2 Die Etablierung in Würzburg
Ein Streit mit Tradition
Im Jahr 1483 begab sich Tilman Riemenschneider, etwa im Alter von 23, erneut nach Würzburg. Er hatte vor, nicht nur vorübergehend in der Stadt zu bleiben, sondern sich als ordentlicher und »zünftiger« Handwerker, ja Künstler in Würzburg anzusiedeln. Seine Zeit als Wandergeselle fand hiermit ihren Abschluss. Im selben Jahr war auch sein Vater gestorben. Wann die Mutter verstarb, ist nicht überliefert. Ebenso wenig ist bekannt, ob Tilman sie noch gesehen und ob er vom Vater etwas geerbt hat.
Für die fürstbischöflichen Beamten oder die Geistlichen Würzburgs wird der junge, stattliche Handwerker mit seiner für die damalige Zeit beachtlichen Größe von 1,85 m kein völlig Unbekannter gewesen sein, denn so mancher von ihnen wird sich vermutlich an den Neffen des bischöflichen Fiskals Nikolaus Riemenschneider erinnert haben. Es ist durchaus anzunehmen, dass dieser Bekanntheitsgrad später, als er Meister geworden war, beim Erlangen der ersten Aufträge hilfreich gewesen ist.
Die Stadt, in die er kam, unterstand weitgehend der bischöflichen Herrschaft. Das gestiegene Selbstbewusstsein der Stadtbürger, der Kaufleute und der Handwerker war seit dem Spätmittelalter zwar auf mehr Eigenständigkeit hin ausgerichtet, aber den Würzburger Bürgern war es schon vor Zeiten endgültig misslungen, das Privileg einer Freien Reichsstadt zu erhalten. Sie hatten im Jahr 1400 eine blutige Niederlage hinnehmen müssen, als das Heer des Bischofs Gerhard von Schwarzburg (reg. 1372–1400) die städtischen Truppen in Bergtheim (nordöstlich von Würzburg) vernichtend geschlagen hatte. Infolgedessen verloren der Rat der Stadt sowie die Zünfte grundlegend an politischer Bedeutung.
Der Streit zwischen der Stadt und ihren Bischöfen blieb jedoch bestehen und ließ sich sogar weithin sichtbar im Stadtbild ablesen, denn die bischöfliche Festung Marienberg auf der Anhöhe stand der Stadt im Tal mitunter drohend gegenüber, nur getrennt durch den Main. Während des Bauernkriegs 1525 sollte der Konflikt wiederum gewaltsam ausgetragen werden (s. Kapitel »Der Bauernkrieg von 1525«, S. 80ff.).
Abb. 4: Ansicht Würzburgs. – Holzschnitt aus der Schedel’schen Weltchronik, Nürnberg, 1493.
In einer Urkunde des Jahres 1373 waren für Würzburg 37 Zünfte aufgeführt, wovon allein zehn auf den Weinanbau als wichtigen Wirtschaftszweig bezogen waren. Ihre nach 1400 in der Stadt nicht mehr vorhandene politische Autonomie hatte die Vertreter der Handwerker jedoch gezwungen, sich in »unverdächtigen« religiösen Bruderschaften zu organisieren.
Die Einwohnerzahl Würzburgs zur Zeit Riemenschneiders wird sehr unterschiedlich angegeben. Die Schätzungen reichen von 5000 bis 10 000. Zudem ist zu bedenken, dass Ende des 15. und Anfang des 16. Jahrhunderts mehrmals die Pest ihren Tribut forderte. Nürnberg oder Augsburg hatten – als Reichsstädte und an wichtigen Handelsrouten gelegen – zur selben Zeit bereits 20 000 Einwohner. Vor und nach der Schlacht bei Bergtheim waren Würzburger Kaufleute daher in bestehende Reichsstädte umgezogen.
Reichsstädte
Etliche der im Mittelalter auf einem Königsgut neu gegründeten Städte unterstanden als »Reichsstädte« direkt dem König, wobei dieses Recht vielfach auf den Kaiser übergegangen ist. Diese Städte waren somit »reichsunmittelbar«. Sie verfügten über eine eigene Verwaltung und eine eigene Gerichtsbarkeit, mussten nur an den Kaiser Abgaben entrichten und nur ihm militärische Dienste leisten. Städte, die von einem König auf kirchlichem Gebiet errichtet worden waren, unterstanden einem Bischof, dem ein Vogt als königlicher Stellvertreter beigeordnet war. Diese Städte hießen »Reichsvogteistädte«.
Einigen Städten glückte es durch die Erlangung entsprechender Privilegien allerdings, sich sowohl von der kaiserlichen als auch von der kirchlichen Herrschaft zu befreien, sodass sie weder Steuern abführen mussten noch eine militärische Gefolgschaft zu leisten hatten. Sie konnten sich gänzlich selbst verwalten und wurden als »Freie Städte« angesehen. Da sich die Reichsstädte und die Freien Städte in ihren Sonderrechten mehr und mehr annäherten, wurden sie schließlich als »Freie Reichsstädte« bezeichnet.
Nach zünftigen Regeln
Tilman Riemenschneider blieb vorläufig Geselle, denn für die erstrebte Meisterwürde mussten einige Bedingungen erfüllt sein. Selbst ein so herausragender Künstler wie er galt in erster Linie als Handwerker – und als solcher hatte er außer den absolvierten Lehr- und Wanderjahren die Mitgliedschaft in der für seinen Handwerkszweig maßgeblichen Würzburger Bruderschaft resp. »Zunft« aufzuweisen (s. S. 25).
Darüber hinaus war es erforderlich, dass der zukünftige Meister ein Bürger der Stadt wurde. Man wird es seitens der Bruderschaft dem Gesellen Riemenschneider wohl nicht erlassen haben, ein Meisterstück zu präsentieren sowie auf eigene Kosten die Meisterprüfung abzulegen. Solches war durch eine Regelung innerhalb der Bruderschaft festgelegt.
Abb. 5: Darstellung einer Bildhauerwerkstatt. – Holzschnitt aus dem »Trostspiegel« des Petrarca-Meisters, Frankfurt am Main, 16. Jahrhundert.
Ganz entscheidend aber war, dass ein Geselle in einer bereits bestehenden Werkstatt – und nur auf diese Weise – die Nachfolge eines Meisters antreten konnte. Dadurch ließ sich die Zahl der Werkstätten begrenzt halten, um sicherzustellen, dass alle Meister ihr Auskommen hatten.
Einem Handwerksgesellen blieb daher gar nichts anderes übrig, als in eine Werkstatt einzuheiraten, indem er die Tochter oder die Witwe eines Meisters zur Frau nahm. Einer Witwe war es, selbst wenn sie durch eine Erbschaft abgesichert war, auf Dauer gewiss nicht möglich, die Werkstatt ihres verstorbenen Mannes nur mit Hilfe der Gesellen fortzuführen. Doch es gab noch einen weiteren Weg: Der Sohn eines Meisters nämlich hatte die besten Chancen, eine Werkstatt zu übernehmen, ja, ein Sohn oder ein Schwiegersohn konnte mit einer gewissen Bevorzugung durch die Zunft rechnen. Freilich galt auch für den Sohn, dass er verheiratet zu sein hatte, da die Lehrlinge gleichsam wie Mitglieder der Meisterfamilie betrachtet wurden und dort umsorgt werden mussten.
Bald nach seiner Ankunft, genauer: am 7. Dezember 1483, gelang es Tilman Riemenschneider, in die Sankt-Lukasbruderschaft aufgenommen zu werden (s. S. 47f.). Diese in Würzburg 1470 als Gebetsbruderschaft gegründete Vereinigung kümmerte sich als Zunft resp. Gilde um die Maler, Glaser und Bildhauer der Stadt. Hier existierten zu jener Zeit insgesamt 23 Bruderschaften. Lukasgilden gab es freilich auch andernorts.
Die Aufnahme Riemenschneiders und weiterer Gesellen wird in einem zeremoniellen Rahmen stattgefunden haben. Vorab wurden üblicherweise die Zeugnisse und Urkunden des Anwärters in Augenschein genommen, und es wurde darauf geachtet, dass er getauft war und sich zum Christentum bekannte, dass er aus geordneten Familienverhältnissen stammte und dass der Vater einem gesellschaftlich anerkannten Beruf nachging, also z. B. kein Gaukler oder Henker war.
Etappenziel
Rund eineinhalb Jahre später, nämlich 1485, hatte Riemenschneider alles erreicht: die Rechte eines Bürgers, die Meisterwürde und nicht zuletzt die Eheschließung. Anna Schmidt hieß die Auserwählte. Sie war die Witwe des Goldschmieds Ewald Schmidt, die Mutter dreier Söhne und etliche Jahre älter als ihr neuer Ehemann. Ob es sich um eine gänzlich arrangierte Heirat handelte, ist nicht zu beantworten. Diese Vermählung ermöglichte es Tilman Riemenschneider jedenfalls, fortan als Handwerksmeister einer ansehnlichen Werkstatt mit Lehrlingen und Gesellen vorzustehen, innerhalb der Bürgerschaft aufzusteigen und lukrative Aufträge zu erhalten. Seine Ehefrau Anna hatte mit dem »Hof zum Wolfmannsziechlein« in der Würzburger Franziskanergasse ein beachtliches Anwesen inklusive der Werkstatt mit in die Ehe gebracht. Und so schlecht kann es Tilman mit seiner Frau und seinen Stiefsöhnen hier nicht ergangen sein, denn er scheint sich in diesem Haus, in welchem er bis zu seinem Tod gewohnt hat, wohlgefühlt zu haben. Der Ehe entstammte die gemeinsame Tochter Gertrud.
Schnitzmaterial Lindenholz
Tilman Riemenschneider verwendete für seine Schnitzarbeiten Lindenholz und nur in seltenen Fällen Alabaster oder das Holz des Birnbaums. Obwohl die Zünfte das Material vorschreiben konnten, hatte die Wahl des Holzes vor allem regionale Gründe: Im Norden Deutschlands benutzte man wegen seiner höheren Wetterbeständigkeit Eichenholz, das überdies durch die Holzlieferungen aus dem Osten ausreichend zur Verfügung stand. In Süddeutschland und in den Vogesen wurde das leichter zu bearbeitende Lindenholz als Schnitzmaterial genutzt, näherhin das Holz der großblättrigen Sommerlinde (tilia platyphyllos).
Diese im Norden nicht vorkommende Lindenart wächst außerdem schneller als die kleinblättrige Winterlinde (tilia cordata) und erreicht einen größeren Umfang. Zudem schwindet das Holz beim Austrocknen weniger, weshalb die Rissbildung geringer ausfällt. Risse wurden auch dadurch vermieden, dass man die geschnitzten Figuren auf der Rückseite aushöhlte. Das im Vergleich mit dem Holz der Eiche großporigere Lindenholz bot darüber hinaus einen hervorragenden Malgrund.
Die Beliebtheit des Lindenholzes führte beim Ankauf natürlich zu einem höheren Preis, was sich...