Zweites Buch.
Ueber die Tugenden
1. Da das Böse hienieden ist und um diesen Ort wandelt mit Nothwendigkeit, die Seele aber das Böse fliehen will, so fliehe man von hier. Welches ist nun die Flucht? Gott ähnlich werden, sagt Plato. Dies geschieht, wenn wir gerecht und heilig mit Einsicht werden und überhaupt tugendhaft. Wenn wir nun durch Tugend ähnlich werden, werden wir es dem, der Tugend hat? Und ferner, welchem Gott? Etwa dem, der dies in höherem Grade zu haben scheint, und so denn der Weltseele und dem Lenker in ihr, ihm dem wunderbare Einsicht zukommt? Denn es ist ganz in der Ordnung, dass wir, die wir hier unten sind, diesem ähnlich werden. Indessen ist es erstlich zweifelhaft, ob auch diesem alle Tugenden zu Gebote stehen, z.B. ob er besonnen oder tapfer sei, er dem weder etwas furchtbar ist (denn nichts ist ausserhalb) noch etwas Angenehmes sich naht, nach dem als einem Mangel Begierde entstehen könnte, um es zu haben oder zu erlangen. Strebt aber auch er nach dem Intelligiblen, wonach unsere Seelen streben, so ist klar, dass auch für uns von dorther die Ordnung und die Tugenden kommen. Also hat nun wohl jener diese? Doch will es nicht recht einleuchten, dass er die sogenannten bürgerlichen Tugenden habe: Einsicht auf dem Gebiete des Denkvermögens, Tapferkeit auf dem des Zornvermögens, Besonnenheit in einer gewissen Gleichmässigkeit und Uebereinstimmung des Begehrungs- und Denkvermögens, Gerechtigkeit als die eigenthümliche Thätigkeit eines jeden von diesen zusammen in Bezug auf herrschen und beherrscht werden. Werden wir nun etwa nicht in den bürgerlichen Tugenden ähnlich, sondern in jenen grössern, die denselben Namen tragen? Und wenn in andern, in den bürgerlichen ganz und gar nicht? Nein es ist ungereimt, dass man in diesen ganz und gar nicht ähnlich werde – wenigstens nennt der gewöhnliche Sprachgebrauch diese Leute selbst göttlich, und man muss sagen, dass sie gewissermassen ähnlich geworden – wohl aber in den grössern die eigentliche Verähnlichung geschehe. Allein in beiden Fällen ergiebt sich ja, dass man Tugenden habe, wenn auch nicht gerade solche. Wenn nun jemand einräumt, dass man ihm ähnlich werden könne, so hindert nichts, dass wir in einem andern Zustande, wenn wir uns in Bezug auf andere und nicht die bürgerlichen Tugenden verähnlicht haben, durch unsere eigenen Tugenden ähnlich werden dem der keine Tugend besitzt. Und wie? So: selbst nicht, wenn etwas durch Vorhandensein von Wärme erwärmt wird, braucht nothwendig das, woher die Wärme gekommen, erwärmt zu werden: ebensowenig, wenn etwas durch Vorhandensein von Feuer warm ist, das Feuer selbst durch Vorhandensein von Feuer. Indessen könnte jemand gegen ersteres einwenden, dass auch im Feuer Wärme sei, aber eine mit dessen Natur verwachsene, so dass, nach der Analogie zu schliessen, die Tugend für die Seele etwas Hinzugekommenes sei, für jenes dagegen, woher sie sie nachahmend erhält, etwas mit seiner Natur Verwachsenes; gegen den vom Feuer entlehnten Beweis aber, dass jener Tugend sei, während wir behaupten, dass er grösser sei als die Tugend. Allein wenn das, dessen die Seele theilhaftig wird, identisch wäre mit dem, von dem sie es erhält, müsste man sich so ausdrücken; nun aber ist jenes ein anderes und dieses ein anderes. Es ist ja auch das sinnlich wahrnehmbare Haus nicht identisch mit dem in der Idee, und doch ist es ihm ähnlich; ja selbst der Ordnung und Regelmässigkeit wird das sinnlich wahrnehmbare Haus theilhaftig und dort im Begriffe ist nicht Ordnung noch Regelmässigkeit noch Ebenmass. Ebenso in unserm Falle: wenn wir der Regelmässigkeit, Ordnung und Uebereinstimmung dorther theilhaftig werden und diese Dinge der Tugend hier unten zugehören, während jene nicht der Uebereinstimmung noch Regelmässigkeit noch Ordnung bedürfen, so haben sie auch die Tugend nicht nöthig und wir sind nichtsdestoweniger dem Dortigen durch das Vorhandensein der Tugend ähnlich geworden. – Dies um darzuthun, dass nicht nothwendig auch dort Tugend zu sein brauche. Doch müssen wir der Darlegung auch noch Ueberredung verleihen und nicht bloss bei der zwingenden Kraft des Beweises stehen bleiben.
2. Zuerst also sind die Tugenden vorzunehmen, in denen wir behaupten ähnlich zu werden, um als identisch zu befinden was bei uns Tugend ist als eine Nachahmung, dort hingegen gleichsam als Urbild nicht Tugend ist, nachdem wir nur noch bemerkt, dass das Aehnlichwerden ein zwiefaches ist. Das eine nämlich fordert in dem Aehnlichen ein und dasselbe, was gleicherweise nach einem und demselben ähnlich gemacht ist; wo aber das eine einem andern ähnlich geworden, das andere aber das erste ist, welches zu jenem in keinem Wechselverhältniss steht und ihm nicht ähnlich genannt wird, da muss man das Aehnlichwerden auf andere Weise nehmen, indem man nicht dieselbe Art verlangt sondern vielmehr eine andere, eben weil sie nach jener andern Weise ähnlich geworden sind. – Was ist nun eigentlich die Tugend, die ganze sowohl als jede einzelne? Deutlicher wird die Untersuchung werden, wenn wir von der einzelnen ausgehen. Denn so wird auch leicht klar werden, was das Gemeinsame ist, demgemäss sie alle Tugenden sind. Die bürgerlichen Tugenden nun, von denen wir oben irgendwo gesprochen, schmücken in der That und machen uns besser, indem sie die Begierden, überhaupt die Leidenschaften begrenzen und massigen und die falschen Meinungen beseitigen durch das schlechthin Bessere und das Begrenztsein und dadurch dass das Gemessene und Maassvolle sich ausserhalb des Maasslosen und Unbegrenzten befindet; und selbst begrenzt, wenigstens in soweit sie in der Materie für die Seele Maasse sind, sind sie ähnlich dem Maasse dort und haben eine Spur des Besten dort. Denn das ganz Maasslose ist, als Materie, ganz unähnlich; in dem Maasse dagegen als es Form bekommt wird es jenem ähnlich, das formlos ist. In höherem Grade aber wird das Näherstehende derselben theilhaftig; die Seele aber steht ihm näher als der Körper und ist insofern verwandter, wird also ihrer mehr theilhaftig. Daher giebt sie zu Täuschungen Veranlassung, indem sie als Gott vorgestellt wird, als ob dieses All Eigenschaften Gottes wären. So also steht es mit der Verähnlichung dieser.
3. Allein da er eine andere Verähnlichung andeutet, ein Werk jener höheren Tugend, so müssen wir von jener sprechen. Dabei wird es auch noch weit deutlicher werden, welches das Wesen der bürgerlichen Tugend und welche die dem Wesen nach höhere ist, und überhaupt dass es ausser der bürgerlichen noch eine andere giebt. Wenn also Plato sagt, dass das Gottähnlichwerden in einer Flucht von dem Irdischen bestehe und wenn er den Tugenden im Staate nicht ohne weiteres dieses Prädicat giebt, sondern hinzusetzt ›die bürgerlichen‹, wenn er anderswo alle ohne Ausnahme Reinigungen nennt, so ist klar, dass er zweierlei Tugenden annimmt und das Aehnlichwerden nicht in die bürgerliche setzt. Wie kommen wir nun dazu, diese ›Reinigungen‹ zu nennen, und wie werden wir gerade durch unser Gereinigtsein am meisten ähnlich? Nun, weil die Seele böse ist, wenn sie mit dem Körper vermengt und gleichen Affectionen unterworfen ist und überall seinem Wähnen sich anschliesst, so würde sie gut sein und Tugend haben, wenn sie weder seinen Irrwahn theilte sondern allein wirkte – das heisst denken und verständig sein, noch gleichen Affectionen unterworfen wäre – das heisst besonnen sein, noch sich vor der Trennung vom Körper fürchtete – das heisst tapfer sein, sondern Verstand und Vernunft in ihr herrschten und das andere nicht widerstrebte – das wäre Gerechtigkeit. Wenn also jemand einen solchen Zustand der Seele, in dem sie geistige Thätigkeit übt und solchergestalt frei ist von Affectionen, Aehnlichwerden mit Gott nennte, so dürfte er das Rechte treffen; denn rein ist auch das Göttliche und seine Wirksamkeit von der Art, dass das Nachahmende verständige Einsicht erhält. Wie nun? Ist nicht auch jenes so beschaffen? Es ist überhaupt garnicht beschaffen, sondern die Beschaffenheit gehört der Seele an. Auch denkt die Seele auf eine andere Weise; von den Wesen dort hingegen das eine auf eine verschiedene Weise, das andere überhaupt nicht. Ist nun wiederum das ›Denken‹ homonym? Keineswegs; sondern das eine denkt auf ursprüngliche, das von ihm Abgeleitete auf andere Weise. Denn wie der ausgesprochene Begriff ein Nachbild des in der Seele befindlichen ist, so auch der in der Seele ein Nachbild des in einem andern befindlichen. Wie nun der im discursiven Denken herausgesetzte Begriff zu dem in der Seele sich verhält, so auch der in der Seele, als Dolmetscher jenes, zu dem höheren vor ihm. Die Tugend also ist Sache der Seele; dem Geist kommt sie nicht zu, auch nicht dem jenseits Liegenden.
4. Es fragt sich aber, ob die Reinigung identisch ist mit solcher Tugend, oder ob die Reinigung vorangeht, die Tugend dagegen nachfolgt; desgleichen ob die Tugend in dem Reinwerden oder in dem Reinsein besteht. Zum mindesten ist die in dem Gereinigtwerden weniger vollendet als die im Gereinigtsein, denn das Reinsein ist gleichsam schon das Ende. Allein das Reinsein ist eine Entfernung alles Fremdartigen, das Gute aber ist etwas anderes als dieses. Nun wird, wenn vor der Reinigung das Gute schon da war, die Reinigung genügen, aber das Zurückbleibende wird das Gute sein, nicht die Reinigung. Und was ist das Zurückbleibende? Das ist die Frage. Denn vielleicht war die zurückbleibende Natur garnicht einmal das Gute: sonst wäre sie nicht in das Böse gerathen. Sollen wir sie nun etwa gutartig nennen? Nicht hinreichend nämlich befähigt im wesentlich Guten zu verharren; denn von Natur eignet sie sich für beides. Das Gute an ihr also besteht in dem Zusammensein mit dem ihr...