Mein London
Bettina Prendergast
30 Millionen Besucher im Jahr können nicht irren. Rote Doppeldeckerbusse, Big Ben, St. Paul’s Cathedral und die Tower Bridge. London ist eine Stadt, die jeder einmal gesehen haben sollte und an der man bei jedem Besuch neue Seiten entdeckt. London ist immer in Bewegung und hält zugleich seine 2000-jährige Geschichte lebendig. Sie ist das Zuhause von 270 Nationen, über 300 Sprachen werden in der Stadt gesprochen. Die Metropole an der Themse ist ständig im Blick der Weltöffentlichkeit. Sie war Schauplatz der Finanzkrise 2008, Kulisse für die Königliche Hochzeit 2011 und Gastgeberin der Olympischen Sommerspiele 2012. London hat aber viel mehr zu bieten, als das Touristenauge wahrnimmt. Erst wenn man in dieser Stadt lebt und arbeitet, öffnet sich London wirklich und zeigt seine vielen Gesichter.
Mich verbindet mit London eine leidenschaftliche Hassliebe, London kann an einem Tag laut, hektisch und schmutzig sein und ist 24 Stunden später elegant, tolerant und unterhaltsam. Es ist eine Stadt der Gegensätze. Man lernt mit der Zeit diese Launenhaftigkeit, damit ist nicht nur das Wetter gemeint, geduldig wie alle anderen Londoner zu ertragen.
Der unterirdische Moloch
Die größte Hürde im Alltag beginnt gleich am frühen Morgen, dann zehrt London bereits an den Energiereserven seiner Bewohner. Wer in London wohnt, ist immer in Eile und meistens damit beschäftigt, einen Bus, einen Zug oder ein freies Taxi zu erwischen. Das größte öffentliche Verkehrsnetz Europas befördert Pendler an ihre Arbeitsplätze, mehr als eine Million Menschen strömen von außerhalb in die Stadt, Hauptschlagader des öffentlichen Verkehrs ist die 150 Jahre alte U-Bahn. Die „Tube“, wie sie von den Londonern genannt wird, ist ein fast unüberschaubares Labyrinth an Tunneln. Sie befördert die Pendler bis weit über die Stadtgrenzen hinaus in die umliegenden Grafschaften. Londons unterirdische Welt sorgt dafür, dass die Stadt nicht stillsteht, eine Meisterleistung, wenn die Linien funktionieren, ein Albtraum im Falle einer Panne. Es ist schon schlimm genug, zusammengepfercht mit Hunderten anderen in einem stickigen U-Bahn-Zug eine halbe Stunde durch die Stadt zu fahren, bleibt die „Tube“ jedoch stehen, ist Nervenstärke gefragt. Ich denke mit Bewunderung an die Leute in einem U-Bahn-Zug zurück, die eine sehr nervöse junge Frau beruhigten, als wir wegen eines technischen Defekts 40 Minuten bei brütender Hitze festsaßen – die meisten von uns standen. Die Frau hatte 2005 die Bombenanschläge auf die U-Bahn miterlebt, die Panne hat wohl diese traumatischen Ereignisse wieder an die Oberfläche gebracht und sie begann zu hyperventilieren. Ein Plastiksack zum Aus- und Einatmen und gutes Zureden haben geholfen, diese Panikattacke abzuwehren. Notfälle wie dieser setzen auch das ungeschriebene Gesetz außer Kraft, dass man unter gar keinen Umständen mit fremden Personen in der U-Bahn ein Wort wechselt.
Die Gesetze der Höflichkeit
Eine weitere eiserne Regel ist die Höflichkeit. Es ist selbstverständlich, in fast jeden zweiten Satz ein „Sorry“ oder „Excuse me“ einzuflechten. Ganz egal, ob man nun wirklich einen Fehler gemacht hat oder nicht. Es genügt schon, im Supermarkt einem anderen Einkaufswagen etwas zu nahe zu kommen, dann ist ein „terribly sorry“ mehr als angebracht. Tut man das nicht, muss man aber keine Rüge fürchten, der Londoner ist viel zu höflich, um sich über schlechte Manieren zu beschweren. Nur in einem Fall sind lautstarke Proteste vorprogrammiert. Es ist in der Tat eine Todsünde, sich in einer Schlange vorzudrängeln, sei es nun bei der Bushaltestelle oder vor der Imbissstube. Ob Lord oder Lagerarbeiter, keiner wird bevorzugt. Sollte es aus irgendeinem unerfindlichen Grund einmal keine Schlange geben, fragt der gelernte Londoner, wo die nächste Schlange sei. Ich werde das Gefühl nicht los, dass sie gerne anstehen, im Gegensatz zur U-Bahn ist ein reger Gedankenaustausch in der Schlange erlaubt, ja sogar erwünscht. Eine Freundin von mir hat beim Schlangestehen sogar ihren Lebensgefährten kennengelernt.
Pub-Kultur und Mittagstisch
Für soziale Zusammenkünfte eignet sich das Pub aber noch immer am besten. London hat eine unüberschaubare Zahl an solchen. Das Stammlokal liegt meist unweit vom Arbeitsplatz, wo man sich mit einem Ale oder Lager auf den Feierabend einstimmt und so der ungeliebten Rush Hour in der U-Bahn entgeht. Auch im Pub gibt es ungeschriebene Regeln, die im Umgang mit den Einheimischen unbedingt zu beachten sind. Gesellt man sich zu einer Gruppe dazu, fragt man, wer was trinken möchte. Im Pub bestellt niemand einzeln ein Getränk, man gibt Runden aus. Die Kunst besteht darin, den richtigen Moment für seine Runde abzuwarten, die Gläser dürfen nicht zu voll, aber auch nicht ganz leer sein, zwei Drittel leer sei ideal, sagte mir mein Kameramann Lee. Dann steht man – wenig überraschend – Schlange an der Bar. Diese Schlange ist wohl der härteste Prüfstein für einen zugewanderten Londoner. Sie ist ein unübersichtlicher Haufen, hat keine Struktur und lässt nicht erkennen, wo vorne und wo hinten ist. Trotzdem wissen die Wartenden genau, wer wann an der Reihe ist, im Zweifelsfall sollte man sich vom Pub Landlord hinter dem Tresen aufrufen lassen. Hat man das richtige Timing erwischt, leeren die Gäste gerade ihre Gläser, bis das frische Bier da ist. Ich wurde bei meiner ersten gelungenen Runde von den englischen Kollegen mit Applaus bedacht!
Während der Pub-Aufenthalt auch schon mal gerne bis Mitternacht dauern kann, ist die Mittagspause in London eine kurze, rastlose Angelegenheit. Die meisten Londoner machen um Touristen-Fastfood-Lokale einen großen Bogen, sie bevorzugen die sogenannten „Greasy Spoons“, die „Fettigen Löffel“, das sind Imbisslokale mit englischen Schnellgerichten. Auch hier gibt es keine Bedienung, die an die Tische kommt, die Köchin ruft die Bestellung auf, man springt von seinem Stuhl und holt sich pflichtschuldigst und sehr schnell seinen „Steak and Kidney Pie“ oder eben „Fish ’n Chips“. Ich persönlich kann die englische Hausmannskost nicht empfehlen, es sei denn, man hat eine Vorliebe für Fettiges und Frittiertes. Essen ist für Londoner in der Hektik des Alltags nicht besonders wichtig, sondern eher eine Notwendigkeit, um im Großstadtdschungel Energie zu tanken. Es gibt kein Wort für „Mahlzeit“ oder „Guten Appetit“ auf Englisch. Da in meinem Job Mittagspausen ohnehin eine Seltenheit sind oder eher in eine Drehpause fallen, verlege ich kulinarische Genüsse lieber aufs Wochenende.
Bürokratiedschungel
Oft fragt man mich bei meinen Österreich-Besuchen: „Wie lebt man denn so in London?“ Die kurze Antwort lautet: Ganz passabel, aber man braucht viel Geld und gute Nerven. Ich habe noch nie eine Stadt erlebt, die so viele unsinnige bürokratische Sicherheitsregeln hat wie London. Folgende Anekdote kann dies fabelhaft belegen.
Im Mai 2008 hatte Boris Johnson von den Konservativen überraschend die Bürgermeisterwahl in London gewonnen. Wir drehten eine Geschichte und filmten an der Themse vor dem Rathaus. Den besten Ausblick hat man von der Tower Bridge, deswegen positionierten wir die Kamera eben dort. Als ich vor laufender Kamera mit meiner Erklärung begann, wie es zu diesem Wahlerfolg gekommen war, wurden wir von einem Mitarbeiter der Brückenaufsicht verscheucht. Es sei viel zu gefährlich, hier zu drehen, sagte er. Ich könnte ja ins Wasser fallen und die Stadt verklagen. Drehen sei nur unter Aufsicht und mit einer Genehmigung der Stadt erlaubt, ich könne ja einen Antrag ausfüllen, der vermutlich innerhalb von einer Woche bearbeitet werde. Nun, dafür war leider keine Zeit, meine Geschichte musste ja noch am selben Tag auf Sendung gehen. Wir zogen also weiter und drehten vor dem Rathaus auf einem Gehweg. Da kam schon der nächste Sicherheitsbeamte und sagte höflich, aber bestimmt, dass wir hier kein Kamerastativ aufstellen dürften, weil jemand darüber stolpern könnte. Das sei zu gefährlich. Ich bettelte, doch nur fünf Minuten hier filmen zu dürfen, wir benötigten nur ein paar kurze Aufnahmen. Der Sicherheitsbeamte verwies mich auf ein Rasenstück keine fünf Meter vom Gehweg entfernt und sagte, wir sollten die Kamera dort aufbauen. Ich fragte nach dem Sinn der Sache. Der Mann antwortete, für die Sicherheit auf dem Rasen sei sein Kollege zuständig, der gerade Teepause mache, ich solle mich beeilen und filmen, bevor er wiederkomme.
Nach neun Jahren in London würde ich gerne behaupten, noch immer sehr „österreichisch“ zu sein. Ich koche mit Vorliebe Wiener Schnitzel, Käsespätzle und Gulasch, auch mein Mann (er kommt aus Irland) hat im Laufe der Zeit gelernt, die Spezialitäten aus meiner Heimat zu schätzen, seine Abneigung gegenüber Knödeln konnte ich ihm allerdings bisher nicht austreiben. Ich merke aber bei meinen Österreich-Besuchen, wie „englisch“ ich geworden bin. Ich ärgere mich mehr über unhöfliche Menschen und platte Witze. In London habe ich gelernt, zwischen den Zeilen zu lesen. Das ist manchmal mühsam, erleichtert aber den Umgang im Alltag wesentlich. Mein Kameramann Lee fragt vor einem Interview immer scherzhaft, ob ich nun die Fragen auf „englische“ oder „österreichische Art“ stelle. Die „österreichische Art“ ist für ihn, mit der Tür ins Haus zu fallen, „englisch“ bedeutet, um den heißen Brei herumzureden und erst vorsichtig auf den Punkt zu kommen. Ich habe mir im Laufe der Zeit eine Mischung aus beiden angewöhnt.
Trotz aller diplomatischen Bemühungen habe ich aber immer noch regelmäßige Auseinandersetzungen mit der Polizei vor dem Buckingham Palast. Jeder dahergelaufene Tourist darf mit einer Kamera den Palast den lieben...