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E-Book

Geschwister

Die längste Beziehung des Lebens

AutorSusann Sitzler
VerlagKlett-Cotta
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl352 Seiten
ISBN9783608107326
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Geschwister prägen unser Leben viel mehr, als uns bewusst ist. Welche Facetten unseres Ichs wir kultivieren, wie wir uns in der Gesellschaft positionieren, welche Partner uns gefallen - unsere gesamte Identität hängt auch mit unseren Geschwistern zusammen. Mit Geschwistern lernen wir nicht das Teilen. Nein, wir lernen das Verhandeln und die Grenzen unserer Macht zu akzeptieren. Mit Geschwistern erfahren wir das erste Mal, was Gerechtigkeit bedeutet. Nicht durch unseren Edelmut, sondern durch den wütenden Zorn in uns, wenn wir uns übervorteilt fühlen.   Im sozialen Trainingscamp der Familie lernen wir auch unsere Rollen einzunehmen und fast nichts kann uns davor schützen, auch als Erwachsener wieder der große Bruder zu sein, der alle Schläge abfängt, oder die kleine Schwester, der niemand etwas zutraut.   Die Vielfalt der hier versammelten Geschwistergeschichten, ergänzt um die Erkenntnisse der Geschwisterforschung, macht es leicht, sich selbst tiefer zu verstehen, gleich ob man mit oder ohne Geschwister aufgewachsen ist.

Susann Sitzler wurde 1970 in Basel geboren und lebt als Journalistin und Buchautorin in Berlin; sie verfasste Reportagen, Porträts und Rundfunkfeatures etwa für Die Zeit, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Merian und Deutschlandradio Kultur; zahlreiche Buchveröffentlichungen, zuletzt bei Klett-Cotta erschienen: »Freundinnen. Was Frauen einander bedeuten« und »Geschwister. Die längste Beziehung des Lebens«.

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Leseprobe

Arthur


Heute vor drei Jahren ist mein Bruder Arthur gestorben. Er ist eine Treppe hinuntergefallen und hat sich dabei den Schädel gebrochen. Ich erfuhr es an einem Samstagmorgen. Als die SMS kam mit der Bitte um Rückruf, ahnte ich gleich, dass etwas Schlimmes passiert war. In der Nacht hatte ich geträumt, dass ein Freund von mir ums Leben kam.

Als Arthur mein Bruder wurde, war ich acht und er elf Jahre alt. Davor besuchten seine Eltern meine manchmal zum Essen und umgekehrt, und wir spielten zusammen. Aber daran erinnere ich mich kaum. Dann zog mein Vater mit einer anderen Frau in eine andere Stadt. Nicht viel später verließ Arthurs Mutter in einer verschneiten Winternacht nach einem Streit ein Ferienhaus in den Bergen und kam nicht wieder. Erst im Frühjahr darauf fand man sie in einer Schlucht.

Nach etwas mehr als einem Jahr zog meine Mutter zu Arthurs Vater nach Ringen. Auch für mich wurde Platz gemacht. Ich bekam das Gästezimmer. Die beiden waren der Ansicht, dass diese Lösung für alle die beste sei. Meine Mutter könnte im Haus nach dem Rechten sehen und sich um Arthur und seinen Bruder Gregor kümmern, während der Vater arbeitete. Ich könnte mit den Jungen spielen und ihr im Haus zur Hand gehen. Damit wir uns aneinander gewöhnten, trafen wir uns vorher eine Weile fast jedes Wochenende zu Ausflügen und Wanderungen. Wenn wir danach in einem Restaurant einkehrten, durften wir Kinder essen, was wir mochten, und so oft Getränke nachbestellen, wie wir wollten. Arthurs Vater hieß für mich jetzt Berni. Auch die Jungen nannten meine Mutter mit ihrem Vornamen, Lina. Nach dem Essen spielten Arthur, Gregor und ich Detektiv, Disco oder Fangen, und diese Sonntage gingen immer schnell vorbei.

Eines Nachmittags, als ich aus der Schule kam, rief mich meine Mutter dann ins Wohnzimmer und sagte, dass wir in den kommenden Herbstferien nach Ringen ziehen und dass ich nach den Ferien dort zur Schule gehen würde. Damit hatte ich nicht gerechnet. In den Tagen danach weinte ich um meine beste Freundin, die ich in der alten Klasse zurücklassen musste. Dann schwor ich in hilfloser Wut, Berni in Zukunft nur noch »Herr Ballmer« zu nennen wie früher, und ihn wieder zu siezen. Er war mir nie geheuer gewesen.

Unser Name wurde in Ringen nicht an den Briefkasten des Hauses geschrieben. Aber Berni informierte die Briefträgerin, dass sie Post für uns in Zukunft bei ihm einwerfen könne. Am Esstisch wurde ein Platz für mich freigemacht. Die Jungen und ich fügten uns ins Unvermeidliche und stritten nur am Anfang. Nach und nach führte meine Mutter ein paar neue Kochrezepte ein, die kommentarlos akzeptiert wurden.

Das Tischgespräch dominierte meist Arthur, und ich war bald Sekundantin. Wir waren beide schnell mit Worten, und in Arthur fand ich jemanden, der sich für ähnliche Dinge interessierte wie ich: Musik, Tiere, Fernsehen. Gregor nahm immer weniger an den Gesprächen teil, aber das bemerkten wir damals nicht. Die verstorbene Frau wurde nur selten und beiläufig erwähnt. Mein Vater so gut wie nie. Ich glaube, Arthur war froh, dass ich jetzt da war. Mit Gregor hatte er sich nie besonders gut verstanden. Obwohl Gregor jünger war, war er viel größer und schwerer und zwang Arthur immer, sein Bett für ihn zu machen und ihm auch die anderen Haushaltsämtchen abzunehmen. Wenn Arthur sich weigerte, nahm Gregor ihn so lange in den Schwitzkasten, bis er um sein Leben fürchtete.

Nach ungefähr einem Dreivierteljahr lag ich an einem Samstagnachmittag mit Fieber im Bett. Die Erwachsenen waren in der Stadt zum Einkaufen, Arthur und Gregor bei den Pfadfindern. An der Haustür hörte ich Stimmen, und nach einer Weile kam Arthur mit einem Freund in mein Zimmer.

»Wir müssen dir etwas zeigen.«

Sie hielten mir eine gefaltete Zeitungsseite hin. Es war der amtliche Anzeiger von Ringen. Die Abteilung mit den Zivilstandsmeldungen. Arthur deutete auf die Seite mit den Eheschließungen und dort auf eine bestimmte Zeile. Dort stand der Name meiner Mutter neben dem von Arthurs Vater. Mein fiebriger Kopf verstand nicht.

»Die haben heimlich geheiratet«, sagte Arthurs Freund.

Wie konnte das sein? Warum hatten wir das nicht bemerkt? »Was machen wir jetzt?«, fragte ich nach einer Weile.

»Wir sagen erstmal nichts«, sagte Arthur. Er schien darüber schon nachgedacht zu haben. »Wir warten eine Woche ab. Und wenn sie dann nichts gesagt haben, fragen wir sie.« Am Abend wollte Arthur Gregor Bescheid geben.

Eine Woche später, kurz vor dem Abendessen, stellte sich Arthur beiläufig neben seinen Vater. »Kann es sein, dass ihr vergessen habt, uns etwas zu sagen?«

»Nein«, sagte Berni. »Wieso?«

»Wir haben das hier gefunden.« Arthur zog die Zeitungsseite mit der Eheverkündung hervor.

»Ach das«, sagte meine Mutter, die inzwischen aus der Küche gekommen war. »Das wollten wir euch ja sagen. Aber ihr hattet ja nie Zeit.«

Damit hatten wir nicht gerechnet. Arthur und ich waren zwölf und neun Jahre alt, Gregor zehn, und wir kannten noch nicht alle Tricks der Erwachsenen. So sagten wir nichts mehr, sondern setzten uns nur an den Tisch, wo meine Mutter inzwischen die Schüsseln aufgetragen hatte.

Auf diese Weise wurden Arthur, Gregor und ich zu Geschwistern. Wir haben uns einander nicht ausgesucht. Andere haben unser Verhältnis festgelegt, ohne uns zu fragen, ob wir einverstanden sind. Wir wurden vor vollendete Tatsachen gestellt.

Jeder bekommt auf diese Weise seine Geschwister.

Auch in einer herkömmlichen Familie entscheidet ein Kind darüber nicht mit. Über Geschwister bestimmen Vater und Mutter. Kinder haben sich damit abzufinden. Man kann sich nicht einmal aussuchen, ob es ein Bruder oder eine Schwester sein soll. Stattdessen muss man mit diesem Fremden vertraut werden und nebeneinander auskommen, viele Jahre, ein Leben lang.

In diesem Zwang, vielleicht auch in dem Schock, liegt der Kern einer Geschwisterbeziehung. Es ist eine Beziehung, die einem aufgezwungen wird. Aber ausgerechnet in dieser Unausweichlichkeit kann auch ihr Glück liegen.

Die wissenschaftliche Disziplin der Geschwisterforschung gibt es erst seit ungefähr 30 Jahren. Zuvor hat sich die Psychologie vor allem darauf konzentriert, herauszufinden, welche Auswirkung das Verhältnis zu den Eltern auf das eigene Fühlen und Verhalten hat. Inzwischen weiß man, dass Geschwister einen ebenso starken Einfluss auf die Seele eines Menschen haben wie die Eltern. »Während die elterliche Liebe, vor allem die Mutterliebe, in der heutigen Erziehung sehr hoch eingeschätzt wird, besteht in der Realität immer noch die Gefahr der Unterschätzung der geschwisterlichen Liebe«, schreibt der Essener Familientherapeut Hans Goldbrunner. Aber die Wissenschaft ist sich nicht sicher, wie lange dieser Einfluss anhält. Ob er, wie die Beziehung zu den Eltern, ein Leben lang immer wieder eine Rolle spielen kann. Oder ob er nach wenigen Jahren hinter dem Einfluss zurücksteht, den Freunde und andere Bezugspersonen auf einen haben. Das Forschen über Geschwister und ihre Wirkung aufeinander ist auch deshalb so schwierig, weil diese Beziehung mystifiziert werden kann wie nur wenige andere. Geschwister klingt nach Blutsbande und Geschwisterliebe. Nach etwas Archaischem, das tiefer geht als die vielen banalen Begegnungen, die wir jeden Tag haben. Aber in dieser Sichtweise liegt eine Gefahr. Wenn man sich auf den symbolischen Wert dieser Verbindung beschränkt, übersieht man leicht, was Geschwister im Leben tatsächlich bedeuten. Welchen Sinn sie für uns haben können. Und auch, welchen Schaden sie manchmal anrichten. »Die Wirkungen der alten Einflüsse sind oft versteckt. Sie betreffen emotionale Haltungen, elementare Motive und Interessen, deren sich der Betroffene mitunter gar nicht bewusst ist. Sie wirken aber auf sein soziales Verhalten ein, und zwar oft umso nachhaltiger, je weniger sie ihm bewusst sind.« Das schrieb Walter Toman, ein Vorkämpfer der Geschwisterforschung. Sein Buch Familienkonstellationen erschien 1961 und gilt bis heute als eines der Grundlagenwerke dieser Disziplin.

Von Geburt an ist man Sohn von oder Tochter von. Außerdem ist man Bruder von oder Schwester von. Bis dass der Tod euch scheidet. In einem romantischen Verhältnis ist das der Traum. Ausgerechnet bei Geschwistern ist es die Wahrheit. Dabei ist ihre Beziehung genau das Gegenteil einer romantischen Liebesgeschichte. Das Gegenteil von Sehnsucht und Herzklopfen. Die Besonderheit einer Geschwisterbeziehung liegt in ihrer Absichtslosigkeit. Ausgerechnet diese Verbindung lässt sich ein Leben lang nicht lösen. Auch dann nicht, wenn sie nicht funktioniert. Sogar wenn wir keinen Kontakt mehr mit ihnen haben, bleiben diese Menschen unverändert Bruder oder Schwester. Geschwister laufen in unserem Leben mit, ob wir es wollen oder nicht. Sie bleiben Bestandteil unserer Identität. Geschwister leben im Normalfall ungefähr so lange wie wir selbst. Das, was wir mit ihnen erlebt haben, ist an einem Ort der eigenen Psyche eingebrannt, wo man es nie mehr auslöschen kann. »Wir müssen die Beziehungsmuster zwischen Geschwistern besser verstehen«, sagte der Münchner Familienforscher Hartmut Kasten 2006 in einem Interview mit dem Spiegel. »Zuweilen sind sie Ursache krankhafter Gemütszustände.« In der Forschung wird die Geschwisterbeziehung heute als die »in der Regel am längsten währende, unaufkündbare, annähernd egalitäre menschliche Beziehung« bezeichnet. So heißt es in einer Studie, die Psychologen der Uni...

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