Sie sind hier
E-Book

Volkes Stimme

Skepsis und Führervertrauen im Nationalsozialismus

AutorGötz Aly
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2014
ReiheDie Zeit des Nationalsozialismus ? »Schwarze Reihe« 
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783104032610
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
***Ein Politbarometer der Deutschen während des Nationalsozialismus*** Über die politischen Stimmungslagen der Deutschen in den Jahren 1939 bis 1945 wurde und wird viel spekuliert, denn es gab damals keine Meinungsumfragen, auf die man zurückgreifen könnte. In diesem Buch unternehmen die Autorinnen und Autoren unter der Federführung des Historikers Götz Aly eine Historische Demoskopie, empirisch abgesichert durch ausgewählte Indikatoren. So wird ermittelt, wie oft Eltern ihren Neugeborenen die Namen Adolf, Horst und Hermann gaben, wie viele Deutsche aus der Kirche austraten oder welche Formeln Angehörige in Nachrufen auf gefallene Soldaten benutzten: Schrieben Sie 'Gefallen für Führer, Volk und Vaterland' oder verzichteten Sie auf die Erwähnung des Führers? Auch das Sparverhalten wird analysiert, um herauszufinden, wie die Deutschen ihre Zukunftsaussichten beurteilten. So ergibt sich erstmals ein fundiertes Bild von den politischen Einstellungen der Deutschen während des Zweiten Weltkriegs, ihrer Zustimmung zur NS-Ideologie, ihrer möglichen Skepsis und ihrer Ängste.

Götz Aly ist Historiker und Journalist. Er arbeitete für die »taz«, die »Berliner Zeitung« und als Gastprofessor. Seine Bücher werden in viele Sprachen übersetzt. 2002 erhielt er den Heinrich-Mann-Preis, 2003 den Marion-Samuel-Preis, 2012 den Ludwig-Börne-Preis. Bei S. Fischer erschienen von ihm u.a. 2011 »Warum die Deutschen? Warum die Juden? Gleichheit, Neid und Rassenhass 1800-1933« sowie 2013 »Die Belasteten. ?Euthanasie? 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte«. Im Februar 2017 erschien seine große Studie über die europäische Geschichte von Antisemitismus und Holocaust »Europa gegen die Juden 1880-1945«. Für dieses Buch erhielt er 2018 den Geschwister-Scholl-Preis.Literaturpreise:Heinrich-Mann-Preis für Essayistik der Akademie der Künste Berlin 2002Marion-Samuel-Preis 2003Bundesverdienstkreuz am Bande 2007National Jewish Book Award, USA 2007Ludwig-Börne-Preis 2012Estrongo Nachama Preis für Zivilcourage und Toleranz 2018Geschwister-Scholl-Preis 2018

Kaufen Sie hier:

Horizontale Tabs

Leseprobe

Götz Aly


Historische Demoskopie


Heute untersuchen demoskopische Institute, was die Leute denken. Tagtäglich können systematisch und repräsentativ Befragte mit Ja oder Nein antworten, auf einer Skala Noten verteilen oder einfach sagen: »Weiß nicht«, »bin unentschieden«. Das Politbarometer, die Sonntagsfrage, der Geschäftsklimaindex sind vertraute Größen der Gegenwart. Die NS-Führer nutzten die sozialwissenschaftlich gestützte Demoskopie noch nicht. Dennoch interessierten sie sich stark für die (Volks-)Stimmung; sie buhlten um die Mehrheit der Deutschen. Deshalb schickten sie Spitzel aus, ließen Behördenchefs regelmäßig über die örtliche oder regionale Volkslaune berichten und versuchten mit allerlei populistischen Maßnahmen, die innenpolitische Betriebstemperatur warm zu halten.[1]

Zum Volk im Sinne des Nationalsozialismus zählten nicht allein die ideologisch Willigen, sondern alle rassisch und politisch für gut oder wenigstens für unauffällig befundenen Arier. Das waren 95 Prozent der deutschen Staatsbürger. Was Hitler als Stimmung bezeichnete, nennen wir heute öffentliche Meinung. Dahinter verbirgt sich mehr als eine wechselnde Sprachmode. Anders als der Begriff Stimmung setzt öffentliche Meinung den republikanischen Verfassungsstaat voraus: allgemeine und parlamentarische Diskussionen, die gesellschaftlich gewollte und institutionell organisierte Differenz, die Gewaltenteilung, den freien Journalismus, das ständige Hin und Her um die gemeinsamen Angelegenheiten. All das fehlte im Dritten Reich, war zugunsten eines möglichst homogenen Denkens und Handelns (»Gleichschaltung«) abgeschafft worden. Die Diktatur atomisierte die Gesellschaft. Das führte zu einer für totalitäre Regime typischen Entpolitisierung im Zeichen der Politik.

Wirksamer als mit den Mitteln des Terrors erreichte der Hitler-Staat seine Ziele mit der Zerstörung der öffentlichen Räume, in denen normalerweise die unterschiedlichen Interessen formuliert und Kompromisse gesucht werden. Für dieses Werk gesellschaftlicher (Selbst-)Zersetzung bildeten außenpolitische Konflikte, militärische Aggression, gesteigert zum totalen Krieg, einen idealen Nährboden. So wurden die Deutschen bald auf die Sphäre des Privaten, auf die persönlichen Ängste und Freuden zurückgeworfen. Parolen wie »Psst! Feind hört mit!« bewirkten ein Übriges.

Das Wort Stimmung gehört zum Vokabular des Totalitarismus. Der Begriff »öffentliche Meinung« erscheint aus den genannten Gründen unangemessen; von einer irgendwo formulierten volonté génerale kann in der NS-Zeit keine Rede sein. Eher müsste von unöffentlicher Meinung gesprochen werden, von Prozessen kollektiver Verständigung, die sich osmotisch in den subkutanen Schichten der Gesellschaft vollzogen. Ihnen haftete etwas Beschränktes, Verdruckstes an. Sie waren Ausdruck des individuellen, mit der Gesamtheit der Deutschen nur eingeschränkt rückgekoppelten Überzeugungswandels. Am ehesten scheint mir der Begriff »politische Befindlichkeit« brauchbar zu sein.

Soweit die beiden anderen Begriffe dennoch verwendet werden, geschieht das unter den formulierten Vorbehalten. Ganz kann darauf nicht verzichtet werden, zum einen mit Rücksicht auf die sprachliche Vielfalt, zum anderen aus faktischen Gründen. Der NS-Führung gelang es niemals, die gesamte deutsche Gesellschaft zu durchdringen. Mit einer gewissen Notwendigkeit blieben die über Jahrhunderte gewachsenen Kirchen auch in dieser Diktatur einigermaßen intakte Orte, an denen sich zu einzelnen Fragen öffentliche Meinung bildete und im Übrigen wesentlich stärker hätte bilden können.

Die Geistlichkeit verkannte ihre Chance. In der übergroßen Mehrheit blieb sie unfähig, den Trumpf gegen die Herrschaft des Bösen auszuspielen, über den bald hauptsächlich sie verfügte: nämlich einfach öffentlich zu machen, was gesellschaftlich beschwiegen und individuell verdrängt werden sollte. Darin, und nicht im nazifreundlichen Verhalten einzelner Repräsentanten liegt das Hauptversagen der beiden Kirchen: Sie verzichteten darauf, die Macht konsequent zu nutzen, die ihnen objektiv zugewachsen war, weil die Gottesdienste, Andachten, Tauf-, Trauungs- und Begräbnisfeiern die letzen Orte gesellschaftlicher Öffentlichkeit bildeten.

Früh offenbarte der in vielen Einzelfragen regimekritische Michael Kardinal von Faulhaber, Oberhirte des Erzbistums München und Freising, seinen elenden Mangel an politischer Geistesgegenwart in einem Brief. Er dokumentiert exemplarisch das wahrlich himmelschreiende Unverständnis der totalitären Gefahr. Das Schreiben, mit dem Faulhaber einem wegen der Judenhetze zutiefst besorgten Katholiken antwortete, zeichnete früh die schiefe Bahn vor, auf der die zivilen Kräfte der deutschen Gesellschaft ins Rutschen gerieten und schließlich den Holocaust begünstigten. »Dieses Vorgehen gegen die Juden«, so schrieb Faulhaber im April 1933, »ist derart unchristlich, dass jeder Christ, nicht bloß jeder Priester, dagegen auftreten müsste. Für die kirchlichen Oberbehörden bestehen weit wichtigere Gegenwartsfragen; denn Schule, der Weiterbestand der katholischen Vereine, Sterilisierung sind für das Christentum in unserer Heimat noch wichtiger, zumal man annehmen darf und zum Teil schon erlebte, dass die Juden sich selber helfen können, dass wir also keinen Grund haben, der Regierung einen Grund zu geben, um die Judenhetze in eine Jesuitenhetze umzubiegen. Ich bekomme von verschiedenen Seiten die Anfrage, warum die Kirche nichts gegen die Judenverfolgung tue. Ich bin darüber befremdet; denn bei einer Hetze gegen Katholiken oder gegen den Bischof hat kein Mensch gefragt, was man gegen diese Hetze tun könne. Das ist und bleibt das Geheimnis der Passion.«[2]

Faulhaber konnte im April 1933 nicht wissen, in welcher Weise sich das »derart unchristliche« Treiben der Staatsführung noch steigern ließ. Das gilt selbst für einen Mann wie Dietrich Bonhoeffer, der sich damals lediglich für die Rechte der Judenchristen innerhalb der evangelischen Landeskirchen einsetzte, nicht jedoch für die Juden in ihrer Gesamtheit.[3] Bonhoeffer blieb übrigens bei dieser Haltung, wie man in der neunzehnbändigen Edition seiner Werke und Briefe nachlesen kann. Der ihm später so gerne zugeschriebene Satz »Wer nicht für die Juden schreit, darf auch nicht gregorianisch singen!«, ist nirgendwo schriftlich überliefert.[4] Aus einem falschen Attentismus, aus dem Selbstverständnis des eingebildeten Unpolitischen verstießen Faulhaber wie Bonhoeffer gegen das weltlich und gegen das göttlich Gebotene.

In den folgenden Untersuchungen wird der Frage nachgegangen, in welchem Ausmaß die Deutschen zwischen 1933 und 1945 der Nazi-Ideologie folgten, sich kriegsbegeistert und hitlertreu zeigten, sich skeptisch, eingeschüchtert oder gleichgültig verhielten, widerständig oder nur müde. Das festzustellen ist nicht einfach, wie jeder überprüfen kann, wenn er sich die simple Frage stellt: Wie fühlte ich mich, wie dachte ich in diesem Monat vor so und so vielen Jahren? Die Antwort darauf bewirkt zumindest ein Zögern, wenn nicht Ratlosigkeit. Aber wie soll man dann einigermaßen zuverlässig feststellen, in welchen Stimmungslagen sich ein ganzes Volk noch dazu unter den Bedingungen des Krieges und vor mehr als 60 Jahren befand?

In den bislang gängigen zeitgeschichtlichen Arbeiten wird nach einem fragwürdigen Rezept verfahren: Man nehme die Berichte des Sicherheitsdienstes (»Meldungen aus dem Reich«), vermenge sie sorgsam mit Mutmaßungen über die Volksstimmung, die sich etwa in Goebbels’ Tagebüchern und in amtlichen Quellen finden, und füge der so gewonnenen Masse nach Belieben Ingredienzen aus Feldpostbriefen und privaten Tagebüchern hinzu – und schon scheint klar, wie sich die deutsche Gesellschaft zur Zeit des Dritten Reiches gefühlt haben wird.[5]

Die mit solchen Techniken gewonnenen Ergebnisse erweisen sich als methodisch unbefriedigend. »Beweisen« kann man damit fast alles und folglich nichts. Auf dieser Basis lässt sich beispielsweise der Streit um die Rolle Hitlers nicht klären, dessen diskursive Pole die Begriffe »charismatischer Führer« (Wehler) und »schwacher Diktator« (H. Mommsen) markieren. Das Problem liegt in der nicht zu objektivierenden Auswahl von Zitaten und deren Gewichtung. Diejenigen, die so arbeiten, wissen das genau: »Jede Untersuchung eines Korpus von Feldpostbriefen wird«, so schreibt Sven Oliver Müller, »durch die Probleme der Quantifizierbarkeit und Repräsentativität bestimmt. Die Frage, inwieweit aus den Einzelfunden auf Disposition und Verhalten der Gesamtgruppe zu schließen ist, wird keine repräsentative Antwort erfahren können.« Trotz solcher gravierenden methodischen Einschränkungen arbeitet Müller dann eben doch genau mit diesem Material und behauptet, er könne damit »unter dem Gesichtspunkt möglichst hoher Plausibilität« seine Argumente »untermauern«.[6] Er kann es nicht.

Anhand unserer Studie lässt sich das geschilderte, methodisch schwach fundierte Vorgehen zumindest in Zweifel ziehen. Das erscheint notwendig, weil auf solche Weise in den vergangenen zehn Jahren unter dem Begriff »Konsensdiktatur« das Bild vom massenhaften, mehr oder weniger begeisterten Mitläufertum entstanden ist. Parallel dazu wird die Zahl der Deutschen, die sich gegenüber der nationalsozialistischen Ideologie als immun oder wenigstens skeptisch erwiesen hat, mittlerweile als relativ klein veranschlagt. Das führte zum Beispiel zu der gerne verbreiteten Behauptung, der...

Blick ins Buch

Weitere E-Books zum Thema: Europa - Geschichte und Geografie

Faschistische Selbstdarstellung

E-Book Faschistische Selbstdarstellung
Eine Retortenstadt Mussolinis als Bühne des Faschismus Format: PDF

Unter dem italienischen Faschismus wurden südlich von Rom neue Städte in den ehemaligen Pontinischen Sümpfen gegründet. Diese faschistischen Retortenstädte verknüpften neue sozialpolitische Modelle…

Faschistische Selbstdarstellung

E-Book Faschistische Selbstdarstellung
Eine Retortenstadt Mussolinis als Bühne des Faschismus Format: PDF

Unter dem italienischen Faschismus wurden südlich von Rom neue Städte in den ehemaligen Pontinischen Sümpfen gegründet. Diese faschistischen Retortenstädte verknüpften neue sozialpolitische Modelle…

Faschistische Selbstdarstellung

E-Book Faschistische Selbstdarstellung
Eine Retortenstadt Mussolinis als Bühne des Faschismus Format: PDF

Unter dem italienischen Faschismus wurden südlich von Rom neue Städte in den ehemaligen Pontinischen Sümpfen gegründet. Diese faschistischen Retortenstädte verknüpften neue sozialpolitische Modelle…

Faschistische Selbstdarstellung

E-Book Faschistische Selbstdarstellung
Eine Retortenstadt Mussolinis als Bühne des Faschismus Format: PDF

Unter dem italienischen Faschismus wurden südlich von Rom neue Städte in den ehemaligen Pontinischen Sümpfen gegründet. Diese faschistischen Retortenstädte verknüpften neue sozialpolitische Modelle…

Spätmoderne

E-Book Spätmoderne
Lyrik des 20. Jahrhunderts in Ost-Mittel-Europa I Format: PDF

Der Sammelband „Spätmoderne" bildet den Auftakt zur Reihe „Lyrik des 20. Jahrhunderts in Ost-Mittel-Europa" und widmet sich zuvorderst osteuropäischen Dichtwerken, die zwischen 1920 und 1940…

Spätmoderne

E-Book Spätmoderne
Lyrik des 20. Jahrhunderts in Ost-Mittel-Europa I Format: PDF

Der Sammelband „Spätmoderne" bildet den Auftakt zur Reihe „Lyrik des 20. Jahrhunderts in Ost-Mittel-Europa" und widmet sich zuvorderst osteuropäischen Dichtwerken, die zwischen 1920 und 1940…

Weitere Zeitschriften

ARCH+.

ARCH+.

ARCH+ ist eine unabhängige, konzeptuelle Zeitschrift für Architektur und Urbanismus. Der Name ist zugleich Programm: mehr als Architektur. Jedes vierteljährlich erscheinende Heft beleuchtet ...

Ärzte Zeitung

Ärzte Zeitung

Zielgruppe:  Niedergelassene Allgemeinmediziner, Praktiker und Internisten. Charakteristik:  Die Ärzte Zeitung liefert 3 x pro Woche bundesweit an niedergelassene Mediziner ...

BMW Magazin

BMW Magazin

Unter dem Motto „DRIVEN" steht das BMW Magazin für Antrieb, Leidenschaft und Energie − und die Haltung, im Leben niemals stehen zu bleiben.Das Kundenmagazin der BMW AG inszeniert die neuesten ...

BONSAI ART

BONSAI ART

Auflagenstärkste deutschsprachige Bonsai-Zeitschrift, basierend auf den renommiertesten Bonsai-Zeitschriften Japans mit vielen Beiträgen europäischer Gestalter. Wertvolle Informationen für ...

Die Versicherungspraxis

Die Versicherungspraxis

Behandlung versicherungsrelevanter Themen. Erfahren Sie mehr über den DVS. Der DVS Deutscher Versicherungs-Schutzverband e.V, Bonn, ist der Interessenvertreter der versicherungsnehmenden Wirtschaft. ...

building & automation

building & automation

Das Fachmagazin building & automation bietet dem Elektrohandwerker und Elektroplaner eine umfassende Übersicht über alle Produktneuheiten aus der Gebäudeautomation, der Installationstechnik, dem ...