. In seinen Seminaren arbeitet er mit Frauen und Männern aller Hierarchieebenen, von Teamleitern über Geschäftsführer bis hin zu Vorständen international agierender Großunternehmen. Von ihm sind bislang erschienen: 'Mut, Moral, Menschlichkeit. Führung ohne Selbstbetrug' und 'Seelenscherben. Wenn die Normalität zerbricht' (2014, Droemer Taschenbuch). Werner Dopfer lebt mit seiner Familie in München.

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Leseprobe

Der Engel vom Bodensee


Gib nicht auf. Gemeinhin öffnet erst der letzte Schlüssel im Schlüsselbund die Tür.

Paulo Coelho, brasilianischer Schriftsteller (geb. 1947), aus: Die Schriften von Accra

Alle nannten ihn Joe. Er selbst konnte sich nicht daran erinnern, jemals anders angesprochen worden zu sein. Nur tief verborgen schlummerten in seinem Gedächtnis noch die frühen, zärtlich liebkosenden Worte seiner Mutter Amely, die es genoss, ihn Johnny-Baby zu nennen. Dabei zog sie – ganz Texanerin – die Endungen von Johnny und Baby nahezu endlos in die Länge, so dass es meist wie ein fröhlich klingendes Jiiiipiiii klang.

Eigentlich hieß er Johann und war das einzige Kind eines ehemaligen GSG-9-Kämpfers und einer Amerikanerin. Amely war Ende der 1960er mit ihren Eltern nach Deutschland gekommen, weil ihr Vater, Offizier bei den Marines, versetzt worden war.

Joes Vater Harald lernte sie im Konstanzer Surfclub kennen. Harald imponierte ihr, weil er das Surfen – eine damals in Europa noch wenig bekannte Sportart – nahezu perfekt beherrschte. Er trug sein Haar beruflich bedingt sehr kurz, was zu jener Zeit weder zur Surfergarde noch zur aufkeimenden Hippiemode passte. Der Kontrast faszinierte sie.

Als er sie auf der Uferpromenade zum Eisessen einlud, legte er den Grundstein für eine harmonische Beziehung, die erst sieben Jahre nach Joes Geburt eine tragische Wendung nehmen sollte.

 

Johann wurde Joe genannt, weil er sich schon im Kindergarten kaum beeindrucken ließ. Er war wortkarg. Seinen Kameraden schien der Name Johann daher zu lang, zu unpassend. In ihrer kindlich treffsicheren Art nannten sie ihn einfach Joe. Außerdem war allen bekannt, dass seine Mutter Amerikanerin und sein Opa Soldat war. Anfänglich wurde er behutsam »Joe, der Ami«, später dann »Joe, der Harte« gerufen. Ihn selbst störte es in keiner Weise. Eher das Gegenteil war der Fall: Er war stolz darauf.

Klettergerüste konnten für ihn nicht hoch genug sein. Immer wenn es darum ging, sich einer besonderen Anforderung zu stellen, war er der Erste, der sich dazu bereit erklärte. Er suchte das Risiko, das Austesten, die Grenzerfahrungen und war, ohne Diskussion und viele Worte, stets zur Stelle, wenn sich kein anderer traute.

Verstärkt und angefeuert wurde er vom Marine-Opa Jack und seinem GSG-9-Vater, die sich nicht scheuten, jegliche körperliche und psychische Herausforderung mit ihm zu teilen und auszuprobieren. Sie gingen klettern, sie surften und spielten Eishockey. Im Alter von knapp fünf Jahren wurde er für zwei Monate allein in die USA geschickt, um an einem Trainingslager für American Football teilzunehmen. Des Öfteren zwangen Opa und Vater ihn auch, Kriegsfilme anzuschauen. Um ihn abzuhärten, wie sie meinten.

Seine Mutter Amely konnte sich gegen den Einfluss der beiden Männer nicht ausreichend zur Wehr setzen. Sie pendelte zwischen übermäßiger Bewunderung für ihren Sohn und der großen Sorge, ob das alles der emotionalen Entwicklung von Joe zuträglich war.

 

Zum Zeitpunkt seines Schuleintritts hatte sich in seinem Umfeld bereits ein ihm vorauseilender Ruf gebildet: Joe haut nichts um, der ist gnadenlos trainiert. Insbesondere unter den Schulkameraden genoss er Respekt und Hochachtung. Den Mädchen war er nicht ganz geheuer, was sich auch später nie ganz ändern sollte.

Zu diesem frühen und noch gänzlich unreflektierten Zeitpunkt in seiner Lebensgeschichte war er beseelt davon, hart sein zu können und hart sein zu müssen. So hatte er es gelernt. So wurde er erzogen. Deshalb wurde er so.

Das Weiche, Verletzliche hatte er bei seinen wichtigsten männlichen Vorbildern nie erlebt. Bis zu seinem 32. Lebensjahr sollte nie eine Träne seine Wangen benetzen.

*

Als er vor mir saß, war trotz seines markanten äußeren Erscheinungsbildes nichts mehr von seiner Härte zu spüren. Joe machte den Anschein eines gebrochenen Menschen, in sich gekehrt, erstarrt. Sein Blick öffnete sich nicht für die Welt, sondern wirkte nach innen gerichtet. Daran konnten auch sein muskulöser Körperbau, die Tätowierung auf dem Unterarm und sein kräftiges, langes, zu einem Zopf geflochtenes Haar nichts ändern. Das Tattoo stellte einen Footballspieler dar, der sich aus der Umklammerung einer überdimensionalen Schlange befreien will. Der Mund des Spielers war weit aufgerissen, und es schien, als würde die Schlange den Kampf gewinnen.

Als ich ihn auf das Motiv der Tätowierung ansprach, antwortete er mit teilnahmsloser Stimme: »Das Tattoo habe ich mir vor zwei Jahren stechen lassen, als ich die Hoffnung verlor, diesen Kampf gewinnen zu können. So wie der Spieler fühle ich mich. Die Schlange wird gewinnen. Sie wird ihn, sie wird mich zerdrücken.«

Dann begann er, seine Geschichte zu erzählen.

Er brauchte dazu genau fünf Stunden. Diese Zeit benötigte genau genommen nicht er, sondern im Wesentlichen ich. Die Geschehnisse seiner Geschichte waren so unfassbar tragisch, so ergreifend und niederschmetternd, dass es mir immer wieder Tränen in die Augen trieb. Mehrfach musste ich Luft holen, weil mir der Druck zu viel wurde. Damit verzögerte ich eher unbewusst den Erzählprozess, um überhaupt auch nur einen Bruchteil des Gehörten verdauen zu können. Eine Anhäufung von Traumata erzählt zu bekommen ist auch für den routiniertesten Therapeuten eine Belastungsprobe.

Joe jedoch vergoss während der fünf Stunden keine einzige Träne.

*

Kurz nach seiner Einschulung wurde Joe Kapitän der Eishockeymannschaft. Das Training fand dreimal pro Woche statt. Vater Harald und sein Opa Jack standen an der Bande, wenn sie nicht gerade beruflich im Einsatz waren.

Die GSG-9 war 1977, nach der erfolgreichen Geiselbefreiung von Mogadischu, zur international bekannten Eliteeinheit aufgestiegen, was seinen Vater Harald nicht entspannter, sondern eher noch distanzierter werden ließ. Seine Ambition, dem bisherigen Kommandoführer irgendwann nachzufolgen, stachelte ihn zu einem verbissenen Ehrgeiz an.

Die Amerikaner befanden sich im Wettrüstungsstreit mit der damaligen Großmacht Sowjetunion, und Opa Jack entwickelte zunehmend paranoide Feindbilder. All ihre Ängste und Sorgen versteckten die beiden Männer hinter einer Fassade der Coolness.

 

Als Joe zum absoluten Goalgetter in seiner Eishockeymannschaft avancierte, bekam seine Mutter den ersten epileptischen Anfall. Sie war 28, und es war ein Grandmal-Anfall. Sein Vater war es nicht gewohnt, mit Krankheit oder gar Schwäche umzugehen, und meldete sich freiwillig zu den riskantesten Einsätzen und Manövern.

Die Anfälle der Mutter häuften sich. Keiner konnte sich die Ursache erklären. Opa Jack wurde zunehmend aggressiv. Er konnte es nicht akzeptieren, dass seine Tochter – in dieser so gesunden Familie – eine Krankheit bekam, die auch noch stark genetisch bedingt sein sollte. Das war für ihn ein Makel.

Er schickte Amely zu den besten Neurologen, mobilisierte alle seine militärischen Kontakte und legte eine immense Aktivität an den Tag, nur um seinen Schmerz nicht sichtbar werden zu lassen. Mit seinen kurzgeschorenen Haaren und seiner Uniform erinnerte er den Enkel Joe in dieser Phase an einen Kriegsherrn, der in der Lage ist, die eigentlich unrettbare Situation doch noch in einen Sieg zu verwandeln. Joe hoffte, dass alles gutgehen würde, zeigte jedoch keine Emotion. Er wollte nicht vor Opa und Vater als Weichling dastehen und biss die Zähne zusammen.

Amely konnte ihren Beruf als Zahnarzthelferin nicht mehr ausüben. Die Anfälle blieben. Die zu dieser Zeit verfügbaren Medikamente brachten keine Besserung, außer dass sie Amely stark sedierten. Des Öfteren erlebte Joe seine Mutter als kaum ansprechbar. Mittlerweile trug sie zu ihrem eigenen Schutz eine Art Helm aus Plastik und Gummi. Dieser sollte Verletzungen verhindern, die aus einem möglichen Sturz infolge eines Anfalls resultieren konnten.

*

Im Alter von siebeneinhalb Jahren fand Joe seine Mutter neben dem Wohnzimmertisch liegend, als er von der Schule nach Hause kam. Sie lag zusammengekrümmt auf der Seite, den Kopfschutz hatte sie nicht mehr auf. Eine schaumige Flüssigkeit klebte an Mund und Wangen, Blut am Kopf.

Seinen Impuls, laut zu schreien, unterdrückte er mit aller Kraft. Er hatte schon öfter Verletzungen gesehen, aber intuitiv spürte er, dass das hier etwas anderes war. Seine Mutter lag so sonderbar verrenkt da und rührte sich auch nicht, als er sie zu schütteln begann. Sie reagierte nicht. Ihr blondes Haar war voller Blut. Sie war tot.

Joe konnte es nicht fassen. Sie musste unglücklich gestürzt sein. Diese Erkenntnis nahm Besitz von ihm, dennoch blickte er wie gelähmt auf seine Mutter.

Das Bild der leblosen Mutter, deren starre offene Augen auf ihn gerichtet waren, prägte sich ihm ein; dabei konnte er nicht ahnen, dass noch unzählige Tote folgen sollten.

Nach dem Schock fingen seine Gedanken an zu rasen. Auch jetzt schrie er nicht, sondern griff zitternd zum Telefon und wählte die Notrufnummer. Er hatte sich im Griff, wie es richtig war, wie es ihm Opa und Vater immer vermittelt hatten. Trotz des überwältigenden Schmerzes fühlte er sich stark.

*

Auch in der Nacht vor der Beerdigung – er spielte das Bestattungsszenario gedanklich immer wieder durch – gelang es ihm, die aufkommenden Tränen am Fließen zu hindern, auch wenn seine Augen schon feucht waren.

 

Zur Beerdigung kamen mehr als 250 Menschen, auch viele Amerikaner. Voller Patriotismus bestand sein Opa Jack darauf, dass Joe eine kleine amerikanische Flagge, zusammengebunden mit einer Rose, in das Grab von Amely werfen...

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