„Die Stadt gehört uns“ – Zur Aneignung von Freiräumen in der Stadt
Irmtraud Voglmayr
Die jüngere Geschichte der kollektiven Auseinandersetzungen um Raum hat in Wien ihren Ausgangspunkt in den 1970er Jahren. Widerständische bzw. gegenkulturelle Bewegungen, allen voran die Neue Frauenbewegung der 1970er Jahre, haben durch ihren Versuch, sich von geschlechtlich codierten Zuschreibungen und sozialen Einschränkungen bzw. Ausgrenzungen zu befreien, neue spezifische Lebensmodelle entwickelt, die sich in den städtischen Raum eingeschrieben haben (Voglmayr 2012a: 242). Aus dieser Bewegung entstanden „autonome Frauenräume“ wie Frauenzentren, -buchhandlungen und -cafés. Selbstverwaltete Kulturzentren und Freiräume wie ARENA, WUK, Amerlinghaus, Ernst Kirchweger Haus (EKH), Rosa Lila Villa und Pankahyttn sind Produkte erfolgreicher Raumbesetzungen, die sich als Lernorte kollektiven (politischen) Handelns verstehen. Trotz jahrzehntelangen Bestehens befinden sich diese Kulturzentren aber von Anbeginn in einem permanenten Konflikt zwischen Subventionsforderung und Autonomieanspruch (Nußbaumer/Schwarz 2012). Der Erhalt dieser Freiräume muss immer wieder aufs Neue mit Stadtpolitik und Rathausverwaltung ausverhandelt und erkämpft werden. Die Androhungen von Subventionskürzungen gehören fast schon zum Alltag dieser alternativen Einrichtungen.
Soziale Bewegungen sind zumeist wegweisend für den Kampf um Freiräume. „Soziale Bewegung“ und „Raum“ sind vielfach aufeinander bezogen, denn Bewegung impliziert einen Raum, in dem sie sich ereignen, realisieren kann. Susanne Maurer zeigt die grundsätzliche politische Bedeutung der Raum-Metapher in sozialen/oppositionellen Bewegungen auf, die sich in Besetzungen aller Art, von Sit-ins über „Besetzt“ bis hin zu „Reclaim the streets“ (Maurer 2005: 631-632) manifestiert. Zur Chronologie der Raumbesetzungen gehören auch die starken Studentlnnenproteste, die sich in der Besetzung des Audimax verräumlicht haben, sowie die großen Platzbesetzungen in Kairo, Madrid und New York. Die globalen Occupy-Bewegungen, die Aufstand und Empörung gegen die neoliberale Gesellschaftsordnung repräsentieren, haben uns gezeigt, wie Praktiken der Solidarität und basisdemokratische Prinzipien an öffentlich genutzten Orten und Plätzen im städtischen Raum gelebt werden können (Voglmayr 2012a). Das Besondere an diesen Bewegungen ist, dass sie alternative Lebensformen nicht länger nur im selbstverwalteten Kulturzentrum, sondern im öffentlichen Raum praktizieren und somit für uns alle sichtbar machen.
Die neoliberale Stadt als umkämpfter Ort
Herrschende soziale Ungleichheitsverhältnisse bestimmen den ungleichen Zugang zur Stadtgesellschaft und ihren Ressourcen; damit sind leistbarer Wohnraum, Räume jenseits des Konsumzwangs, Arbeit, von der man leben kann, sowie Partizipationsmöglichkeiten gemeint. Dieses Grundproblem macht die Stadt zu einem umkämpften Ort, der sich im Kampf um Raum ausdrückt. Während die neuen internationalen Wirtschaftseliten ihre Vorstellungen von Stadt nachhaltig umsetzen und diese prägen, müssen sozial Prekäre oftmals politisch motivierte Gewalt einsetzen, um ihre Ansprüche an die Stadt geltend zu machen (Sassen 2010: 491). Städtische Entwicklungen am Beispiel Wien zeigen zwar, dass für die (jüngeren, männlichen) BewohnerInnen, oftmals migrantischer Herkunft, in sozial benachteiligten Gebieten (Bsp. Volkertmarkt/Mexikoplatz) ein relativ großzügiges Angebot sozialer Einrichtungen wie Jugendzentren, Jugendcafés, Ballspielkäfige, Gebietsbetreuung etc. bereit gestellt wird. Gleichzeitig werden aber Forderungen nach selbstbestimmten Freiräumen ohne Einmischung von „oben“ nicht nur nicht gehört und gebilligt, sondern mit einem unverhältnismäßigen Polizeiaufgebot staatlich-repressiv gelöst, wie die Beispiele „Wagenplätze“ und das besetzte „Epizentrum“ im 7. Wiener Gemeindebezirk gezeigt haben (Voglmayr 2012b: 58).
Freiräume und Selbstorganisierung müssen jedoch zusammen gedacht werden, bedeutet doch der Begriff Selbstorganisierung kollektives Handeln außerhalb von bestehenden Institutionen und politischen Strukturen. Jenseits von traditionellen Formen der (stadt-) politischen Repräsentationen der Jugendlichen, sind es die Jugendlichen selbst, die ihre Stimme erheben und Stadtvätern und StadtverwalterInnen nicht länger das Sprechen über sie und die Verfügung über ihre Lebensbedingungen überlassen wollen (Nowak 2009: 345). Damit gewinnt der Begriff der Raumaneignung an enormer Bedeutung. Unter dem Aneignungsbegriff meint man sehr allgemein, „das Erschließen, ‚Begreifen‘, Verändern, Umfunktionieren und Umwandeln der räumlichen und sozialen Umwelt“ (Deinet/Reutlinger 2005: 295). Aneignung impliziert immer aktives Handeln, die aktive Auseinandersetzung des Subjekts mit der räumlichen und sozialen Umwelt. Somit bedeutet Raumaneignung, vorgegebene Situationen und Arrangements zu verändern, neue Fähigkeiten in neuen Situationen und erweiterte Verhaltensrepertoires zu erproben sowie eine kreative Gestaltung von Räumen durch bestimmte Symbole und Zeichen vorzunehmen (ebd.: 302). Gegenkulturelle Räume werden durch Symbole als solche markiert, wahrgenommen und verändern somit auch das Gesicht einer Stadt.
Der Aneignungsbegriff muss aber auch unter dem Genderaspekt in den Blick genommen werden. Dem Ansatz, dass Burschen raumkompetenter sind, weil sie einen größeren Aktionsradius aufweisen, wird entgegengesetzt, dass Mädchen zwar weniger raumgreifend sind, dafür aber Menschen bzw. Kommunikation und Interaktionen viel stärker in ihre Raumkonstitution einbeziehen. Somit handelt es sich lediglich um verschiedene Formen der Aneignung. „Die Mädchen werden Fachfrauen für die Einbeziehung von Menschen in die Raumkonstruktion, die Jungen Fachmännerfür an sozialen Gütern orientierte Räume“ (Löw 2001: 253).
Hans Ringhofer ©
„NEBEN EINER QUALIFIZIERTEN AUSBILDUNG BRAUCHEN GERADE JUNGE MENSCHEN FREIRÄUME FÜR IHRE PERSÖNLICHE WEITERENTWICKLUNG. UMSO WICHTIGER IST EINE AKTIVE JUGENDPOLITIK, DIE NEUE GESELLSCHAFTLICHE TRENDS UND DIE DARAUS ENTSTEHENDEN HERAUSFORDERUNGEN FÜR JUGENDLICHE STETS IM AUGE BEHÄLT. WICHTIG DAFÜR IST AUCH EINE ENGE VERNETZUNG MIT DER VOM BUNDESMINISTERIUM FÜR WIRTSCHAFT, FAMILIE UND JUGEND UNTERSTÜTZTEN OFFENEN JUGENDARBEIT. SIE IST EIN GUTER SEISMOGRAF FÜR WICHTIGE BEDÜRFNISSE, ANLIEGEN UND WÜNSCHE DER JUNGEN MENSCHEN.“
DR. REINHOLD MITTERLEHNER
BUNDESMINISTER FÜR WIRTSCHAFT, FAMILIE UND JUGEND
Gemeinschaftsgärten als kollektive Räume
Ein neu belebtes Phänomen kollektiver Raumaneignung stellen die städtischen Gemeinschaftsgärten dar. Das Charakteristikum der städtischen Gemeinschaftsgärten ist, so Karin Werner (2011: 62), dass auch sie dem methodischen Individualismus der neoliberalen Ordnung mit den Logiken und Kräften des Kollektiven begegnen, ihn zwar nicht gänzlich außer Kraft setzen, aber den involvierten Subjekten den Zugang zu gemeinschaftlichen sozialen Praxen verschaffen. Urbane Gärten werden in der Regel gemeinsam aufgebaut, bearbeitet und verwaltet. Im Idealfall wird gemeinsam gesät, geerntet, gegessen, Wissen über Nahrungsmittelproduktion und Nachhaltigkeit ausgetauscht und damit auch ein Zeichen gegen Individualisierung und Konsumpolitik gesetzt. Wie in allen selbstverwalteten Projekten nimmt auch hier das Verhandeln von Differenzen innerhalb der Gruppe der GärtnerInnen als auch im Umgang mit Bezirks- und MagistratsvertreterInnen mehr oder minder breiten Raum. In Wien finden wir mittlerweile eine beachtliche Anzahl von urbanen Gärten, die sich in verschiedenen Bezirken und in unterschiedlichen Modellen (interkulturelle Gärten, Nachbarschaftsgärten etc.) konstituieren und entweder auf Eigen- oder Bezirksinitiative zurückzuführen sind. Vor allem in der wenig kontrollierbaren Form des Guerilla Gardening entdecken junge Menschen neue Freiräume, die es ihnen ermöglichen, ein Stück Land anzueignen und gemeinschaftliches Gärtnern auszuprobieren. Gleichzeitig können diese Praxen als politisches Statement gegen die bestehenden Planungs- und Eigentumsverhältnisse der neoliberalen Stadt verstanden werden.
bOJA ©
bOJA-Wanderausstellung
Ausblick
Mit der Forderung nach Freiräumen verbinden sich keineswegs nur sinnvolle Topdown-Freizeiteinrichtungen, sondern es geht um Gegenmodelle zur dominanten Lebenskultur, die gelebt und verräumlicht werden wollen. „Stadt selber machen“ lautet eine gängige Parole, die als Aneignung von Räumen, in denen sich andere mögliche Formen alternativen Lebens und Wirtschaftens materialisieren lassen, übersetzt werden kann. Der Kampf um (Frei)Räume bezieht sich daher nicht länger nur auf selbstverwaltete...