1. Zeitliche Kurzsichtigkeit:
Vom Wartenkönnen
Kinder können häufig nicht warten. Sie verspüren den Drang nach sofortiger Wunscherfüllung. Allerdings ist ein Belohnungsaufschub, verbunden mit Wartezeit, langfristig oft nützlicher. Der berühmte Marshmallow-Test hat eindrücklich gezeigt, wie der Umgang mit Wartezeit schulischen und sozialen Erfolg bestimmt. Doch ist der Fokus auf die Gegenwart nicht per se negativ. Menschen, die ihren Terminkalender abarbeiten und dabei der Zukunftsperspektive verhaftet sind, verlieren an erlebbaren Momenten und damit an gefühlter Lebenszeit.
Wenn Ergebnisse einer wissenschaftlichen Studie als besondere Nachricht in einer Tageszeitung aufgenommen werden, ist dies ein Indiz für deren Wichtigkeit. Die Meldung in der Süddeutschen Zeitung vom 10./11. September 2011 war die folgende: Krähen und Raben können ihre unmittelbare Lust auf ein Futterstück zügeln, wenn sie wissen, dass sie nach einer Weile höherwertiges Futter bekommen. Ein Blick in den Originalartikel ergibt, dass die Vögel, die auch als besonders intelligent gelten, lernen konnten, ein ihnen dargebotenes, nur moderat attraktives Futterstück zu verschmähen, wenn sie dafür in einem Zeitraum von bis zu fünf Minuten ein anderes, wesentlich attraktiveres Futterstück erhielten.[1]
Dass Menschen sich nicht gleich auf das Essen stürzen, wenn sie Hunger verspüren, ist Teil der Erziehung. So können wir bis zum gemeinschaftlichen Mahl mit der Familie warten und plündern nicht den Kühlschrank. Analog zur Wartezeit der Rabenvögel können wir eine Stunde oder mehr damit verbringen, uns Nahrung durch Kochen oder Backen höherwertig zu machen; wir warten die Zeit ab und bekommen ein besseres Essen. Allgemeiner ausgedrückt: Bei der Entscheidung, sofort eine Belohnung mit geringerem Wert zu nehmen oder aber nach einer Wartezeit eine größere Belohnung zu erhalten, wird häufig für die Wartezeit entschieden – wenn diese sich auszahlt. Menschen haben die Fähigkeit, Zeitdauer zu antizipieren und die Beurteilung der zu erwartenden Wartezeit in ihre Entscheidungsfindung einzubringen. Tierexperimentelle Forschung an Tauben, Hühnern und auch Affen ergibt, dass diese Tierarten nur wenige Sekunden lang eine Belohnung aufschieben können; sie wollen das Futter lieber gleich, auch wenn es von geringerer Güte ist. Nur bei Menschenaffen wie den Schimpansen war schon bekannt, dass sie einen Aufschub von mehreren Minuten durchaus in Kauf nehmen, wenn sie dafür mehr Leckereien bekommen. Nun wissen wir dies auch von Raben und Krähen.
Jenseits der Nahrungsaufnahme, einem primären Bedürfnis, lernt der Mensch in mannigfaltigen Lebenssituationen den Bedürfnisaufschub. Wenn Arbeitnehmer jeden Monat einen Betrag in die Rentenkasse einzahlen und damit jetzt auf ihr Geld verzichten, dann geschieht dies, gesetzlich verankert, damit Jahrzehnte später die Auszahlung der Rente erfolgen kann. Überhaupt basieren viele Kulturleistungen auf diesem Prinzip des Gratifikationsaufschubs. Monate oder Jahre harter Arbeit einzelner Individuen gehen den Kulturleistungen in der Gesellschaft voraus. Um ein Buch zu schreiben, muss ein Autor viele seiner Abende und Wochenenden opfern und seine Bequemlichkeit, die ihn zu einem gemütlichen Abend mit Freunden oder auch nur vor den Fernseher drängt, überwinden. Es lassen sich zahlreiche Beispiele dafür finden, dass Menschen vor der Wahl stehen, entweder jetzt eine angenehme Zeit zu erleben oder aber für einen späteren größeren Gewinn zu arbeiten. Da die Entscheidungen für den Gratifikationsaufschub wichtig für die Errungenschaften einer Gesellschaft sind, und mithin für den Erfolg des Einzelnen in der Gemeinschaft, ist es nicht verwunderlich, dass Eltern ihre Kinder mit genau diesen Erziehungsgeboten auf die Nerven gehen: «Erst machst du die Hausaufgaben, dann darfst du zum Spielen nach draußen.» Aber auch der selbstbestimmte Erwachsene hat mit solchen zeitlichen Optionen zu kämpfen. Will er etwas für die Fitness tun, weil sich diese nur durch kontinuierliches Training langfristig erhalten lässt, und jetzt eine Runde joggen, oder will er es sich doch lieber mit der Zeitung und einem Glas Wein auf dem Sofa bequem machen?
Wie relevant die zeitliche Entscheidungsfähigkeit für den Lebenserfolg ist, hat die legendäre Studie des amerikanischen Psychologen Walter Mischel aufgezeigt.[2] Das Besondere daran war, dass es sich um eine Längsschnittstudie handelte: Mehr als 500 Kinder im Alter von vier und fünf Jahren wurden getestet und nach zehn bis fünfzehn Jahren erneut befragt, als sie sich in der späten Adoleszenz oder dem jungen Erwachsenenalter befanden. Die Eingangsuntersuchung bestand aus dem «Marshmallow-Test». Die Kinder bekamen in einem Raum die Süßigkeit vorgelegt und der Versuchsleiter gab die folgende Instruktion: «Du kannst, wenn du willst, jetzt gleich den Marshmallow essen. Er gehört dir. Aber wenn du ein wenig warten kannst, nämlich so lange, bis ich wieder zurückkomme, dann bekommst du einen zweiten Marshmallow, den du auch essen kannst. Aber du bekommst den zweiten nur, wenn du bis dahin den ersten nicht aufgegessen hast.» Nun ging der Versuchsleiter aus dem Zimmer und kam nach zehn Minuten wieder. Die Kinder wurden beobachtet oder von einer Kamera gefilmt. Dies ließ viele Rückschlüsse im Hinblick auf Strategien zu, die Kinder anwendeten, um die Zeit zu überbrücken und sich von der verführerischen Süßigkeit abzulenken. Sie reagierten ganz unterschiedlich. Manche aßen fast sofort die vor ihnen liegende Süßigkeit, andere konnten eine bestimmte Zeit warten, nahmen dann einen klitzekleinen Bissen, der nicht zu sehen sein sollte, bis der Marshmallow dann doch verschwunden war. Einige Kinder schafften es sogar, die zehn Minuten zu warten. Zehn Minuten in einem Raum ohne Ablenkung, wie sie etwa durch die Lektüre von Zeitschriften in Arztpraxen gegeben ist, können auch für einen Erwachsenen ziemlich lang werden. Diejenigen Kinder, die längere Zeit warten konnten, fingen an, ein Lied zu singen, die Hände auf beide Augen zu legen oder laut über etwas nachzudenken. Sie benutzten Strategien, um sich abzulenken.
Fünfzehn Jahre später. Für die Nachfolgeuntersuchung konnten noch knapp 100 der eingangs getesteten Kinder ermittelt werden. Erfasst wurden die schulische Leistung anhand eines standardisierten Hochschulaufnahmetests sowie die Einschätzung der Eltern bezüglich sozialer und schulischer Fähigkeiten. Und da ergaben sich moderate, aber klare Zusammenhänge: Je länger die Kinder damals als Vier- bis Fünfjährige warten konnten, bevor sie den Marshmallow aßen, desto bessere Werte hatten sie fünfzehn Jahre später im Hochschulaufnahmetest, umso höher wurde ihre Kompetenz in der Schule und auch im sozialen Umgang mit den Mitschülern von den Eltern eingeschätzt, und umso besser konnten sie laut Elternurteil mit Frustrationen umgehen. Die zwei Kriterien ‹schulische Leistung› und ‹soziale Kompetenz› sind wichtig für den Erfolg oder Misserfolg in unserer Gesellschaft – das kann nicht erstaunen.[3] Bemerkenswert war der Befund aber insofern, als die beiden Messzeitpunkte fünfzehn Jahre auseinanderlagen und die Entwicklung eines Kindes zum jungen Erwachsenen zahlreichen Einflüssen ausgesetzt ist. Trotz des Zeitabstandes von eineinhalb Jahrzehnten konnte der Marshmallow-Test zu einem gewissen Grad den Schul- und Lebenserfolg der Kinder vorhersagen.
Dabei ist allerdings zu betonen, und hier muss man einen Blick auf die Originaldaten der Publikationen werfen, dass die Zusammenhänge bestenfalls als moderat zu bezeichnen sind; das heißt, dass es noch viele andere Faktoren gibt, die späteren Schulerfolg und soziale Kompetenz bestimmen. Dennoch besteht der Zusammenhang, dass diejenigen Kinder, die länger auf den zweiten Marshmallow warten konnten, sich im Laufe ihrer Entwicklung im Kindes- und Jugendalter den Lebensaufgaben kompetenter stellten. Mit aller gebotenen Vorsicht kann man also konstatieren: Die Fähigkeit, sich für eine bestimmte Zeit anzustrengen, zahlt sich langfristig aus. Diesen Kindern fällt es leichter, Hausaufgaben zu machen, sie können besser mit Frustrationen umgehen, die einem die Gesellschaftsregeln – vermittelt über Eltern und Lehrer – auferlegen. Frustrationstoleranz bedeutet, unangenehme Lebenssituationen besser bewältigen zu können. Sie kann hier im Sinne der emotionalen Intelligenz diskutiert werden,[4] d.h. des erfolgreichen Umgangs mit seinen Gefühlen, indem verstanden wird, dass man sich jetzt anstrengen muss, um später davon in größerem Maße zu profitieren. Man könnte es auch Weitsicht nennen.
Bemerkenswert ist, dass sich die Kinder in anderen wichtigen Faktoren nicht groß voneinander unterschieden. In den ersten Studien hatten die Kinder einen ähnlichen soziokulturellen Hintergrund sowie ähnliche Intelligenzwerte, sie kamen zumeist aus Akademikerfamilien von der Stanford-Universität in Kalifornien. Dies zeigt wiederum, dass neben der Intelligenz als einem Faktor noch ganz andere, etwa die hier besprochene Fähigkeit zur Frustrationstoleranz, entscheidend für den Lebenserfolg sind.
Zeitliche Kurzsichtigkeit
Man kann die Resultate der...