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Sie konnten mich nicht töten

Als Afghanin im Einsatz für die Bundeswehr

AutorSoraya Alekozei
VerlagUllstein
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl272 Seiten
ISBN9783843709187
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Bei einem Anschlag in Taloqan wird die Bundeswehr-Soldatin Soraya Alekozei so schwer verletzt, dass sie zunächst als tot gilt. Dabei war die 1979 aus Afghanistan Geflohene gekommen, um ihr Heimatland zu befrieden. Nicht mit Waffen, sondern mit Worten: Sie dolmetscht für die Generäle, kümmert sich um Waisenkinder. Bis zu jenem Schicksalstag im Mai 2011. Der bewegende Bericht einer ungewöhnlichen Kriegsveteranin, der uns Afghanistan und die menschlichen Dimensionen des Bundeswehreinsatzes neu sehen lässt.

Soraya Alekozei wurde 1955 in Kabul geboren, studierte dort Literaturwissenschaft und lebt seit 1979 mit ihrem Mann und den beiden Söhnen in Bonn. Sie moderierte für die Deutsche Welle und arbeitete später bei der Deutschen Post. Sie initiierte bereits private Hilfsprojekte in Kabul, bevor sie 2006 als Leutnant für die ISAF nach Afghanistan ging.

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Leseprobe

Einst war ich

Menschen, die dem Tod ins Gesicht geblickt haben, be­richten immer wieder darüber. Im Nirwana, irgendwo zwischen den Welten, soll es ein Licht geben, hell und warm. Und auch Glücksgefühle. Geborgenheit. Ein Wiedersehen mit verstorbenen Verwandten und unendliche Ruhe. Manche sagen, sie seien durch einen Fluss geschwommen. Doch hätten sie keine Wellen sanft liebkost. Stattdessen machten Wassermassen zäh fließend wie Sirup jede Bewegung zur Qual. Zogen sie immer wieder zurück in die Tiefe des ewigen Vergessens. Langsam und mühsam wären sie den Stimmen am anderen Ende des Ufers entgegengeschwommen. Stück für Stück mussten sie sich zurückkämpfen ins Hier und Jetzt.

Andere sahen in Sekundenschnelle ihr ganzes bisheriges Sein an sich vorüberziehen. Lachten, weinten, erinnerten sich. Das tat auch ich. Es war wie ein Schweben. Losgelöst von Raum und Zeit. Ich wurde zum Zuschauer in einem Film, in dem ich selbst die Hauptrolle hatte und doch nicht wusste, wie er enden wird. Den Anfang, den kannte ich gut. Wehmut kroch mir durch den Körper. Heiß wie ein stechender Schmerz und bitter wie der Geschmack verlorener Träume.

Ich sehe mich als achtjähriges Mädchen an einem kalten Wintertag in Kabul. Es ist die früheste Erinnerung, die ich an mich habe, und mir eine der liebsten. »Soraya!« Im Unterbewusstsein nehme ich wahr, dass jemand meinen Namen ruft. »Soraya jan! Soraya, mein Liebes.« Unwirsch schüttele ich den Kopf. Mama, nicht jetzt, denke ich, ich spiele doch gerade so schön. In meinem Kinderzimmer, in dem es warm ist, habe ich einen Tisch aufgebaut. Drum herum sitzen meine Puppen. Nicht die kostbaren, die Mama und Oma für mich genäht haben, sondern die kleinen, die meine Schwester Sultana und ich immer basteln. Sultana ist die Älteste von uns sieben Geschwistern. Wenn sie groß ist, will sie Lehrerin werden. Das erklärt auch ihre Geduld. Vor allem mit mir, der Drittgeborenen. »Soraya!« Die Stimme meiner Mutter hat genau jene Tonlage angenommen, die mir sagt, ich sollte besser zu ihr gehen. Und zwar auf der Stelle. Widerwillig lasse ich meine Puppengesellschaft allein.

Mama wartet in der Eingangshalle. Papa daneben. Beide gucken ernst. Und das aus gutem Grund. Ein Polizist steht vor ihnen. Ich sehe zuerst nur seinen Rücken. Breit und uniformiert. Langsam dreht er sich zu mir um. »Du bist also Soraya«, stellt er fest. Ich nicke selbstbewusst. Viel selbstbewusster, als ich gerade bin. Mein Herz pocht wie wild, meine Knie sind weich. Tapfer unterdrücke ich meine Angst. Ich möchte zeigen, dass ich zu dem stehe, was ich getan habe. Man muss Verantwortung für sein Handeln übernehmen, das haben mich meine Eltern gelehrt. Also straffe ich meine Schultern. Aber es kostet mich eine wahnsinnige Überwindung. Mein Atem geht flach und stoßweise. Doch trotz meiner Schüchternheit stelle ich mich gerade hin und versuche mich etwas größer zu machen. Viel ist es nicht, was ich zu bieten habe. Ich werde zeit meines Lebens zierlich sein. Nur 1,55 Meter groß. Und als Drittklässlerin bin ich natürlich dementsprechend schmächtig. Meine Lehrerin findet, ich sei ein Jend, ein kleines schlaues Wesen aus der afghanischen Sagenwelt. Noch dazu ein neugieriges. Gerade will ich zu einer Frage ansetzen, da ernte ich auch schon einen strengen Blick meiner Mutter. Mein Vater schaut auf den Boden. Um seine Mundwinkel meine ich ein Lächeln zu sehen.

So ist das immer gewesen. Papa schimpft nie. Das überließ er Mama. Alahfazel Alekozei Watanyar war ein Mann der leisen Töne. Gebildet. Studierter Jurist und Beamter des Bildungsministeriums. Ich liebte ihn abgöttisch. Bewunderte ihn mehr als jeden anderen. Und ich siezte ihn. Aus Hochachtung. In meiner Kultur ist das die höchste Form der Anerkennung. Kein Mensch stand mir näher als mein Vater, und gerade deshalb war das Schoma – das »Sie« – die natürlichste Sache der Welt für mich. In seiner Freizeit arbeitete mein Vater als Journalist, Autor und Dichter. Das verschaffte ihm Respekt, auch jetzt von dem Polizisten, der das weiß und der mich eindringlich anschaut. »Soraya, hast du eine Ahnung, warum ich heute hier bin?«, fragt er. »Es geht um die Frau, die ich mit nach Hause genommen habe«, sage ich leise.

Die Geschichte verfolgt meine Familie nun schon seit Tagen. Eigentlich fing alles ganz harmlos an. Meine Mutter Sahibjan schickte mich zum Bäcker, um frisches Brot fürs Frühstück zu holen. Es war eisig kalt draußen. Wie immer im Winter in Kabul. Mein Atem formte sich zu kleinen Wölkchen. Und dort, wo er meine Haare berührte, bildete sich glitzernder Raureif. Schon von weitem konnte ich sie sehen, ein Häuflein Mensch. Zusammengesunken wie ein Berg feuchter Lumpen. Mehr tot als lebendig. »Sie sitzt hier schon den ganzen Morgen«, verriet mir der Bäckermeister. Ich hielt ihr das warme Brot entgegen, das ich gerade gekauft hatte. Sie war zu schwach, um es zu nehmen. Ihre Lippen formten kaum hörbar Wörter, die ich nicht verstand. »Bestimmt ist ihre Zunge eingefroren«, flüsterte ich. Ohne zu überlegen, reichte ich ihr meine Hand und half ihr auf die Füße. Wie in Trance folgte sie mir. Wir müssen ein komisches Bild abgegeben haben. Eine Achtjährige, die eine Obdachlose hinter sich herzog.

»Schnell, macht die Tür auf«, rief ich, kaum dass ich vor unserem Haus in der Karte Parwan stand, einem beliebten Kabuler Wohngebiet. »Allah sei ihr gnädig«, stieß Mir beim Anblick meiner Begleiterin entsetzt aus. Mir war der Diener meines Vaters, der ihm seit seiner Zeit in Kandahar treu zur Seite gestanden hatte. Wir Kinder haben ihn ehrfürchtig »Saheb« genannt, was so viel wie die englische Anrede »Sir« bedeutet. Unsere Spielkameraden machten sich immer lustig darüber: »Er ist doch nur euer Angestellter.« Doch für uns war er mehr gewesen. Ein Familienangehö­riger, fast wie ein Onkel. Denn so sanftmütig mein Vater auch war, wenn es darum ging, Respekt zu zeigen, kannte er kein Pardon. Er lehrte uns, allen Menschen stets auf Augenhöhe zu begegnen und ihnen so ihre Würde zu lassen. »Arroganz ist die Perücke geistiger Kahlheit«, pflegte er dabei zu sagen.

In Windeseile machte meine Mutter ein Bett fertig, besorgte Decken und eine Wärmflasche, während meine Großmutter unserem Gast mit dem Löffel vorsichtig warmen Tee einflößte. Die Frau merkte es kaum. Schlief förmlich im Stehen. Wir beherbergten sie einige Tage und wussten immer noch nicht, wer sie war. »Ihr müsst zur Polizei«, drängten unsere Nachbarn. »Sie ist so schwach«, gab mein Vater zu bedenken. Letztlich gingen meine Eltern doch zu den Behörden. »Das glaube ich jetzt nicht« war das Erste, was ihnen der zuständige Beamte entgegnete. »Wie können Sie so blauäugig sein? Und was ist das überhaupt für ein Mädchen, das wildfremde Leute aufliest?«

Wieder auf der Straße, sah meine Mutter meinen Vater resigniert an. »Warum kann sie nicht wie andere Kinder kranke Tiere mit nach Hause bringen? Wieso sind es immer wieder Menschen, denen sie, ohne nachzudenken, helfen will?« Offensichtlich hatte sie nicht vergessen, dass ich erst kurz zuvor unsere Vorräte geplündert und an vorbeiziehende Nomaden verteilt hatte.

»Sie meint es doch nur gut, und wir haben schließlich mehr als genug«, versuchte mein Vater sie zu besänftigen.

»Aber sie gab ihnen auch das Bettzeug ihrer Oma«, stöhnte Mama.

»Sahibjan, mein Liebling, deine Mutter hat doch zwei Decken. Und außerdem hat Soraya uns versprochen, beim nächsten Mal zu fragen, bevor sie wieder unsere Sachen an Bedürftige verteilt.« Innerlich wird er geschmunzelt haben. Heute weiß ich, er hätte es genauso gemacht.

Einen Tag später musste ich dennoch auf das Revier. Aus diesem Grund stand der Wachtmeister nämlich an jenem kalten Wintertag in unserem Haus: »Ziehen Sie Ihrer Tochter bitte etwas Warmes an, ich nehme sie gleich mit. Wir brauchen ihre Aussage«, informierte er meine Eltern. Mama holte meinen dicken Mantel, wickelte einen Schal fest um meinen Kopf und drückte mir einen Kuss auf die Stirn. Papa tätschelte meine Hand: »Ich fahre hinter euch her.« So kam ich zur ersten und einzigen Motorradfahrt meines Lebens. Wahrscheinlich dachte der Polizist, er täte mir damit einen Gefallen. Doch bis heute kann ich noch den eisigen Fahrtwind in meinem Gesicht spüren und die Angst vor der Befragung auf der Wache. Am Ende war es halb so schlimm. Ich sollte nur meine Geschichte noch einmal zu Protokoll geben. Eine Formalität für die Beamten. Ein Abenteuer für mich. Dennoch war ich unheimlich erleichtert, als mein Vater mir anschließend seine Hand entgegenstreckte und sagte: »Komm, wir gehen nach Hause.«

Um unseren Gast kümmerte sich später eine örtliche Sozialstation. Das Schicksal dieser älteren Frau ließ uns trotzdem nicht los. Später haben wir erfahren, dass sie aus dem Panjshir-Tal stammte, rund 150 Kilometer nördlich von Kabul. Sie hatte ihren Heimatort verlassen, um ihren einzigen Sohn zu suchen, der als Busfahrer unterwegs war und aufgrund des schlechten Wetters wochenlang nicht nach Hause zurückgekehrt war. Zum Glück gab es ein Happy End. Die Polizei fand den Mann, und seine Mutter konnte endlich wieder heim.

Mein Vater erzählte uns ihre ganze Geschichte, als wir später alle im Wohnzimmer saßen und gemeinsam Scha Fard spielten. Bei uns zu Hause drehten sich Spiele häufig um Dichtung und Poesie. In diesem Fall um Königsverse. Papa rezitierte einige Zeilen. Und wir mussten mit dem letzten Buchstaben seines Gedichts unsere Verse beginnen lassen. Dabei hat er immer dafür gesorgt, dass er mit einem schwierigen Konsonanten aufhörte.

»Was hast du aus deinem Verhalten gelernt?«, erkundigte sich mein Vater am Ende jenes...

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