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E-Book

Östlich der Sonne

Vom Baikalsee nach Alaska

AutorKlaus Bednarz
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2011
Seitenanzahl400 Seiten
ISBN9783644009110
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
«Land östlich der Sonne» nannten die russischen Eroberer jenen geheimnisvollen hintersten Teil Sibiriens, der sich vom Fluss Lena bis zum Stillen Ozean erstreckt. Durch dieses raue, unermesslich weite Land zogen einst die Vorfahren der nordamerikanischen Indianer. Klaus Bednarz ist auf ihren Spuren gereist. Vom Baikalsee bis nach Alaska - mehr als 10 000 Kilometer durch Taiga, Sümpfe und reißende Flüsse. Zu Fuß, per Schiff, Geländewagen, Hubschrauber oder Rentierschlitten. Er hat mit Goldsuchern und Walfängern gesprochen, mit Polarforschern, Archäologen, Schamanen und Indianerhäuptlingen, mit Verbannten und Sträflingen des Gulag. Immer wieder ist er dabei auf Gemeinsamkeiten sibirischer und indianischer Mythen und Legenden gestoßen, auf überraschende Parallelen von Kultur und Lebensweise. Entstanden ist dabei ein lebendiges Bild des heutigen Landes östlich der Sonne - mit all seinen Problemen und Hoffnungen. Eine faszinierende Reise voller Abenteuer und unvergesslicher Eindrücke.

Klaus Bednarz, geboren 1942 in Berlin, ist einer der bekanntesten deutschen Journalisten. Er war lange Zeit ARD-Korrespondent in Warschau und Moskau und leitete fast zwei Jahrzehnte das Politmagazin 'Monitor'. Für seine Arbeit wurde Bednarz, heute Chefreporter des WDR, mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.

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Leseprobe

Taigamarsch


Bootsman und Valet kennen sich gut. Sie sind im selben Dorf am westlichen Ufer des Baikalsees geboren, im selben Jahr. Gemeinsam haben sie ihre Kindheit verbracht, im Ufersand gespielt, ihre ersten Erfahrungen gemacht – mit den anderen Dorfbewohnern, dem See und der angrenzenden unendlichen Taiga. Sie haben gelernt, wie man sich im Sommer vor den Stechmücken schützt und im Winter sogar durch den dicksten Schnee noch einen Weg findet. Sie können fast 24 Stunden ununterbrochen auf den Beinen sein, aber auch ganze Tage träge in der Sonne verdösen.

Freunde allerdings sind sie nicht. Wo immer sie einander begegnen, und das geschieht in dem kleinen Dorf ein paar Mal täglich, kommt es zu Reibereien, lautstarken Auseinandersetzungen und nicht selten zu blutigen Raufereien. Bei einem dieser Treffen verlor Valet ein Auge, doch Reue hat Bootsman nie gezeigt, und auch sein Opfer scheint wenig beeindruckt. Angst lässt Valet jedenfalls nicht erkennen, einen Bogen um Bootsman macht er noch immer nicht. Im Gegenteil. Die Auseinandersetzungen zwischen den beiden sind heftiger geworden, seit vor zwei Jahren Susanna im Dorf auftauchte. Susanna gehört zur selben Rasse wie Bootsman und Valet. Es sind sibirische Laikas, östliche Verwandte jener etwas kleineren, legendären karelischen Vierbeiner, die einst – noch vor Jurij Gagarin – zum höheren Ruhm des Sozialismus in einem Sputnik die Erde umkreisten. Doch die Zeiten, zu denen die Augen der Weltöffentlichkeit auf ihnen ruhten, sind längst vorbei, und auch in den sibirischen Dörfern ist von ihrem außerirdischen Ruhm nicht allzu viel geblieben. Hier sind sie das, was sie seit Jahrtausenden waren: die wichtigsten Verbündeten der Menschen beim Überlebenskampf in einer unwirtlichen und gefährlichen Natur. Und in dieser Funktion werden sie auf unserem Marsch vom Ufer des Baikalsees zur Quelle der Lena auch für uns von Bedeutung sein. Drei Tage, so heißt es, würden wir bei gutem Wetter für den Hinweg brauchen: zunächst über den Pass im Baikal-Gebirge, dann abwechselnd durch Taiga und Waldtundra.

Ausgangspunkt wird der Ort sein, in dem Bootsman, Valet und Susanna zu Hause sind. Er trägt den sinnigen Namen Pokojniki, was im Russischen sowohl die Ruhigen als auch die Verblichenen bedeuten kann. Außer den Laikas, ein paar Kühen, Schweinen und Hühnern leben hier noch sechs Männer, drei Frauen und vier Kinder. Im Sommer kommen, vor allem nachts, gelegentlich einige Bären, im Winter hungrige Wölfe hinzu. Ansonsten sagen sich hier, so heißt es auch bei den Russen, Fuchs und Hase gute Nacht.

Die Idee, zur Lena-Quelle zu Fuß zu gehen, stammt von Semjon Ustinow. Wir hatten ihn bereits bei unserer ersten Reise an den Baikalsee vor sechs Jahren kennen und als eine in jeder Hinsicht imposante Persönlichkeit schätzen gelernt. Wissenschaftler, Umweltschützer und Naturfreunde nennen seinen Namen weit über die Grenzen des Baikal-Gebiets hinaus mit Ehrfurcht. Seine Visitenkarte ziert der Hinweis, dass er Doktor der Biologie ist, verdienter Ökologe der Russischen Föderation, verdienter Mitarbeiter der Jagdwirtschaft der Russischen Föderation und Mitglied des Schriftstellerverbandes der Russischen Föderation. Und außerdem zeigt die Visitenkarte klein gedruckt neben fünf Bärentatzen an, dass Ustinow «Leiter der Abteilung für naturschützende Bildungsarbeit des Baikal-Lena-Biosphären-Reservates» ist, des größten Naturschutzgebiets der Baikal-Region. Er, so hatte Ustinow bei unserer ersten Begegnung wie beiläufig und dennoch mit unüberhörbarem Stolz erklärt, sei der eigentliche Entdecker der Lena-Quelle, zumindest der Erste, der sie wissenschaftlich beschrieben habe. Natürlich könne man, so hatte er gesagt, wenn man genug Geld habe, auch mit dem Hubschrauber zu der sonst nur schwer zugänglichen Quelle des gewaltigsten der sibirischen Ströme fliegen. Aber dies sei erstens umweltschädlich und zweitens kaum geeignet, einen Eindruck von dem grandiosen Naturschauspiel zu vermitteln, das der Weg vom Baikal, dem heiligen Meer der Sibirier, zur Mutter Lena, der wichtigsten Lebensader Sibiriens, für den tapferen Fußgänger bereithält.

Auch diesmal führte unsere Route zunächst über das etwa 400 Kilometer südlich der Lena-Quelle gelegene Irkutsk. Mit der «Wega», einem Schwesterschiff der «Minkas», die wir ehedem benutzt hatten, fuhren wir von dort rund 36 Stunden über den Baikal nach Norden, Richtung Pokojniki – vorbei an vielen Ortschaften, Buchten, Flussmündungen und Felsen, die uns von früher vertraut waren: der Fels Rytyj etwa, der Aufgewühlte, kurz vor Pokojniki, auf gleicher Höhe mit der Lena-Quelle, nur zwölf Kilometer Luftlinie von ihr entfernt. Den Burjaten, den Ureinwohnern am Baikalsee, gilt er als schrecklich und heilig zugleich; als Ort, wo böse Götter wohnen, die Söhne des burjatischen Gottes Ucher, der Verderben bringende Winde schickt. Sie bestrafen jeden, der es wagt, sich mehr als zwei bis drei Kilometer vom Baikal-Ufer weg auf ihr heiliges Territorium zu begeben – just das Gebiet, in dem die Lena-Quelle liegt. Als wir den Rytyj mit dem Schiff passierten, herrschte strahlender Sonnenschein, und es wehte kein Hauch. Unser Kapitän betrachtete ihn dennoch mit Argwohn.

Semjon Ustinow hatte sich erboten, uns beim Marsch zur Lena-Quelle zu begleiten. Als Führer, wissenschaftlicher Berater, Träger und Beschützer. Denn der Baikal-Lena-Naturpark gilt, wie einer Broschüre zu entnehmen ist, als «besonders schwer zugängliche, wilde Taiga, in der es zudem von Bären wimmelt». Touristen dürfen ihn nur mit Genehmigung – vier Dollar pro Tag – und in Begleitung eines Jägers mit Gewehr betreten. Dass sich Semjon Ustinow dabei auch noch ein Zubrot zu seinem kärglichen Gehalt als Angestellter der staatlichen Naturschutzbehörde verdient, versteht sich von selbst.

In Irkutsk erstanden wir die letzten für unsere Expedition noch erforderlichen Ausrüstungsgegenstände. Zu den Rucksäcken, Zelten, Isomatten, Schlafsäcken und Bergschuhen, die wir aus Moskau mitgebracht hatten, kamen noch kreisrunde, erdfarbene Taigahüte mit bis auf die Schultern fallenden Moskitonetzen; Plastikfolien zum Einpacken der Kameraausrüstung, der Nahrungsmittel und Kleidung; ferner Gummistiefel und Gamaschen, die bis hoch über die Knie reichen und dort fest verknotet werden. Auf diese Weise soll verhindert werden, dass beim Waten durch Sumpfgebiete, durch Flüsse und Bäche Wasser von oben in die Gummistiefel rinnt. Glauben wir wenigstens.

Beim Einkauf des Proviants war uns Semjon Ustinow persönlich behilflich: Brot, Dauerwurst, Buchweizengrütze, Suppenwürfel, Teebeutel, ein paar kleine Dosen Büchsenfleisch sowie eine Flasche armenischen Kognaks – als Medizin gegen Unterkühlung, falls jemand in einen der eiskalten Gebirgsbäche plumpst. Gegen die Mitnahme von Toilettenpapier hatte Ustinow zunächst protestiert. «In der Taiga nimmt man Gras.» Erst auf unseren nachdrücklichen Hinweis, dass es sich um umweltfreundliches Klopapier handle, das sich binnen kurzem in seine natürlichen Bestandteile auflöse, willigte der verdiente Ökologe der Russischen Föderation brummend ein.

Proviant und Ausrüstungsgegenstände wurden mühsam in den winzigen Kajüten der «Wega» verstaut; überdies zwei Kisten Wodka und 100 Liter Diesel, abgefüllt in fünf Blechkanistern. Allerdings nicht für den Eigenbedarf, sondern als kostbarstes Zahlungsmittel im heutigen Sibirien. Wir wussten nämlich, dass wir in Pokojniki würden versuchen müssen, noch zwei ortskundige Männer für den Marsch zu engagieren: einen Jäger mit Gewehr und, wenn möglich, auch Hunden sowie einen weiteren Träger für die Teile unserer umfangreichen Kameraausrüstung und des Proviants, die wir selbst nicht mehr schleppen konnten. Mehr als 30 Kilo auf dem Rücken traute sich keiner von uns zu.

 

Pokojniki, malerisch in einer sanft geschwungenen Bucht am Fuße des steil aufragenden Baikal-Gebirges gelegen, hat zweifellos schon bessere Zeiten erlebt. Ein paar kleine Holzhäuschen, dazu einige Stallgebäude und Scheunen – alles ist altersschwach und vom Verfall bedroht. Die meisten Zäune sind vom Wind niedergedrückt, die winzigen Badehütten, Banjas, mit rostigen Schlössern verrammelt. Lediglich die Wetterstation mit ihrem unter freiem Himmel aufgestellten Wald von Geräten scheint auf den ersten Blick noch intakt.

Außer der Wetterstation befindet sich in Pokojniki nur noch ein Außenposten des Baikal-Lena-Naturparks, besetzt mit drei Rangern, wie sie sich stolz nennen. Einer von ihnen ist Kostja, ein Taigajäger, der offiziell die Funktion eines Wildhüters ausübt. Kostja zur Teilnahme an unserer Expedition zu bewegen ist allerdings nicht einfach. Wieso solle er sich in dieser Sommerhitze – wir haben über 30 Grad – mit Gepäck übers Gebirge und bis zur Lena-Quelle schinden, wo doch gerade so viele Fischschwärme durch die Bucht ziehen und es nichts Schöneres gebe, als bei gutem Wetter mit dem Motorboot auf dem Baikal herumzubrausen und Netze auszulegen? Außerdem sei er sowieso erst ein einziges Mal an der Lena-Quelle gewesen, und wir fänden sicher andere Leute, die uns führen könnten. Dabei weiß Kostja genau, dass wir ohne ihn nicht losmarschieren können, weil er – offiziell – der einzige Jäger mit Gewehr auf der Station ist. Und er kennt seinen Preis. Geld? Na klar! Und Wodka? Auch klar. Und 20 Liter Diesel für sein Motorboot. Doch das alles ist noch nicht genug. Erst die Zusage, ihn nach unserer Rückkehr auf dem Schiff nach Irkutsk mitzunehmen, lässt ihn endgültig einwilligen. Immerhin, der Handel hat auch für uns seinen Vorteil. Das jedenfalls macht uns Kostja glauben, indem er großzügig...

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