2 ARTIKULATORISCHE PHONETIK
Gegenstand der artikulatorischen Phonetik sind die beim Sprecher ablaufenden Vorgänge der Sprachlautproduktion. Diese lassen sich in drei Teilprozesse gliedern:
a) | Bildung des zur Lauterzeugung benötigten Luftstroms (Initiation), |
b) | Stimmgebung (Phonation), |
c) | Modifikation des Luftstroms zur differenzierten Lautbildung (Artikulation). |
Diese Teilprozesse der Sprachlautproduktion dürfen jedoch nicht als voneinander unabhängige, hintereinander ablaufende Vorgänge betrachtet werden. Sie erfordern vielmehr das gleichzeitige, genau aufeinander abgestimmte Zusammenspiel sämtlicher Sprechwerkzeuge. Daher werden oft auch alle drei Teilprozesse der Sprachlautbildung unter dem Begriff Artikulation zusammengefasst.
Sämtliche an der Sprachproduktion beteiligten Strukturen sind primär für andere, vitale Grundfunktionen ausgelegt. Die Lungen dienen dem zur Aufrechterhaltung des Stoffwechsels notwendigen Gasaustausch im Blut, der Kehlkopf schützt mit seinem reflektorischen Verschluss die unteren Atemwege vor dem Eindringen von Fremdkörpern, Nasen-, Mund- und Rachenraum bilden die oberen Atemwege und der Mund mit Lippen, Zunge und Zähnen ermöglicht die Aufnahme und Zerkleinerung von Nahrung.
Die Hervorbringung von Lautsprache hingegen ist eine zwar äußerst ökonomische, aber sekundäre Funktion derselben Strukturen. Daher ist auch der Ausdruck Sprechorgane, mit dem häufig alle an der Sprachproduktion beteiligten anatomischen Strukturen zusammengefasst werden, nicht ganz korrekt: Der Mensch besitzt von Natur aus keine zum Sprechen bestimmten Organe, er bedient sich für diese Sekundärfunktion lediglich bereits vorhandener, im Lauf der phylo- und ontogenetischen Entwicklung angepasster Strukturen1.
2.1 Initiation
Unter Initiation versteht man in phonetischer Hinsicht die Bildung eines zur Lauterzeugung benötigten Luftstroms.
In der Regel handelt es sich dabei um die aus der Lunge kommende Ausatmungsluft, die zur Sprachlautproduktion genutzt wird. Im Folgenden werden daher kurz der Aufbau und die Funktion des Atemapparates (2.1.1) sowie die phonetisch relevanten Aspekte der Atmung (2.1.2) dargestellt, ehe abschließend die übrigen Initiationsarten (2.1.3) und Störungen der Initiation (2.1.4) skizziert werden.
2.1.1 Atemapparat
Als Atmungsorgan fungieren die paarig angelegten Lungen (Pulmones), die in den Brustkorb (der Thorax) eingebettet sind. Das knöcherne Gerüst des Brustkorbs wird von den zwölf Brustwirbeln, von ebenso vielen Rippenpaaren und vom Brustbein gebildet. Die einzelnen Rippenbögen sind miteinander durch die Zwischenrippenmuskeln (Interkostalmuskeln) verbunden. Die Unterseite des Brustraums wird durch eine kuppelförmig nach oben gewölbte Muskelplatte, das Zwerchfell (das Diaphragma), gegen den Bauchraum abgegrenzt.
Atemapparat
Thorax, m.
Pulmones, m.pl.
Diaphragma, n.
Musculi intercostales, m.pl.
Alveoli, m.pl.
Trachea, f.
Larynx, m.
(Oesophagus, m.)
Der Weg der Atemluft führt von außen durch den Kehlkopf (der Larynx) zunächst in die Luftröhre (die Trachea), die aus hufeisenförmigen, nach hinten zur angrenzenden Speiseröhre (der Oesophagus) hin offenen Knorpelspangen gebildet wird (Luftröhre und Speiseröhre sind nur durch eine Membran voneinander getrennt). Von der Luftröhre strömt die Atemluft dann in die zu den beiden Lungenflügeln führenden Bronchien sowie in deren baumartige Verästelungen (Bronchialbaum) und gelangt schließlich zu den zahlreichen (rd. eine Million) kleinen Lungenbläschen (Alveolen), aus denen das elastische Lungengewebe hauptsächlich besteht.
Bei der Einatmung (Inspiration) führt die Kontraktion des Zwerchfells zu dessen Absenkung und die Kontraktion der externen Interkostalmuskeln zur Anhebung und Erweiterung des Brustkorbs. Beides zusammen bewirkt eine Vergrößerung des Brustraums und damit eine Ausdehnung der elastischen Lungen. Dadurch entsteht im Innern der Lungen ein Unterdruck gegenüber dem atmosphärischen Luftdruck, was wiederum ein (passives) Einströmen der Atemluft in die Lungen zur Folge hat.
Bei der Ausatmung (Exspiration) entspannen sich Zwerchfell und externe Interkostalmuskeln, sodass sich der Brustraum wieder verkleinert, was zu einem Überdruck in der Lunge führt. Dieser wird durch Herausdrücken der verbrauchten Atemluft abgebaut. Der dadurch entstehende pulmonal- egressive Luftstrom ist der häufigste (in den europäischen Sprachen der einzige), der zur Lautbildung verwendet wird. Es handelt sich dabei also um die ökonomische Nutzung bereits „verbrauchter“ Ausatmungsluft (daher auch: exspiratorischer Luftstrom).
Abb. 2-1: Luftwege (links) und Atmung (rechts): Einatmung (Inspiration) erfolgt durch Senkung des Zwerchfells (untere, strichlierte Linie) und Hebung der Rippenbögen.
2.1.2 Sprechatmung - Höratmung
Unter Sprech- oder Stimmatmung (Phonationsatmung) versteht man die zur lautsprachlichen Kommunikation erforderliche Atemform, die durch spezifische Abweichungen von der Ruheatmung charakterisiert ist.
Bei der Ruheatmung sind Inspirations- und Exspirationsphase annähernd gleich lang (Verhältnis etwa 1:1,2) und der Ausatmungsvorgang beruht vorwiegend auf dem Erschlaffen der thorakalen Eigenmuskulatur, worauf der Brustkorb durch die elastischen Rückstellkräfte passiv in die Atemruhelage zurückkehrt.
Bei der Phonationsatmung hingegen dauert die Exspirationsphase wesentlich länger als die Inspirationsphase (Verhältnis etwa 4:1). Dies wird erreicht einerseits durch eine tiefere Einatmung, andererseits durch eine bewusste Abschwächung der Ausatmung (d.h. durch geringere, langsamere Entspannung der Einatmungsmuskeln, die damit gewissermaßen als „Bremse“ gegen das zu rasche Ausströmen der Atemluft wirken). Überdies wird das Ausatmen bis unter die Atemruhelage (vgl. die strichlierte Linie in Abb. 2-2) fortgesetzt.
Im Gegensatz zur passiven Exspiration bei der Ruheatmung wird also bei der Phonationsatmung der zum Sprechen nötige pulmonal-egressive Luftstrom durch einen aktiven Exspirationsvorgang verlängert. In Abb. 2-2 sind die Veränderungen des Atemvolumens und die Aktivitäten der thorakalen Eigenmuskeln vor, während und nach einer sprachlichen Äußerung dargestellt.
Erläuterungen zu Abb. 2-2
Das Diagramm des Atemvolumens zeigt nach einer Ruheatmungskurve eine Kurve der Phonationsatmung. Während der 20 Sekunden dauernden sprachlichen Äußerung (schwarzer Balken ganz oben) wird die Exspirationsphase bis unter die Atemruhelage (strichlierte Linie) fortgesetzt, um dann wieder in die Ruheatmung überzugehen. Die Kontraktion des Zwerchfells (schwarze Blöcke) erfolgt jeweils in den Inspirationsphasen (ansteigende Atemvolumskurve). Die externen Zwischenrippenmuskeln sind ebenfalls während der Einatmung aktiv und bei der Phonationsatmung zusätzlich (als „Bremse“) während des ersten Teils der Exspirationsphase. Die Aktivität der internen Zwischenrippenmuskeln unterstützt schließlich den zweiten Teil der phonatorischen Ausatmung bis unter die Atemruhelage.
Abb. 2-2: Atemvolumen und Muskelaktivität während einer sprachlichen Äußerung (schwarzer Balken ganz oben).
Bei der Höratmung handelt es sich um einen besonders hinsichtlich des Dauerverhältnisses von Ein- und Ausatmungsphase modifizierten Atmungsablauf. Dabei gleicht sich die ursprüngliche Ruheatmung eines Hörers beim aufmerksamen Anhören gesprochener Texte unbewusst jenem Atmungsrhythmus an, der der Phonationsatmung des Sprechers dieser Texte entspricht.
2.1.3 Luftstrommechanismen
2.1.3.1 Der pulmonal-egressive (exspiratorische) Luftstrom wird – wie bereits erwähnt – am häufigsten zur Lautbildung verwendet. Es ist zwar prinzipiell möglich, auch mit einströmender Atemluft, also mit pulmonal-ingressivem (inspiratorischen) Luftstrom, Laute zu produzieren, doch werden solche Laute bzw. Lautfolgen nur paralinguistisch (d.h. ohne verbale Kommuni – kationsfunktion) verwendet, wie etwa ein inspiratorisches [f?] bei einer Schmerzempfindung. Ferner lassen sich inspiratorische Äußerungen beispielsweise beim Aufsagen von Zahlenreihen (Addieren) oder bei einem resignierenden „ja, dann …“ beobachten.
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