Die Deutung der Tristan-Figur als homo ludens ist nicht neu, ebenso wenig wie Tristans Charakterisierung als Künstler: Petrus W. Tax [1] bezeichnet Tristan als „höfischen homo ludens“ im Sinne des listig-schlauen Höflings, der „unritterlich, heimtückisch, ja fast meuchelmörderisch ... zu Werke geht“ und den Gottfried „ausdrücklich als durchaus unritterlichen Helden hinzustellen bemüht ist.“ Rainer Gruenter sieht die ästhetische Seite der höfischen Intrige: „Intrige ist List als Kunst“. [2]
Dagegen bezeichnen Wolfgang Mohr und W.T.H. Jackson Tristan unter jeweils anderer Akzentuierung als „Künstler“: Für Mohr[3] ist Tristan Künstler im Sinne des in verschiedenen Bereichen Kunstprodukte Schaffenden. Solches Künstlertum findet seinen Ausdruck nur im Kunstwerk, in dem allein es sich objektiviert und wirklich ist. Zu diesen „Werken“ gehört für Mohr in einem übertragenen Sinn auch Isolde, „dies Urbild der Schönheit und der Bildung, das seiner Künstlernatur wie kein anderes Wesen entspricht, das er selbst nach seinem eigenen Bilde geformt und zu sich herangebildet hat, ...“.[4] Aber obwohl Mohr Tristans „Künstlertum“ mit seinem „Liebendentum“ gleichsetzt, [5] bezieht er die Liebe als Vollzug nicht in das Künstlertum ein, sondern definiert dieses nur von seiner Objektivation im Kunstprodukt her. Daher ist es folgerichtig, wenn Mohr über das Verhältnis Gottfrieds zu seiner Vorlage von Thomas, der den Bereich des Kunstschaffens auch auf die bildenden Künste ausdehnt (gemeint ist der Bildersaal bei Thomas), schreibt: „Bei Thomas wird Tristans Künstlertum in weit ausschließlicherer Weise als bei Gottfried zum Sinnbild seines ganzen Wesens.“[6] Umgekehrt stellt sich das diesbezügliche Verhältnis zwischen den beiden Dichtern dar, wenn Kunst nicht nur Sinnbild von Tristans Wesen, sondern dessen Wirklichkeit selbst ist, d.h. wenn das Kunstwerk nicht nur in einer Objektivation, in einem Kunstprodukt besteht, sondern die Existenz des Künstlers selbst ausmacht, so, wie es nur möglich ist im Spiel, und zwar in allen Lebensvollzügen, in einem allumfassenden Spiel, in dem kein Objekt geschaffen wird, sondern dessen Vollzug die Selbstdarstellung des Spielenden ist.
Die spielerischste aller Künste aber ist die Musik, weil sie wirklich ist nur im Akt des Musizierens, so dass der Künstler im Kunstvollzug aufgeht und in ihm selbst zur Darstellung gelangt, wogegen der bildende Künstler sich in seinem Produkt objektiviert und dabei selbst aus dem Prozess des Kunstschaffens ausscheidet.[7]
Dass dem bildhauerischen Kunstschaffen Tristans bei Thomas tatsächlich ein Kunstschaffen im Medium der Musik bei Gottfried entspricht, wird das Kapitel über den edelen leich Tristanden zeigen.
Die zentrale Bedeutung der Musik für Gottfrieds Kunstverständnis wird in der Literatur allenthalben hervorgehoben. Louise Gnaedinger zeigt, dass die höchste Instanz für Gottfrieds Kunstschaffen, der Gott Apoll, selbst „im Gewand des tönenden Logos“ erscheine.[8]
Auch Peter Jürgensen beschäftigt sich in seiner Dissertation mit Gottfrieds Musikverständnis im Kontext mittelalterlicher Theologie und bezeichnet die Kunst des niuwen spilmann(s) als eine mit dem höfischen Roman und dem Minnesang unvergleichbare antitypische Erfüllung der höfischen Musik.[9]
W.T.H. Jackson sieht die Bedeutung der Musik für Tristans Künstlertum darin, dass sie ihm Instrument der consonantia der „höhergesinnten“ Herzen ist: „Die Musik bewirkt charakterliche und seelische Harmonie“.[10] Tristans Künstlertum unterscheidet ihn von den Helden des höfischen Romans und den Gestalten der höfischen Gesellschaft: „Er ist weit mehr als ein Spielmann, weit mehr als ein homo ludens, wenn er auch viele von deren Wesenszügen aufweist. Die Liebe von Tristan und Isolde beruht auf einer Harmonie, die man durch die Künste erreicht; ...“[11] Jackson grenzt also ausdrücklich Künstlertum und Spiel gegeneinander ab.
Die genannten Autoren betrachten Musik bzw. Kunst und Spiel jeweils als zwar bedeutende, aber nur partikulare Phänomene der Tristangeschichte.
In dieser Arbeit geht es stattdessen darum, dass Tristan als Künstler spielt, was besagt, dass er sich selbst als Spielenden hervorbringt, indem das Spiel zu seiner Wesensbestimmung gehört im Sinne der Ästhetik Schillers[12], der Theologie Hugo Rahners[13] oder der Kulturanthropologie Huizingas[14].
Für den Menschen als homo ludens im Sinne einer Wesensbestimmung ist Spielen nicht eine Beschäftigung unter anderen, sondern es ist die Art, wie er sich selbst zu dem macht, der er ist. Und da Tristans Bestimmung die Liebe ist, gehören Kunst, Spiel und Minne in einen gleichursprünglichen Strukturzusammenhang.
Hier stellt sich die Frage nach einem Begriff von dem, was mit „Spiel“ gemeint ist.
Während Antike und Mittelalter in anschaulichen Wendungen oder bildlichen Darstellungen eine Vorstellung vom spielenden Logos, vom spielenden Gottkind oder von der vor Gott spielenden Weisheit haben bzw. im Satyrspiel der Tragödie oder im Kulttanz in mimetischer Praxis Kultspiele begehen, haben sie keine explizite Spieltheorie und also auch keinen Begriff vom Spiel entwickelt. In neuzeitlichen Spieltheorien dagegen wird der Begriff zur Beschreibung und Deutung menschlicher, kosmischer, kultischer usw. Phänomene benutzt auf der Basis eines Vorbegriffs, zu dem bestimmte Strukturmerkmale gehören, auf die hier zurückgegriffen werden muss, bis das, was „Spiel“ für die Tristanhandlung bedeutet, an dieser selbst aufgezeigt worden ist.
Der Grundzug des Spiels, aus dem sich alle seine Charakteristika ableiten lassen, ist der einer in sich geschlossenen, weil sich aus eigenen Gesetzen, den Spielregeln, konstituierenden Welt.[15]
Daraus folgt einmal die unbedingte Verbindlichkeit dieser Gesetze, denn ihr Übertreten bedeutet die Zerstörung des Spiels. Andererseits macht gerade diese Eigengesetzlichkeit die dem Spiel eigentümliche Freiheit aus: Losgelöst aus einem es umgreifenden Kausalzusammenhang unterliegt das Spiel keinem Zweck außerhalb seiner und bedarf es zu seiner Eröffnung eines Aktes der Spontaneität, der freien Bindung an seine Regeln, deren Mechanismus sich der Spielende unterwirft.
Der dem Spiel immanente „Zweck“, sein „Sinn“, [16] ist die souveräne Beherrschung seiner Regeln, d.h. sofern das Spiel keinen Zweck außer sich hat, geht es um die Erprobung der Spielfertigkeit der Spielenden im Rahmen der Immanenz seiner Eigengesetzlichkeit. D.h. das Spiel als gespieltes ist Selbstdarstellung der Spielenden in ihrer Entäußerung an den es konstituierenden Regelmechanismus und hat insofern den Zug des Ästhetischen.
Bei dieser Selbstdarstellung kann es im Wettkampf auch darum gehen, der „Bessere“ zu sein, d.h. zu siegen, ohne dass der mit dem Sieg verbundene Lohn zum eigentlichen Zweck des Spiels gehört. Auch ein Kampf auf Leben und Tod kann den Charakter des Spiels haben, wenn diese Bedingung zu seiner Regel gehört (vgl. Tristans Kampf mit Morold). Insofern ist „Spiel“ nicht dem „Ernst“ entgegengesetzt[17]; es bezeichnet nicht den Wert, sondern die Struktur einer Handlung.
Daran, dass zum Spiel, wie Huizinga ausführt, immer auch „Vermummung,“ „Verkleidung“ und „Maske“ gehören[18], wird deutlich, dass die „eigene Welt“ des Spiels den Charakter einer spezifischen „Unwirklichkeit“, den des Scheins hat; es eröffnet den Bereich des „als ob“, worin zugleich angelegt ist die Potenz zur Täuschung.[19] Das „falsche“ Spiel instrumentalisiert den Mitspieler zum Spielmittel, folgt einer Regel, die diesem nicht bekannt ist, wird zum Spiel mit dem Spiel – so wie z.B. Tristans Spiel mit der höfischen Gesellschaft. Aufgrund dieser Scheinhaftigkeit kann das Spiel in einen Widerspruch zu sich selbst geraten, entstehen Umbrüche und Friktionen, denen der Spieler selbst erliegt, sofern „sein“ Spiel sich von ihm löst und sich selber zu spielen beginnt.
So wie der Beginn des Spiels auf einer freien Setzung beruht, die während des Spielverlaufs unverfügbar ist, bleibt auch sein „Ausgang“ unbestimmt, offen. Daher ist das „Eingehen“ eines Spiels immer auch ein Wagnis, ein „Aufs-Spiel-Setzen“, ein Risiko. Eben weil das Spiel nicht der Zweckrationalität der Realität der „gewöhnlichen Welt“ unterliegt, lässt der Spielende sich ein, tritt er ein in jene „andere Welt“, ohne vorherbestimmen zu können, wie der „Ausgang“ ist und ohne absehen zu können, welche Wendungen sein Spiel in der Begegnung von Schein und Wirklichkeit nimmt.
Indem Tristan sich von frühester Jugend an immer wieder in Situationen vorfindet, in denen er das ihn Bestimmende in seinen Willen aufnimmt, entspricht sein Handeln der aufgezeigten Struktur des Spiels und folgt zugleich dem Autonomieprinzip.[20] Der Widerspruch zwischen freier Setzung und Entäußerung an den Regelmechanismus des Spiels wird dort wirksam, wo die Motive Tristans sich nicht auf der Ebene der Zweckrationalität der äußeren Handlung erklären lassen, wo er...