Vorworthafter Dreiklang
Tagebucheintrag
Wien, den 19. Juni
Abends in Christoph Starks Trakl-Film Tabu – Es ist die Seele ein Fremdes auf Erden; habe mich dann in dieser lauen Juni-Nacht bis zum Judenplatz treiben lassen, wo ich in einem fast leeren Schanigarten diese Zeilen notiere.
Es regnete viel in diesem Film; es goss in Strömen. Entsprechend tropfnass sind die strähnigen Haare Georgs (Lars Eidinger) und Gretes (Peri Baumeister). Der Film hätte G&G heißen sollen, handelt er doch von Geschwistern, die von der Ausweglosigkeit ihrer Liebe zueinander vergewaltigt werden. Die Hauptrolle im Film hat der Inzest übernommen – umflort von farbgesättigten Bildern.
Aus dem Drogenrausch der Geschwister entsteht ein filmischer Bilderrausch zwischen Bürgersalon und Gosse, bedrückenden Stadtszenen und scheinbar befreiender Natur. Ich denke unwillkürlich an Jane Campions Film über John Keats Bright Star (2009): Gezeigt wird darin das Dichten als wahnhafter Leidensprozess. In Tabu korrigiert die Schwester die Manuskripte des Bruders. Im Keats-Film dagegen haben sich die Verse des Dichters bereits in einen Bereich jenseits aller Korrektur begeben.
Überhaupt ist mittlerweile das Schreiben zu einem Filmthema geworden. Die Kamera konzentriert sich auf Feder und Tintenklecks sowie den schwarzen Schreibfinger im Film Becoming Jane (2007), in dem Anne Hathaway die beständig schreibende Jane Austen spielt, oder in Shakespeare in Love (1998), in dem Joseph Fiennes als William die Feder stets in Bereitschaft hält, wenn ein gewisser Blick Worte auf dem Papier auslöst.
Lars Eidinger gibt einen Trakl, der phasenweise fieberhaft schreibt und streicht, als jage ihn die Sorge, bestimmte Worte nicht aufs Papier werfen zu können, auch wenn er ansonsten erstaunlich wenig Angst zeigt; er wirkt, wenngleich zuweilen am Rande von Gewaltausbrüchen, immer im Vollbesitz seiner Selbstkontrolle. Vergisst man, dass Eidinger Trakl sein soll, dann überzeugt er. Anders Peri Baumeister als Grete; sie ist das Wunder einer Verkörperung, gerade weil man von der authentischen Grete (aber was ist das schon!) zu wenig weiß. Ihr genialisches Klavierspiel sieht sich nur noch übertroffen durch die kurzen Hörproben von ihrer eigenen Musik, die an Skrjabin erinnert. Ja, sie ist, was sie sein soll: unwiderstehlich. Unglaubwürdig wirkt sie nur an der Stelle im Film, wo sie ihrer hartherzigen Mutter vorwirft, nicht schon viel früher gegen die inzestuöse Beziehung zwischen ihr und Georg, von der sie gewusst habe, eingeschritten zu sein.
Die Bilder bleiben, ihr Sinn verflüchtigt sich. Über dem Schanigarten setzt Nieselregen ein. Er wird nicht ausreichen, das Haar tropfnass werden zu lassen.
Wien, tags darauf (Hotel Regina)
Wiederholt spielen sich einige Filmszenen des gestrigen Abends in mir ab. In einem hatte der Film recht: Trakl lebte nur, wenn er schrieb. Und er schrieb nur, wenn er Gedichte verfasste. Ansonsten schien er zu vegetieren, sich treiben zu lassen oder ins Wahllose getrieben zu sein.
Ganz in der Nähe: Freuds Berggasse, wo Totem und Tabu entstand und der Satz: »Das Tabu heißt uns einerseits heilig, geweiht, anderseits: unheimlich gefährlich, verboten, unrein.«1 Erschienen 1913. In jenem Jahr war Trakl zwei-, dreimal in Wien, hatte Umgang mit Karl Kraus, Adolf Loos, Peter Altenberg und Oskar Kokoschka. Und in jenem Gedicht, dem der Band seinen Titel entlehnte, »Es ist die Seele ein Fremdes auf Erden«, rief er zweimal aus: »Reinheit! Reinheit! Wo sind die furchtbaren Pfade des Todes, / Des grauen steinernen Schweigens, die Felsen der Nacht / Und die friedlosen Schatten? Strahlender Sonnenabgrund.«2 Da sind sie, die extremen Gegensätze, die nur eine Vermittlung kennen: den Klang, den Rhythmus, der auch dann magisch bleibt, wenn er, wie hier, gebrochen wird durch Ausrufe und Fragen, die im Ton an Hölderlin erinnern – nicht an den Analytiker Freud.
Man kennt die lustvollen Tabubrecher in der Literatur um 1900 von Frank Wedekind bis Heinrich Mann, Arthur Schnitzler, Oskar Kokoschka, Egon Schiele und in der Musik die »Zwölftöner«.3 Und Trakl? Brach er mit Tabus? Oder spielte er mit ihnen oder sie mit ihm – Katz und Maus? Das Ringen um Reinheit, die Ahnung des Heiligen – beides ist so gegenwärtig in seinen Gedichten wie der strahlende oder in Dunkelheit versinkende Abgrund, die Gosse, die Verelendung der Seele.
Trakl in der Berggasse – wie hätte er sich verhalten, wäre er Freuds Patient geworden? An analysebedürftigen Träumen hatte es ihm ja nicht gemangelt; zumindest seinen Gedichten nicht. Vielleicht hätte er einfach stumm auf der Couch gelegen und Freud dann und wann ein Gedicht ins Schweigen gereicht. Vielleicht …
Ein knappes Jahrzehnt lyrischer Produktivität, ein Jahrzehnt voller Extreme in Kultur und Politik, im Gesellschaftlichen und Ökonomischen: Historismus wie hier im Hotel Regina contra Sezession am anderen Ende der Ringstraße, die Zeitverhältnisse verschleiernde Neoromantik contra Analyse der modernen Psychosen. Trakl weilt in Salzburg, die Auflösung der Eisenhandlung seines verstorbenen Vaters steht an, als in Wien am letzten März-Tag des Jahres 1913 Arnold Schönberg im Großen Saal des Musikvereins seine Kammersinfonie dirigiert, etwas von Anton von Webern und Alban Bergs Lieder mit Orchester nach Ansichtskartentexten von Peter Altenberg: Das »Skandalkonzert« nimmt seinen Lauf, das ganz Wien erregt und Oscar Straus, den Operettennebenkönig, solchermaßen, dass er Schönberg, den Präsidenten des Akademischen Verbandes für Literatur und Musik, dem auch Trakl als Student angehört hatte, auf offener Szene ohrfeigt, dem dann wiederum Trakls Freund, Erhard Buschbeck, eine Maulschelle verabreichte.
Was hat Trakl darüber von Freund Buschbeck erfahren? Hat es ihn bekümmert, entsetzt? Sprach man noch davon, als er im Juli jenes Jahres wieder nach Wien kommt, währenddessen Buschbeck in Salzburg Trakls Schwester Grete affärenhaft nahe kommt? Wie bezeichnend wenig weiß man von diesem verfehlten Leben Trakls; einiges mehr freilich von dem abgrundtief melancholischen, geglückten Werk.
Zugänge zu Trakl
I
Immer der Salzach entlang, auch in Innsbruck, noch in Wien, selbst in Berlin, zuletzt gar in Krakau im ersten Kriegsherbst, immer entlang diesem milchigen Grün, in das er blutige Kloaken münden sah, diese schaumgekrönten Wasserwirbel um Kalksteine, die Totenschädeln gleichen können. Wen wundert, von ihm, Georg Trakl, ein Gedicht dieses Titels (»Entlang«: »Astern von dunklen Zäunen / Bring dem weißen Kind«) zu finden?
Hat er zuletzt den Hohen Markt, den Wáwel gesehen, den Krönungshügel in Krakau? Hat er ihn als einen reduzierten Mönchs- oder Kapuzinerberg wahrgenommen oder alle Berge als Golgatha? Zuweilen sehr unsicher, was er mit seinem Leben anfangen sollte, bewarb er sich für den Kolonialdienst auf Borneo; nach Albanien wollte er, aber am Ende blieb es bei dem, was er als Schüler getan hatte: Damals hatte er sich die Welt, Briefmarken sammelnd, erschlossen.
Immer war Salzburg, die Hölle des Schönen, wo noch die schärfste Dissonanz es sich erlauben kann, Wohlklang zu simulieren. Immer hörte er es, das schweigende Singen der Putten, die Stimmen der Steine. Und Trakl führte, dichtend, Satan in Versuchung, indem er die Sünde heiligte im Gedicht. Als Protestant gab es für ihn keine Beichte; ausgesetzt blieb er in den Abgründen dessen, was ihm selbst sündhaft vorkam. Aber es gab das Wort, das alles zu leisten hatte und unter seiner Hand nahezu alles leistete. Der Wortschatz war sein einziger wirklicher Besitz. Er blieb überschaubar und zeugt doch von wirklichem Reichtum. Dieser bestand aus sprachlichen Kondensaten, sorgfältig geschliffen, aber auch aus Auflösungen, Mischungsverhältnissen, vokalischen Farbstoffen, Traumwucherungen. Trieb er Unzucht mit der Phantasie?
II
Und Trakl sah wieder Zäune. Im Traum und hier im Geschäft des Vaters, reihenweise Zäune aus Metall, von unterschiedlicher Maschendichte, geschichtet, gut ein Klafter tief, unübersteigbar, und im kleinen Georg warfen sie vermutlich die Frage auf, wer denn wohl so viele Zäune brauche. Hatte nicht schon jeder Vor- oder Hintergarten, der Trakl’sche zum Beispiel, wo er mit den Geschwistern spielte, oft auch allein oder nur mit Schwester Grete, Zäune genug? Zäune, über die er später – im Gedicht – Sonnenblumen sich neigen sehen wird; Zäune, die er entlangging, die sich aber bald zu unübersteigbaren Mauern verdichten sollten.
Bis auf die letzten Jahre vor seinem Tod gingen die Geschäfte des Vaters gut; seinen Laufburschen und Gesellen gabe er diskret Anweisungen, anscheinend ohne ein lautes Wort. Da ging es bei den Handwerkern der Stadt anders zu. Ohrfeigen schallten, die Meister fauchten die Lehrlinge an, fluchten. Ihr père, Maître Trakèl, erklärte die elsässische Gouvernante, sei eben ein Geschäfts- und Ehrenmann, ein entrepreneur. Oui, vraiement.
So könnte eine Annäherung an Georg Trakl beginnen oder vielleicht mit einem fiktiven Brief an die Mutter, die unnahbare besessene Sammlerin von Antiquitäten, die mehr und mehr Zimmer in der großzügig bemessenen, für Altstadtverhältnisse ausgesprochen lichten Wohnung für sich und ihre Sammlungen beanspruchte. Mutter, warum leidest du an solcher Sammelwut? Warum redest du mit deinen Dingen, wir hören es oft durch die verschlossenen Türen zu deiner Kemenate, aber kaum mit uns Kindern?
Man könnte sie nicht die Traklin nennen, das wäre zu familiär;...