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E-Book

Winston Churchill

AutorSebastian Haffner
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl160 Seiten
ISBN9783644517219
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Rowohlt E-Book Monographie Sir Winston Churchill (1874-1965), Sohn einer alten englischen Adelsfamilie, britischer Premier und Nobelpreisträger für Literatur, hat schon viele Historiker beschäftigt. Und kein anderer war wohl so prädestiniert, sich mit Churchills Leben zu befassen, wie der deutsche Schriftsteller Sebastian Haffner, der von 1938 bis 1954 im politischen Exil in London lebte. Churchill, der sich bereits in den dreißiger Jahren zur stärksten politischen Persönlichkeit Englands entwickelte, wurde im Zweiten Weltkrieg eine Art lebendiges Symbol des nationalen Widerstands und einer der großen Heroen der Anti-Hitler-Koalition. Als der Krieg zu Ende war, konnte er sich innerhalb der Alliierten angesichts der Verständigung zwischen Stalin und Roosevelt gleichwohl nur in wenigen Punkten durchsetzen und trat nach der Wahlniederlage der Konservativen in England noch während der Potsdamer Konferenz im Juli 1945 zurück. Seit 1946 gab er dank seines internationalen Ansehens wichtige Impulse zur Schaffung des Nordatlantik-Paktes und zur wirtschaftlichen und politischen Einigung Europas. Doch Haffner porträtiert nicht nur den Staatsmann Churchill, sondern auch den Krieger, Poeten und Abenteurer. Wir sehen einen Menschen in all seinen Facetten und einen Politiker, der zu den prägenden Gestalten des zwanzigsten Jahrhunderts zählt. In dieser kurzen Biographie erfährt der Leser alles Wichtige über Leben und Werk des großen Staatsmanns. Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem E-Book nicht enthalten.

Sebastian Haffner, geboren 1907 in Berlin, war promovierter Jurist. Er emigrierte 1938 nach England und arbeitete als freier Journalist für den «Observer». 1954 kehrte er nach Deutschland zurück, schrieb zunächst für die «Welt», später für den «Stern». Sebastian Haffner starb 1999.

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Leseprobe

Vater und Sohn


Church ist Kirche, und Hill ist Hügel. Der Name Churchill klingt im Englischen etwa so, wie im Deutschen der Name Kirchberg klingt: nach Landadel. Und Landadel, aus dem englischen Südwesten, waren die Churchills, bis zur Wende des 17. zum 18. Jahrhundert, als die Familie, oder doch ein Zweig von ihr, in den Hochadel aufstieg. Dies geschah durch einen außerordentlichen Spross des Geschlechts, der 1650 als John Churchill geboren wurde und 1722 als Herzog von Marlborough, erster seines Namens, starb: ein Charakter wie aus einem Shakespeare’schen Königsdrama, Höfling und Genie, Diplomat und Hochverräter, Feldherr und Staatsmann.

Marlborough war auf dem Höhepunkt seines Lebens Herz und Seele des gewaltigen europäischen Koalitionskrieges, der die Vorherrschaft Ludwigs XIV. brach und den die Geschichtsbücher, trocken und ein wenig abwertend, als Spanischen Erbfolgekrieg bezeichnen. Dieser Krieg war fast eine Churchill’sche Familienaffäre zu nennen. John Churchill, der Herzog von Marlborough, schmiedete die Koalition und hielt sie zusammen, er führte den Krieg politisch und – an der Seite des Prinzen Eugen – militärisch; sein Bruder George Churchill kommandierte die englische Flotte, sein Bruder Charles Churchill war sein bester militärischer Unterführer; und der glänzendste General auf der andern Seite, James Fitzjames, Herzog von Berwick und Marschall von Frankreich, war ebenfalls ein Churchill: der natürliche Sohn Arabella Churchills, der Schwester des großen Marlborough, und des letzten Stuartkönigs, Jakobs II.

Aber mit dieser Explosion militärischen Talents schien die Lebenskraft des Geschlechts für lange Zeit erschöpft. Die Churchills waren nun Hochadel, eine der paar hundert Familien, die England besaßen und regierten. Aber die englische Geschichte der nächsten anderthalb Jahrhunderte erwähnt keinen von ihnen. Erst in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts brach ein Churchill wieder in diese Geschichte ein, und zwar, wie seine Zeitgenossen nicht müde wurden zu bemerken, «wie ein Meteor». Das war Lord Randolph Churchill, dritter Sohn des Siebenten Herzogs von Marlborough und Vater Winston Churchills.

Um Verwirrung zu vermeiden: Die englische Adelsverfassung ist anders als die kontinentaleuropäische. Nur der älteste Sohn eines Herzogs (oder Fürsten oder Grafen) erbt den «Titel». Die jüngeren Söhne sind noch Titularlords, aber führen bereits wieder den Familiennamen und sitzen im Unterhaus, nicht im Oberhaus, gelten also rechtlich bereits als bürgerlich, wenn sie auch gesellschaftlich, für die Eingeweihten, durchaus zum Hochadel zählen – ebenso wie ihre Söhne, die überhaupt keinen Titel mehr haben. So erklärt es sich, dass ein Sohn des Herzogs von Marlborough Lord Randolph Churchill hieß, und dessen Sohn einfach Mr. Winston Churchill – bis er im hohen Alter mit dem Hosenbandorden wieder den persönlichen Adel erwarb und «Sir Winston Churchill» genannt wurde.

Zurück zu Lord Randolph. Seine kurze, glänzende und grotesk-tragische Geschichte überschattet das Leben seines Sohnes in mehr als einem Sinn, und mit ihr muss jede Biographie Winston Churchills beginnen.

Lord Randolph hatte mit seinem großen Vorfahren Marlborough einen Zug gemein: jäh zupackende, geniale Intuition. Als erster Churchill seit dem großen John hatte er wieder Genie – aber freilich die Art von Genie, die in vielen überzüchteten Familien erst wieder zugleich mit Dekadenz auftaucht. Marlborough war, bei tiefer, verdeckter Leidenschaftlichkeit, ein äußerst selbstbeherrschter Mann gewesen, bestrickend höflich, von kühlem Charme, geduldig, berechnend und fast übermenschlich ausdauernd. Sein Nachfahr war von dem allen das Gegenteil: maßlos, hochfahrend und wegwerfend, verletzend bis zur Grobheit, dabei selbst höchst verletzlich, warmherzig, ritterlich bis zur Don Quichotterie, tollkühn, ja toll – ein «toller Kerl», wie man wohl bewundernd sagt; aber viele sprachen auch von seiner «Tollheit» in einem wörtlicheren, Ernst absprechenden Sinn: Die alte Königin Victoria zum Beispiel nannte ihn auf dem Höhepunkt seines kurzen Ruhms ganz ernsthaft und böse einen «Geisteskranken». Tatsächlich starb er schließlich in geistiger Umnachtung. Er wurde nur 45 Jahre alt.

Ein «toller Kerl». Mit 24 Jahren trieb er sich, nach einem glänzend bestandenen Oxford-Examen, in Frankreich herum, nichtstuend und auf die Auflösung des Unterhauses wartend, für das er kandidieren sollte. Dort begegnete er eines Tages einer der großen Schönheiten des Jahrhunderts, einer Amerikanerin französisch-schottischer Abstammung mit einem Schuss Indianerblut, Jennie Jerome. Binnen 48 Stunden war er mit ihr verlobt. Ihr Vater war ein scharfer New Yorker Geschäftsmann, Millionär, aber auch Parvenü und Exzentriker. Die Familie Churchill war entsetzt über die beabsichtigte Verbindung; daher war es dann auch der Vater Jerome («diese Amerikaner sind stolz wie der Satan»). Ein halbes Jahr später waren die beiden jungen Leute dann doch verheiratet – vor dem Standesamt der Britischen Botschaft in Paris. Weitere sieben Monate später kam ihr erster Sohn zur Welt, in der Damengarderobe von Schloss Blenheim, der mehr als königlichen Residenz, die sich der große Marlborough einst als Monument errichtet hatte: Jennie hatte trotz ihrer vorgerückten Schwangerschaft darauf bestanden, dort zum Ball eingeladen zu werden. Beim Tanz überkamen sie die Wehen. Sie strebte, «durch den längsten Korridor Europas», aus dem Ballsaal zu ihrem Schlafzimmer, kam aber nur noch bis zur Damengarderobe. Dort, zwischen Samtmuffs, Pelzmänteln und Federhüten, hatte sie eine Sturzgeburt. Es war der 30. November 1874, und der Sohn, dem sie so das Leben gab, war Winston Churchill.

Anderthalb Jahre später spielte sich in der Londoner großen Welt eine schlimme Affäre ab, in deren Mittelpunkt Lord Randolph stand. Es handelte sich um eine verheiratete hochadlige Dame, die eine Geliebte erst des Prinzen von Wales (des späteren Eduard VII.), dann aber des älteren Bruders Lord Randolphs geworden war. Der tiefgekränkte Prinz machte sich jetzt zum Vorkämpfer von Zucht und Sitte, er bestand auf einer Doppelscheidung und Heirat des künftigen Herzogs mit der Dame. Lord Randolph, erbittert für seinen Bruder in die Schranken springend, erklärte in Gesellschaft, ein Scheidungsprozess würde unfehlbar gewisse Briefe ans Licht bringen, «die der Feder und dem Gedächtnis Seiner Königlichen Hoheit entglitten waren».

Darauf forderte ihn der Prinz von Wales zum Duell. Lord Randolph: Er werde sich mit jedem Stellvertreter schlagen, den der Prinz zu benennen beliebe; gegen seinen künftigen Souverän könne er die Waffe nicht erheben. Der Prinz: Er werde kein Haus mehr betreten, das die Churchills empfange. Nun legte sich der Premierminister, der weise alte Disraeli, ins Mittel. Er überredete den alten Herzog von Marlborough, als Vizekönig nach Irland zu gehen und seinen wilden Sohn als Privatsekretär mitzunehmen, bis Gras über die Geschichte gewachsen sei. Der Herzog hatte ein früheres Angebot dieser Ehrenstellung abgelehnt, der ungeheuerlichen Kosten wegen, die mit dem vizeköniglichen Aufwand verbunden waren. Jetzt nahm er seufzend an. Die Churchills gingen in ihr glanzvolles Exil, und so kam es, dass die frühesten Erinnerungen des kleinen Winston Churchill irische Erinnerungen wurden – Erinnerungen an die schrecklichen Sinnfeiner, an Paraden und Attentate, an ein Theater, das plötzlich abgebrannt war, gerade als er sich auf die Kindervorstellung freute …

Lord Randolph aber wurde in Irland zum Politiker. Vorher war er eher das gewesen, was man heute einen «Playboy» nennt; Irland weckte seinen politischen Sinn. Als der Dreißigjährige 1879 nach London zurückkehrte und seinen Sitz im Unterhaus wieder einnahm, brachte er etwas mit, das damals kein anderer englischer Politiker hatte: eine Konzeption, von der bis zum heutigen Tage alle konservativen Parteien Europas ihr Leben fristen: «Tory Democracy».

Die heraufkommende Demokratie schien den meisten damals den natürlichen Tod jeder konservativen Adels- und Traditionspartei zu bedeuten, und 1880 herrschte unter den englischen Konservativen tiefer Pessimismus. Der alte Zauberer Disraeli war abgetreten, der große Liberale Gladstone war wieder Premierminister, und mit seinem Rezept, das Wahlrecht ständig zu erweitern – jetzt durften schon Bergarbeiter und Tagelöhner wählen, unerhört! –, schien er in der Lage, den Konservativen, also der Partei der Reichen, Vornehmen und Privilegierten, immer mehr das Wasser abzugraben und die Liberalen, die Partei des Bürgertums, des Fortschritts, der Reform, zur ewigen Regierungspartei zu machen. Warum sollten Bergarbeiter und Tagelöhner, und eines Tages wohl gar Fabrikarbeiter, je konservativ wählen? Der Einzige, der das für möglich hielt, war der tolle Lord Randolph Churchill.

Er war aber in diesem Fall gar nicht toll, er war vielmehr weitblickend. Er sah, was heute jeder sieht – und damals noch keiner sonst sah –, dass der Liberalismus im Grunde eine Mittelstandsbewegung war und dass die proletarischen, ungeschulten, ausgelieferten Massen, denen er das Wahlrecht gab, in Wahrheit leicht zum Wählerreservoir einer selbstbewussten Herrenpartei zu machen waren, die ihnen zu imponieren verstand und nicht zu stolz war, sie mit Demagogie – und auch mit echtem Verständnis für ihre Nöte – zu umwerben und zu bestechen. In seiner politischen Konzeption verbanden sich bonapartistische Nach- und faschistische Vorklänge mit echtem Noblesse oblige – noch heute ist es schwer,...

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