Logbuch einer Metamorphose
Meine Beine baumeln vom Coiffeurstuhl, die Hände liegen auf einer karierten Wachsschürze, es riecht nach Shampoo und Haarspray. Ich bin aufgeregt und voller Vorfreude. Endlich ist es mir gelungen, Mama zu überreden, mir die Haare schneiden zu lassen. Keine Frisuren mehr, keinen Rossschwanz, keine Zöpfe, Haarspangen, keine Bändchen mehr und dergleichen. Kurz, ganz kurz soll das Haar werden, eigentlich am liebsten ein Bürstenschnitt. Doch die Friseuse will mir partout keinen Stufenschnitt schneiden. »So schöne glatte schwarze Haare, das wäre doch jammerschade!« Mir bleibt nichts anderes übrig, als mich auf einen Kompromiss einzulassen; ich glaube aber noch immer, dass mein Plan aufgeht.
Ich bin vier Jahre alt, und ich weiß genau: Buben und Mädchen unterscheiden zwei Dinge – die Länge der Haare und ein Zipfeli zu haben oder eben nicht. Während meine kürzeren Haare geföhnt werden, frage ich meine Mutter, ob es jetzt endlich so weit sei und ich nun auch ein Zipfeli kriege. Mein Plan ist nicht, über einen Penis zu einem Buben zu werden. Ein Bube bin ich schon. Als das fühle ich mich, seit ich denken kann. Doch ich bin eben ein Bube mit langen Haaren und ohne Penis. Ich will aber ein Kind sein mit Penis. Der ist bei mir leider vergessen gegangen. In meiner Vorstellung bin ich einfach mit den falschen Geschlechtsorganen zur Welt gekommen. Aber das lässt sich beheben.
Im Lärm des Föhns versteht Mama meine Frage nicht. Schließlich schaltet die Coiffeuse das Gerät aus, was meinem Nachhaken noch mehr Gewicht verleiht. »Mama, kriege ich nun auch ein Zipfeli?« Stille. Das erschrockene Gesicht meiner Mama werde ich nie vergessen. Nach einer Pause lacht sie verlegen. »Nein, nein, mein Liebes, wo denkst du denn auch hin?!« Meine Welt bricht zusammen.
- - - 1968
Neuland. Es ist ein Sprung ins Wasser, ohne zu wissen, ob ich überhaupt schwimmen kann. Doch ich sehe mich selbst als Mann. Ganz klar. Diese Vorstellung weckt Vorfreude. Ich werde mich wohlfühlen in meinem veränderten Körper.
Aber wie wird das Umfeld reagieren? Wird man mich als Mann wahrnehmen und akzeptieren? Werde ich überhaupt so männlich aussehen, dass die Leute mich als Mann erkennen? Was mache ich, wenn ich keinen Bart bekomme? Was mache ich, wenn ich keinen Bart bekomme und dafür eine Glatze? Wenn die Stimme hoch bleibt und ich aussehe wie ein schlechter Transvestit? Renne ich nicht einfach einer Idealfigur nach?
Ich versuche, ein Problem aus der Welt zu schaffen, und kreiere zwanzig neue.
Zweifel über Zweifel. Ich habe riesige Angst, einen nicht wiedergutzumachenden Fehler zu begehen. Ich habe Angst, dass ich dem, was auf mich zukommt, nicht gewachsen bin; Angst dass mich der Mut verlassen könnte und ich in mein altes Leben zurückkehren werde.
- - - März 2010
Ein lauer Sommerabend, die Luft schwirrt, Mücken tanzen in den letzten Sonnenstrahlen, Grillen zirpen, das Gras ist frisch gemäht. Ich stehe mit meinem Lieblingscousin, seinem Bruder und meinem Onkel auf dem Feld. Mein Onkel ist Bauer und sein Hof für mich ein Paradies. Stoppeln und Halme zwicken mich heftig in die nackten Fußsohlen, doch ein Indianer kennt keinen Schmerz. Ich fühle mich rundum aufgehoben in dieser Männergruppe, habe meine kurzen dunkelgrünen Lieblingshosen an, spüre die Sonne auf meiner nackten Brust. Ich bin eins mit meinem Leben.
Da beschließt mein Onkel, in den Bach zu pinkeln. Gleich darauf machen es ihm meine beiden Cousins nach. Das kann ich auch! Ich knöpfe meine Hose auf und will sie gerade ausziehen, als mein Onkel interveniert und mich mahnt, ich dürfe das nicht tun: »Bettina, du bist doch ein Mädchen!«
- - - 1972
Mein neues Gesicht. Es ist kantiger, wirkt friedlich, freundlich und frisch. Ich sehe mich plötzlich so, wie ich bin. Ja, das bin ich, das ist meine Seele, die sichtbar wird! Ich betrachte mich im Spiegel, schaue alte Fotos an, nehme Abschied von der Bettina. Das neue Gesicht gefällt mir. Ich habe das Gefühl, mein Charakter komme endlich zur Darstellung. Auf diesem Gesicht zeichnet sich mein Inneres ab. Mein Inneres, das so lange in der falschen Hülle gesteckt hatte. Gleichzeitig verschwindet auch die Frau aus dem Gesicht. Das Weibliche, an das ich mich gewöhnt habe, verblasst.
Das Testosteron wirkt. Und wie! Der ganze Körper verändert sich; die Schultern werden breiter, die Arme kräftiger, auf dem Bauch beginnen Haare zu sprießen, und die weiblichen Fettpolster an den Hüften werden kleiner. Ich schaue an mir herunter und habe endlich das Gefühl, ich selber zu werden. Letztmals fühlte ich mich vor meiner weiblichen Pubertät so heimisch in meinem Körper. Mit zwölf, dreizehn aber wurde alles neblig um mich herum, unwirklich, der Realität entrückt. Je länger, je weniger gelang es mir, meinen Körper und die Welt um mich herum zu spüren.
- - - Mai 2010
Die Transidentität ist ein ganz schambehafteter Teil in mir. Er ist tief in mir vergraben, macht sich aber immer wieder bemerkbar und nimmt mit der Zeit etwas Monströses an. Da bedroht mich etwas, das ich im Zaum halten und verbergen muss.
Ich bin eine Missgeburt.
Das zumindest will uns die Wissenschaft bis zu einem gewissen Grad weismachen: Transmenschen sind etwas Abnormales. Ich studiere Medizin und muss zur Kenntnis nehmen, dass die Wissenschaft Transmenschen als psychisch krank stigmatisiert – konkret als Menschen mit einer Persönlichkeitsstörung zwischen Borderline*-Typ und Psychose. Ich wandle durch die Gänge der medizinischen Bibliothek, verschlinge alles über Transidentität, was mir in die Finger kommt, sammle Stück für Stück Informationen zusammen, lese psychiatrische Abhandlungen, bin wie elektrisiert, mache mich über die Geschlechtsanpassung schlau, betrachte Bilder geschlechtsangleichender Operationen und sehe all diese hilflosen Versuche eines Penisaufbaus.
Das alles ist komplett neu für mich. Es ist interessant und zugleich auch sehr abstoßend. Während ich zu Beginn noch ganz aufgeregt bin über die Möglichkeit, eine Geschlechtsanpassung machen zu können, bin ich über die dokumentierten Ergebnisse bitter enttäuscht. Schnell wird mir klar: Viel lieber in einem intakten und gesunden Frauenkörper leben als mir solche Verstümmelungen zufügen.
- - - 1986
Ich war das Küken im Team, als Bettina auf unsere Station kam. Wir teilten uns ein Büro. Bereits am ersten Abend war klar: Diese Frau hat Power, sie zögert nicht. Sie weiß genau, wo es langgeht. Mit allen Fragen konnten wir jungen Assistentinnen zu Bettina gehen. Sie hatte Erfahrung, eine klare Haltung und war rundum hilfsbereit.
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Ich bete dafür, eine richtig schöne sonore Männerstimme zu bekommen: Bitte, lass mich einen richtigen Stimmbruch haben! Meine Patientinnen merken im Moment noch nicht viel. Die Stimme ist etwas heiser – »tut mir leid, nichts Gravierendes, ich habe gerade eine Erkältung hinter mir« –, und wenn ich mich konzentriere, kann ich sie bei Bedarf noch gut in der Höhe halten. Doch in einigen Wochen werde ich nicht mehr als Doktor Bettina Flütsch in der Frauenklinik auftauchen, Visite machen, untersuchen und operieren. Nein, auf meinem Namensschild wird dann »Dr. Niklaus Flütsch« stehen.
- - - Juni 2010
Mama schafft es nur einmal, mir ein Kleid anzuziehen. Zuvor hat sie mich unzählige Male gebeten, doch nur einmal eines zu tragen. Ihr zuliebe. An diesem Tag kommt sie mit einem grün karierten Faltenrock in mein Zimmer. Ich schließe innerlich die Augen, beiße die Zähne zusammen. Der Rock hört knapp über meinen immer etwas zerschlagenen, kräftigen Knien auf. Dazu trage ich blaue, handgestrickte Socken. Der Rock ist völlig unpassend, wie eine Faust aufs Auge. Aber ich will Mama nicht schon wieder enttäuschen – schließlich ist sie meine Mutter, sie schenkt mir ja auch immer etwas zum Geburtstag und zu Weihnachten, und sie hat mich sehr lieb. Also kann ich ihr ja auch etwas zurückschenken.
So trabe ich in diesem Aufzug zur Schule. Doch ich fühle mich unendlich unwohl; es ist sonnenklar, dass ich einfach in den falschen Kleidern stecke. Einen halben Tag lang beherrsche ich mich und halte durch, Mama zuliebe. In der Mittagspause spurte ich heim und erkläre, in meinem Leben nie wieder einen Rock oder ein Kleid zu tragen. Nie mehr! Nie wieder!
- - - 1973
Das Festgelände sehe ich noch vor mir. Bettina war drei, vier Jahre alt, rannte zwischen den Bänken hin und her. Irgendwann kam sie mit Tränen in den Augen und einem Jungen im Schlepptau zu meiner Frau und mir. Da erklärte uns der Bube: »Er hat den Kopf angeschlagen.« – Schlagartig hörte Bettina auf zu weinen. Als Junge durchzugehen, war für sie das Größte.
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