1. Die Österreichische Schule
Seit vor einigen Jahren plötzlich Krisenmeldungen begannen, die Wirtschaftsnachrichten zu dominieren, hat der Ruf der Wirtschaftswissenschaften großen Schaden erlitten. Schließlich kamen die Dynamiken, die seitdem das Geschehen beherrschen, für die meisten Ökonomen und Wirtschaftsjournalisten völlig überraschend. Willem Buiter, Professor an der London School of Economics und ehemaliger Chefvolkswirt der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung, gelangte nach der Krise zu dem Schluss, dass sich die Forschungsansätze der Mainstream-Ökonomen »bestenfalls als selbstbezügliche, nach innen gerichtete Ablenkungen« erwiesen hätten:
Die Forschung tendierte dazu, eher von der internen Logik, dem intellektuellen versunkenen Kapital und den ästhetischen Rätseln etablierter Forschungsprogramme motiviert zu sein als von einem starken Drang, zu verstehen, wie die Wirtschaft funktioniert – geschweige denn, wie die Wirtschaft in Zeiten von Stress und finanzieller Instabilität funktioniert. Daher wurde der Berufsstand der Ökonomen von der Krise völlig unvorbereitet getroffen.3
Der erfolgte Ansehensverlust ist notwendig und ging leider nicht weit genug: Denn die Mehrzahl der Ökonomen führt dank der verbliebenen Autorität ihrer vermeintlichen Wissenschaft weiterhin in die Irre. Zwar ahnen die meisten Menschen, dass die Prognosen und Modelle der Ökonomen weitgehend unrealistische Pseudowissenschaft sind, doch die richtigen Schlüsse ziehen sie daraus noch nicht.
Als Ökonom muss man den Ansehensverlust andererseits bedauern, denn eine kleine Gruppe von Ökonomen lag durchaus richtig, und realistische Ökonomie wäre gerade heute dringend nötig. Eine der wenigen ökonomischen Schulen, deren Vertreter nicht als blinde Hühner überführt wurden, versucht eine solche – in den Worten ihres Begründers – kausal-realistische Ökonomie: die sogenannte Österreichische oder Wiener Schule. Benannt ist sie nicht nach der heutigen Republik, sondern nach dem Umstand, dass einst im alten Wien die führenden Wissenschaftler Europas Weltruhm mit ihren Leistungen errangen. Die Ökonomie war eine der jungen Disziplinen, die damals wesentliche Weiterentwicklung erfuhren. Leider ist der akademische Mainstream heute teilweise weit hinter die Erkenntnisse der damaligen Zeit zurückgefallen.
Was macht die Wiener Schule so besonders? Sie entstand in einem Kontext, der uns einerseits heute ganz fern und andererseits auch wieder ganz nah ist. Das alte Wien war die deutlichste Bruchstelle zwischen der alten Ordnung und der Moderne. Deshalb war der Blick auf die Moderne besonders scharf und kritisch. Es ist kein Zufall, dass in nahezu allen Bereichen die moderne Wissenschaft im alten Wien stark geprägt wurde. Für einen kurzen historischen Moment war Wien das globale Zentrum der Wissenschaft und Kultur. In diesem Moment entstand auch die Wiener Schule der Ökonomik und trat neben unzählige andere Wiener Schulen, davon allein drei Schulen der Psychologie, eine Schule der Logik und Erkenntnistheorie (Wiener Kreis), der Musik, der Ethik, der Ethologie, der Medizin und der Quantenphysik, um nur einige Bereiche zu nennen.
Die Moderne war das Zeitalter der Ideologien. Insbesondere die Sozial- und Wirtschaftswissenschaften blieben davon nicht unberührt. Darum bemühten sich die Vertreter der Wiener Schule der Ökonomik darum, wirtschaftliche Phänomene wertneutral zu studieren. Natürlich gelang es ihnen nicht immer, ihre eigenen Werte beiseitezulassen; das wäre auch nicht zielführend gewesen. Die wichtigsten Vertreter der Wiener Schule, wenngleich gewiss nicht alle, empfanden »liberal«. Das bedeutete zu der Zeit, dass sie für individuelle Freiheit eintraten und die Entwicklung hin zum Totalitarismus mit großer Sorge betrachteten. Der klassische Liberalismus war damals gerade im Aussterben begriffen – zu Recht kann man Ludwig von Mises den letzten großen Vertreter des klassischen Liberalismus in Europa nennen.
Die liberale Grundhaltung bewahrte vor einer Vereinnahmung durch die zwei großen totalitären Strömungen der Zeit: den Nationalsozialismus und den internationalen Sozialismus. Sie führte aber auch zur Ausgrenzung und schließlich Vertreibung der meisten Vertreter der Wiener Schule. Dies war zwar für die Wissenschaftler verheerend, für die Wissenschaft aber heilsam: Die österreichische Ökonomik blieb damit eine machtferne und machtkritische Strömung. Ökonomik ist die Königswissenschaft moderner Staatsführung. Daher ist sie aber auch die korrumpierteste Disziplin von allen. Bezahlte Stellen für Ökonomen gibt es überall dort, wo man sich um Kontrolle und Steuerung bemüht. Die meisten Stellen, die es je für Ökonomen gab, bot einst die Sowjetunion. Heute sind es die Zentralbanken, allen voran das US-Federal Reserve System (Fed), die Ökonomen nähren: Allein für das Fed-Direktorium sind derzeit zwischen 200 und 300 promovierte Volkswirte tätig, zuzüglich zahlreicher Assistentenstellen. Jedes Jahr werden vom Direktorium zudem viele hundert Millionen Dollar an Subventionen für Volkswirte vergeben, sodass schätzungsweise weitere 500 Ökonomen extern Vollzeit für die Agenden des Fed arbeiten. Ein Artikel kommt zum Schluss:
Die meisten Redakteure prominenter wissenschaftlicher Journale stehen in aller Regel auf der Gehaltsliste des Fed und erfüllen eine Schrankenwärterfunktion hinsichtlich dessen, was veröffentlicht wird und was nicht. Kurz: Der Berufsstand der Ökonomen wurde völlig eingekauft.4
Die Wiener Schule der Ökonomik ist weitgehend frei von der Art von Prostitution für Einfluss und Einkommen, wie sie für moderne Ökonomen typisch ist. Hätte die Tradition bis heute, ohne Unterbrechung, in Wien überlebt, so wäre sie wohl aufgrund der Anreize vollständig im Mainstream aufgegangen. Heute wird der modernen Austrian School manchmal vorgehalten, dogmatisch und ideologisch zu sein. Dieser Vorwurf ist bis zu einem gewissen Grad nicht unberechtigt, doch nur zum Teil bedauerlich. Zwar erschweren die ideologische Rezeption in den USA und das Übergewicht alter Schriften und verstorbener Denker das Keimen einer erneut lebendigen und relevanten Wissenschaft aus der bewahrten Saat. Doch die Bewahrung wäre sonst nicht gelungen: Dogmen können vor Irrtümern schützen und Ideologien vor falscher Vereinnahmung. In einer Welt übertriebener Kurzfristigkeit, die sklavisch dem Tagesgeschehen folgt, ist die Auseinandersetzung mit der Wiener Schule wie eine Zeitreise: Sie bringt eine Perspektive in unsere Welt, die uns fremd geworden ist, aber fantastische Möglichkeiten der Erkenntnis anbietet. Niemals lässt sich die Gegenwart aus ihr selbst begreifen. Die Wiener Schule bringt den nötigen Kontext, um unsere Zeit besser zu verstehen, ist dabei aber gar nicht altmodisch: Ein großer Teil der Einsichten ist zeitlos, ein weiterer Teil war vor hundert Jahren so revolutionär, dass er heute noch frisch wirkt, und der Rest reift und wächst an neuen Erkenntnissen. Kaum eine Tradition eignet sich heute besser, um sich von zeitgeistigen Illusionen zu verabschieden.
Für Anleger ist die Österreichische Schule nicht zuletzt deshalb besonders wertvoll, allerdings erschließt sich der Wert nicht direkt. Jene Schule, die mit der Lösung des sogenannten Wertparadoxons antrat, fordert Anleger zunächst mit einem Paradoxon heraus: Normalerweise erzielen Anleger, die versuchen, die Einsichten der Wiener Schule anzuwenden, niedrigere Renditen. Das liegt einerseits an einer gewissen Selbstbeschränkung, bei der kurzfristige, eher materielle Aspekte mit langfristigen, eher ethischen Aspekten abgewogen werden. Andererseits liegt es an der »Normalität«, die alles andere als normal ist. Vertreter der Wiener Schule sehen dem Wahnsinn nüchtern ins Auge. Diese Perspektive ist typisch wienerisch, und im Wien der im Krieg untergehenden alten Welt sprach man von der »fröhlichen Apokalypse«. Eine Anekdote über ein gemeinsames preußisch-österreichisches Gefecht im Ersten Weltkrieg illustriert diesen Zugang: Der preußische Offizier berichtet: »Die Lage ist ernst, aber nicht hoffnungslos.« Der österreichische Kommandant erwidert darauf: »Die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst.« Diese paradoxe Grundhaltung floss in die Wiener Schule ein und hob sie deutlich von anderen ökonomischen Traditionen ab. Denn nicht nur die Kriege formten die Welt um, auch eine ökonomische Transformation, die in der Geschichte einmalig ist, erfasste die Welt in den letzten Jahrhunderten. Diese Umwandlung geht weit über die industrielle Revolution hinaus, es handelt sich um eine monetäre Revolution, die zunächst die massive und rapide Industrialisierung antrieb, später aber deindustrialisierend wirkte. Jeder Anleger, der die Gegenwart und mögliche Zukunft verstehen möchte, muss sich mit dieser monetären Revolution auseinandersetzen.
Die Transformation der Welt, insbesondere der westlichen Gesellschaften und Wirtschaften, polarisierte von Anfang an. Nur wenige nüchterne Beobachter blieben übrig. Die meisten wurden entweder angezogen oder abgestoßen. Und auch diejenigen, die zuerst abgestoßen waren, wurden schließlich mitgerissen – in den Fluten der Zeit glaubten sie, eine Weile rückwärts zu schwimmen, das war aber nur der Sog. Das Schiff der Wiener Schule strandete bald, in kleine Stücke zerbrochen und zerstreut, als versunken geltend und unbeachtet vom Fluss der Zeit. Die mit der Moderne mitschwimmenden und ringenden Ökonomen teilten sich: Die einen sahen diese Sturzflut als raschen Fortschritt, der bloß ein wenig der Steuerung bedarf. Diese Mainstream- oder zu Deutsch Hauptstrom-Ökonomen sehen die Lage allenfalls dann als ernst an, wenn...