Vorspiel und »Liebestod«
Ein Orchester ist immer ein Mikrokosmos der Gesellschaft. Dieses besondere Orchester ist der Mikrokosmos einer Gesellschaft, die es niemals gegeben hat und die es vielleicht niemals geben wird. Im West-Eastern Divan Orchestra, das 1999 in Weimar gegründet wurde, spielen Musiker aus Israel, Palästina, Jordanien, dem Libanon, Syrien, Ägypten, der Türkei, aus dem Iran und aus Spanien. Es trifft jeden Sommer für mehr als einen Monat zusammen, um Nahostthemen zu diskutieren, zu proben und Konzerte zu geben. Ein Monat scheint kein langer Zeitraum zu sein, aber dieser Monat besteht aus sehr anstrengenden Proben und Auftritten, vielen sozialen Kontakten und sehr wenig Schlaf. Jeder einzelne Moment ist mit einer außerordentlichen Energie aufgeladen. Die Zeit dehnt sich nicht nur, sondern sie nimmt eine andere Qualität an. Die Musiker arbeiten und leben einen Monat lang unter äußerst beengten Bedingungen mit Kollegen zusammen, die vielleicht aus Ländern kommen, die sie niemals werden betreten können.
Jedes Jahr finden für neue Mitglieder Vorspiele statt, aber viele Musiker werden immer wieder eingeladen. Damit wurde es dem Orchester möglich, sich über die Jahre hinweg sowohl musikalisch als auch sozial zu entwickeln und zu reifen. Die Musiker, die in diesem Buch über ihre Erfahrungen berichten, sind keineswegs wichtiger oder unwichtiger als andere Musiker des Orchesters aus seiner Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft. Jeder Musiker eröffnet mit seiner Geschichte einen Blick in die Seele des Orchesters, die für Außenstehende unvorstellbar ist: Die Seele des Orchesters ist eine Originalkomposition in ständigem Wandel, die gemeinsam von allen Mitgliedern geschrieben wird, die seine Einzigartigkeit besser wiedergeben können als jeder andere.
Ich schätze mich äußerst glücklich, so viel Zeit mit dem Divan Orchestra verbracht zu haben. Meine Mitwirkung ergab sich durch eine Reihe von Zufällen. Ich komme nicht aus einem der oben genannten Länder. Ich wurde in den USA geboren. 1999 lebte ich bereits in Deutschland, aber von dem Orchester erfuhr ich erst 2005, nachdem ich einen Ein-Jahres-Vertrag als Solocellistin an der Staatskapelle Berlin erhalten hatte, dem Orchester der Deutschen Staatsoper. Maestro Daniel Barenboim hatte viele meiner neuen Kollegen dafür gewonnen, die jungen Divan-Musiker zu unterrichten, und sie erzählten mir von dem Orchester. Das Projekt faszinierte mich, und ich hoffte, eines Tages den Workshop besuchen zu können, um das Orchester zu hören und seine Mitglieder kennenzulernen.
2006 ging mein Wunsch dank eines unglücklichen Ereignisses in Erfüllung. Eine Woche vor dem Termin, der für den Workshop angesetzt war, brach im Libanon der Krieg zwischen Israel und der Hisbollah aus. Die libanesischen Musiker saßen plötzlich in ihrem eigenen Land fest, und einige andere arabische Musiker hielten es unter diesen Umständen für unmöglich, am Workshop teilzunehmen. Insgesamt fehlten fünfzehn Musiker, ein beachtlicher Prozentsatz für ein Orchester von achtzig oder neunzig Mitgliedern. Zunächst bestand noch die Hoffnung, dass bald ein Waffenstillstand ausgehandelt würde und die fehlenden Musiker anreisen könnten. Aber als Tage und dann Wochen verstrichen, schien dieser Fall immer unwahrscheinlicher. Die Probenzeiten waren fast vorüber, die Konzerttournee sollte beginnen, und das Orchester war immer noch nicht vollständig. Man entschied, die Tournee mithilfe von einigen wenigen fremden Berufsmusikern durchzuführen. Da ich Interesse an dem Projekt gezeigt hatte, gehörte ich zu den Musikern, zu denen Tabaré Perlas Kontakt aufnahm, Barenboims persönlicher Assistent und der Organisator des West-Eastern Divan Orchestras.
In diesem Sommer gab es immer noch arabische Musiker aus Palästina, Ägypten und Jordanien beim Divan Workshop, aber die Ausgewogenheit war gestört. Die wenigen Berufsmusiker, die im letzten Moment einsprangen, konnten das musikalische Gleichgewicht des Orchesters vielleicht wiederherstellen, nicht aber das soziale, wie mir bald klar wurde.
Am 6. August 2006 kam ich nachmittags im Gästehaus Lantana in Pilas an, dem Veranstaltungsort des Workshops. Das ehemalige Kloster in der Nähe von Sevilla wirkt wie ein Universitätscampus en miniature, mit Unterkünften, Probenräumen und einer Cafeteria in verschiedenen Gebäuden. Zitronenbäume spenden ausreichend Schatten, um auf dem im Hochsommer stacheligen Rasen zwischen den Gebäuden zu sitzen, und hinter dem Parkplatz befindet sich ein Swimmingpool mit olympischen Dimensionen.
Das spartanische, mit Linoleum ausgelegte Zimmer, das mir zugedacht war, lag zum Parkplatz hin, und ich konnte die Hitzeschwaden vom Asphalt aufsteigen sehen. Ich hatte nicht viel Zeit zum Auspacken, denn für diesen Abend war eine Probe in der Stierkampfarena von Sevilla angesetzt, wo das Orchester zwei Tage später auftreten sollte. Ich schaute mich auf dem Campus um, und mich überkam das Gefühl, als wäre ich zu spät in einem Sommerlager angekommen, in dem die anderen Jugendlichen längst wussten, wie alles läuft. Als ich beispielsweise den Flur entlangging, sah ich durch einige geöffnete Türen die Matratzen auf dem Boden liegen, die von den Zimmerbewohnern offensichtlich aus den Metallrahmen gehoben worden waren. Als ich später in meinem Zimmer auf einem der knarrenden, alten Doppelbetten saß, wusste ich, warum.
Ich kam früh bei der Plaza de Toros an. Ich wollte mich ein wenig umsehen, da ich noch nie zuvor in einer Stierkampfarena gewesen war. Es war nicht gerade die nächstliegende Wahl als Aufführungsort von Beethovens Neunter Symphonie, aber sie hatte den Vorteil, mehreren tausend Zuschauern Platz bieten zu können. Mitten in der Plaza de Toros, dort, wo normalerweise die Stierkämpfe stattfinden, hatte man eine Bühne aufgebaut. Bald trafen die Orchesterbusse ein, und die Musiker begannen auszupacken und ihre Instrumentenkästen ordentlich aufgereiht an die Stierboxen zu lehnen.
Vor meiner Ankunft gab es nur eine ungerade Anzahl von Cellisten im Orchester, deshalb saß eine Jugendliche aus Ramallah allein am letzten Pult. Ich setzte mich neben sie, und wir unterhielten uns. Sie spielte erst seit eineinhalb Jahren Cello, aber sie hatte es geschafft, die Beethoven-Symphonie so gut zu üben, dass sie mit dem Orchester auf Tournee gehen konnte. Sie war vierzehn Jahre alt und hatte Geige gespielt, bevor sie zum Cello wechselte, aber die Musik war nicht ihr Ein und Alles: Sie wollte Ärztin werden.
Während der ersten gemeinsamen Probentage hatte es wegen eines Schmuckanhängers in Form des aktuellen israelischen Staates, den sie an einer Halskette trug, beträchtlichen Ärger in der Cellogruppe gegeben. Quer über diesen Anhänger stand das Wort »Palästina«. Aufgrund des Kriegs gab es in diesem Jahr mehr Israelis als Spanier oder Araber in der Cellogruppe, und diese fühlten sich von der Halskette zutiefst beleidigt. Sie bestanden darauf, dass sie sie ablegte.
Als ich sie kennenlernte, gab es keinen Schmuckanhänger mehr, aber die Erinnerung an die Streitigkeiten war noch im Gedächtnis aller verhaftet. Anscheinend waren einige der anderen dankbar dafür, dass nun eine Außenstehende neben ihr saß.
Die Probe ging bald los, und ich beobachtete meine Pultnachbarin aus der Nähe. Es wäre interessanter gewesen, beim ersten Mal dem ganzen Orchester zuzuhören, aber wegen der fehlenden natürlichen Akustik war es schwierig, irgendetwas anderes außer den Instrumenten in der direkten Umgebung wahrzunehmen. Gleichzeitig war ich neugierig, wie eine relative Anfängerin mit Beethovens Neunter Symphonie zurechtkäme, eine Herausforderung, die ich mir kaum vorstellen konnte.
Sie meisterte diese Aufgabe außerordentlich gut. Offensichtlich lagen bestimmte Passagen jenseits ihrer Fähigkeiten mit dem Instrument, aber sie wusste genau, wann sie voll ausspielen und wann sie sich ein wenig zurücknehmen musste, um die Gruppe nicht mit falschen Tönen zu irritieren. Sie verlor nie den Anschluss.
Nachdem wir die Symphonie durchgespielt hatten, stellte Barenboim eine Anti-Kriegs-Erklärung vor, die er gemeinsam mit Edward Saids Witwe Mariam aufgesetzt hatte. Er meinte, das Orchester sei es sich und den nicht anwesenden Musikern schuldig, eine Erklärung in den Konzertprogrammen abzudrucken, solange der Krieg anhielt. Er las sie dem Orchester laut vor:
»In diesem Jahr steht unser Projekt in scharfem Kontrast zu der Grausamkeit und der Brutalität, die so viele unschuldige Zivilisten der Möglichkeit beraubt, in einer Weise weiterzuleben, wie es ihren Idealen und Träumen entspricht. Die Zerstörung von lebensnotwendiger Infrastruktur durch Israel im Libanon und im Gazastreifen, die eine Million Menschen entwurzelt und unzählige zivile Opfer gefordert hat, und die wahllose Bombardierung der Zivilbevölkerung im Norden Israels durch die Hisbollah stehen unseren Vorstellungen diametral entgegen. Ebenso widersprechen die Ablehnung eines sofortigen Waffenstillstands und die Weigerung, Verhandlungen aufzunehmen, um ein für alle Mal den Konflikt umfassend zu lösen, den grundlegenden Wesenszügen unseres Projekts zutiefst.«
Während Barenboim die Erklärung verlas, sah ich mich um und versuchte, die Reaktionen der Musiker einzuschätzen. Ich konnte keine einzige eindeutige Reaktion erkennen. Danach bat Barenboim das Orchester zu überlegen, ob sie gedruckt werden solle, und ihm mitzuteilen, ob möglicherweise Veränderungen vorgenommen werden sollen. Er nahm das nachfolgende Schweigen als ein Zeichen der Zustimmung und entließ das Orchester für diesen Abend. Es war schon recht spät geworden, und einige hatten es eilig, den Bus zu nehmen und zum Abendessen nach Pilas zurückzukehren. Als ich die Bühne verließ,...