Einführung: Der Stoff, aus dem Gedanken sind
Tief im Inneren der Höhle von Lascaux, hinter der weltberühmten Halle der Stiere, wo Künstler des Paläolithikums eine bunte Menagerie von Pferden, Rotwild und Stieren gemalt haben, beginnt ein weniger bekannter Korridor, der als Apsis bezeichnet wird. Dort, am Ende einer Höhle von etwa fünf Metern, findet sich neben schönen Zeichnungen eines verwundeten Bisons und eines Nashorns eine der in der prähistorischen Kunst seltenen Abbildungen eines Menschen (Abb. 1). Der Mann liegt mit ausgebreiteten Armen und nach oben gewendeten Handflächen auf dem Rücken. Neben ihm sitzt ein Vogel auf einem Stab. In seiner Nähe liegt ein zerbrochener Speer, der wahrscheinlich dazu verwendet worden ist, den Bison aufzuschlitzen, dessen Eingeweide heraushängen.
Es handelt sich eindeutig um einen Mann, denn sein Penis ist erigiert. Und das, meint der Schlafforscher Michel Jouvet, erhelle die Bedeutung des Bildes: Es zeige einen Träumenden und seinen Traum.[1] Wie Jouvet und sein Team herausgefunden haben, treten Träume vor allem während einer speziellen Schlafphase auf, die sie als »paradox« bezeichnen, weil sie anders aussieht als der normale Schlaf: Während dieser Periode ist das Gehirn fast genauso aktiv wie im Wachzustand, und die Augen bewegen sich unablässig in alle möglichen Richtungen. Bei Männern ist diese Phase ausnahmslos mit einer starken Erektion verbunden (auch wenn der Traum keine sexuellen Aspekte enthält). Obwohl die Wissenschaft diese merkwürdige physiologische Tatsache erst im 20. Jahrhundert zur Kenntnis genommen hat, dürften unsere Vorfahren sie, wie Jouvet scherzhaft anmerkt, problemlos bemerkt haben. Und der Vogel erscheint als die selbstverständlichste Metapher für die Seele des Träumenden – im Traum fliegt der Geist, frei wie ein Vogel, zu fernen Orten und in vergangene Zeiten.
Gäbe es in der Kunst und in der Symbolik aller möglichen Kulturen nicht bemerkenswert häufig Darstellungen von Schlaf, Vögeln, Seelen und Erektionen, könnte man diese Vorstellung für weit hergeholt halten. Im Alten Ägypten symbolisierte ein oft mit einem erigierten Phallus abgebildeter Vogel mit menschlichem Kopf den Ba, die immaterielle Seele. In jedem Menschen, so hieß es, hause ein unsterblicher Ba, der nach dem Tod des Menschen ausfliege, um das Jenseits zu suchen. Eine herkömmliche Darstellung des großen Gottes Osiris, die der Malerei in der Apsis von Lascaux auf unheimliche Weise ähnelt, zeigt ihn auf dem Rücken liegend, mit erigiertem Penis, während die Eule Isis über seinem Körper schwebt und sein Sperma aufnimmt, um Horus zu zeugen. Ähnlich wird die Seele in den Upanishaden, den heiligen Texten der Hindus, als Taube dargestellt, die beim Tod davonfliegt und als Geist zurückkehren kann. Jahrhunderte später hat man Tauben und andere Vögel mit weißen Schwingen als Symbol für die christliche Seele, den Heiligen Geist und die auf die Erde kommenden Engel gewählt. Vom ägyptischen Phönix, dem Symbol der Auferstehung, bis hin zum finnischen Sielulintu, dem Seelenvogel, der den Neugeborenen eine Seele bringt und sie den Sterbenden nimmt, treten fliegende Geister als universelle Metapher für den autonomen Geist auf.
Abb. 1. Der Geist kann fliegen, während der Körper reglos ist. In dieser vor etwa 18 000 Jahren entstandenen prähistorischen Zeichnung liegt ein Mann auf dem Rücken. Wahrscheinlich schläft er und träumt, worauf seine ausgeprägte Erektion hinweist, die charakteristisch ist für den REM-Schlaf, in dem besonders lebhafte Träume auftreten. Neben ihn hat der Künstler einen ausgeweideten Bison und einen Vogel gemalt. Der Schlafforscher Michel Jouvet meint, dies könne eine der ersten Darstellungen eines Träumenden und seines Traumes sein. In vielen Kulturen symbolisiert der Vogel die Fähigkeit des Menschen, in seinen Träumen zu fliegen – eine Vorahnung des Dualismus, der irrigen Anschauung, dass Gedanken einem anderen Reich als dem des Körpers angehören.
Hinter der Allegorie des Vogels steht eine Anschauung: Der Stoff, aus dem unsere Gedanken sind, unterscheidet sich grundsätzlich von der niederen Materie, die unseren Körper bildet. Im Traum, wenn der Körper regungslos daliegt, wandern die Gedanken in die fernen Reiche der Fantasie und der Erinnerung. Könnte es einen besseren Beweis dafür geben, dass mentale Aktivität nicht auf die materielle Welt zu reduzieren ist? Dass der Geist aus einem eigenen Stoff besteht? Wie könnte der frei fliegende Geist je aus einem erdgebundenen Gehirn hervorgegangen sein?
Descartes’ Herausforderung
Die Vorstellung, der Geist gehöre einem separaten Reich an, wurde in wichtigen philosophischen Texten schon früh theoretisch abgehandelt, etwa in Platons Timaios (4. Jahrhundert v. Chr.) und in Thomas von Aquins Summa Theologica (1265 – 1274), einem für das christliche Verständnis der Seele grundlegenden Text. Doch es war der französische Philosoph René Descartes (1596 – 1650), der explizit festhielt, was heute als Dualismus bekannt ist: die These, wonach der bewusste Geist aus einer immateriellen Substanz besteht, die sich den normalen Gesetzen der Physik entzieht.
In den Neurowissenschaften ist es zur Mode geworden, sich über Descartes lustig zu machen. Nach Antonio Damasios Bestseller Descartes’ Irrtum aus dem Jahr 1994[2] haben viele zeitgenössische Lehrbücher damit angefangen, auf Descartes einzuprügeln, weil er die Forschung der Neurowissenschaften angeblich um Jahre zurückgeworfen habe. In Wahrheit war Descartes jedoch ein bahnbrechender Wissenschaftler und letztlich ein Reduktionist, dessen mechanistische Analyse des menschlichen Geistes, ihrer Zeit weit voraus, die erste Übung in synthetischer Biologie und theoretischer Modellbildung darstellte. Descartes’ Dualismus war keine Laune des Augenblicks – sie beruhte auf einem logischen Argument, das behauptete, eine Maschine könne niemals imstande sein, die Freiheit des bewussten Geistes nachzuahmen.
Der Begründer der modernen Psychologie, William James, erkennt an, was wir ihm verdanken: »Descartes kommt das Verdienst zu, als Erster kühn genug gewesen zu sein, sich einen vollkommen selbstgenügsamen Nervenmechanismus vorzustellen, der in der Lage sein sollte, komplizierte und erkennbar intelligente Handlungen zu vollziehen.«[3] Tatsächlich hat Descartes in visionären Abhandlungen mit den Titeln Description du corps humain, Die Leidenschaften der Seele und Abhandlung über den Menschen eine entschieden mechanistische Sicht auf die inneren Vorgänge des Körpers vorgestellt. Wir seien ausgeklügelte Automaten, schrieb dieser kühne Philosoph. Unser Körper und unser Gehirn verhalten sich demnach wie eine Anordnung von »Organen«: wie Musikinstrumente, ähnlich denen, die in den Kirchen seiner Zeit zu finden waren; mit großen Blasebälgen, die eine besondere Flüssigkeit, die »Lebensgeister«, zunächst in Vorratsbehälter zwingen und dann den unterschiedlichsten Pfeifen zuführen, deren Kombinationen all die Rhythmen und Melodien unserer Handlungen erzeugen.
»Ich wünsche, dass man schließlich aufmerksam beachte, dass alle Funktionen, die ich dieser Maschine zugeschrieben habe, z. B. die Verdauung der Nahrung, das Schlagen des Herzens und der Arterien, die Ernährung und das Wachstum der Glieder, die Atmung, das Wachen, Schlafen, die Aufnahme des Lichtes, der Töne, der Gerüche, des Geschmacks, der Wärme und anderer solcher Qualitäten über die äußeren Sinnesorgane, den Eindruck ihrer Wahrnehmungen auf das Organ des Sensus communis und der Einbildungskraft, die Zurückhaltung oder Verankerung dieser Ideen im Gedächtnis, die inneren Bewegungen des Appetits und der Gemütsbewegungen und schließlich die äußeren Bewegungen aller Glieder, die sowohl den Bewegungen der Objekte, die sich den Sinnen darbieten, in passender Weise so folgen … man bedenke, dass die Funktionen in dieser Maschine alle von Natur aus allein aus der Disposition ihrer Organe hervorgehen, nicht mehr und nicht weniger, als die Bewegungen einer Uhr oder eines anderen Automaten von der Anordnung ihrer Gewichte und ihrer Räder abhängen.«[4]
Descartes’...