I. Ursprünge und frühe Kulturen,
bis ca. 900 n. Chr.
Amerika ist der Erdteil der Wanderungen. Es gilt mittlerweile als gesichert, dass die ersten Menschen in die für sie neue Welt einwanderten, da sich dort bislang nur Überreste des Homo sapiens haben finden lassen. Wann die Wanderungen sich abspielten, woher und auf welchem Weg die Menschen kamen, ist wissenschaftlich nach wie vor umstritten. Größtenteils akzeptiert ist heute die These, dass eine Migration über eine eiszeitliche Landbrücke in der Beringsee aus Sibirien nach Alaska stattfand. Lange Zeit galten die archäologischen Funde von Projektilspitzen um den Ort Clovis im heutigen New Mexico, die bewiesenermaßen von ca. 11 500 v. Chr. stammen, als die ältesten Nachweise menschlicher Existenz. Wenn dies so war, wären Teile der Migranten in der Folgezeit rasch weiter nach Süden gewandert, um innerhalb der folgenden rund 1000 Jahre bereits Feuerland zu erreichen.
Diese relativ rasche Verbreitung über den gesamten Doppelkontinent gab Anlass zu Zweifeln. Seit 1997 hat sich die Vor-Clovis-These durchgesetzt, deren Anhänger seit Jahrzehnten behauptet hatten, dass die erste Besiedlung lange zuvor stattgefunden haben müsse, ohne dafür gesicherte Anhaltspunkte zu haben. Mit der Datierung der Funde im chilenischen Monte Verde auf das Jahr 12 500 v. Chr. sind die Zweifel an dieser These im Wesentlichen ausgeräumt. Die Arbeiten in Monte Verde zeigen, dass die Jäger und Sammler bereits in der Lage waren, ein provisorisches Dorf aus Tierfellen und Holz mit Gemeinschaftskochstellen anzulegen.
Diese Erkenntnis wird durch archäologische Funde der letzten Jahre in Brasilien erhärtet. So fanden sich in Zentralbrasilien, im Nordosten und in Amazonien Spuren, die zwischen 11 500 und 13.000 Jahre alt sind. Wie Monte Verde zählen sie zu den frühesten Zeugnissen menschlicher Präsenz im amerikanischen Doppelkontinent. Nur unwesentlich jünger, dafür aber wesentlich umfangreicher und aufschlusskräftiger sind die Fundstätten der Lagoa-Santa-Kulturen, die ihren Namen nach den im heutigen Bundesstaat Minas Gerais gefundenen menschlichen Überresten – darunter die berühmte 1975 entdeckte brasilianische Ikone «Luzia» aus Lapa Vermelha – haben.
Insgesamt lassen die neuesten Funde darauf schließen, dass die Wanderungen der ersten Menschen in Amerika entweder einige tausend Jahre vor der Clovis-Kultur stattgefunden haben oder dass es noch andere Migrationswege gegeben hat. Für letztere Version ist die Theorie aufgestellt worden, dass es eine Besiedlung übers Meer von Südostasien und Ozeanien aus gegeben habe. Doch bleibt die Frage, ob die ersten Amerikaner unterschiedliche Ursprünge hatten oder ob es sich um eine einzige Einwanderergruppe gehandelt hat, aus der heraus sich über die Jahrtausende die so heterogenen Bevölkerungen und Kulturen entwickelten, letztlich bislang unbeantwortet.
Bei den frühen Menschen in Amerika handelte es sich um Jäger und Sammler, die in erster Linie von der Megafauna lebten, doch starb diese mit dem Ende der Eiszeit ab ca. 10.000 v. Chr. aus. Fleischliche Nahrung stand vermutlich deshalb im Vordergrund, weil ihre Beschaffung weniger Risiken barg als pflanzliche. Andererseits ging durch die Jagd die Zahl der Tiere zurück, sodass die Gruppen gezwungen waren weiterzuziehen. Die These, dass die Menschen am Aussterben der Megafauna durch Überjagung schuld gewesen sein könnten, wird heute zumeist abgelehnt. Die Forschung geht davon aus, dass diese Entwicklung vor allem auf den Klimawandel und auf Veränderungen der Vegetation zurückzuführen ist.
Um das Jahr 8000 v. Chr. präsentierte sich Lateinamerika in seinen naturgeographischen Gegebenheiten so, wie wir es heute kennen. Diese Konstellationen und die archäologischen Funde lassen im Wesentlichen acht Großräume erkennen, die sich von Norden nach Süden, von Mesoamerika über ein Zwischengebiet aus Zentralamerika und dem nördlichen Südamerika, die Karibik, die Zentralanden, die Südanden, das tropische Tiefland und Ostbrasilien bis zum südlichen Kegel (Cono Sur) erstreckten. In den meisten Regionen setzte nun der Prozess der Sesshaftwerdung ein, wenngleich die Funde in Monte Verde lehren, dass dies punktuell auch schon vorher der Fall gewesen war. Es sind für diesen Zeitraum eine größere Bandbreite an Gerätschaften nachweisbar, die von Beilen bis hin zu Mahlwerkzeugen reichen. Auch die Jagdmethoden wurden ausgefeilter. Die Jagd nach Seesäugetieren erforderte Wasserfahrzeuge, die die Besiedlung von Karibikinseln wie Trinidad (um 5000 v. Chr.), Kuba und Hispaniola (um 3000 v. Chr.) – die Insel der heutigen Staaten Haiti und Dominikanische Republik – ermöglichte.
Insgesamt kam es zu einer Ausdifferenzierung der Kulturen. Entlang der Küsten sind Siedlungen mit Muschelhaufen entdeckt worden, die sich auf ca. 5000 v. Chr. datieren lassen. In diesem Zeitraum vollzog sich der Übergang vom Wildbeuter zum Sammler. Hinzu trat die stärkere Nutzung pflanzlicher Nahrungsmittel. Sammelte man zunächst noch Wildpflanzen, so konnten bald die ersten Kulturpflanzen genutzt werden. Funde aus Mesoamerika und der zentralen Andenregion zeigen, dass es sich dabei um Speisekürbis, Chili-Pfeffer, Avocado, Bohnen und Knollenfrüchte handelte. Selten lässt sich allerdings eindeutig klären, ab wann es sich tatsächlich um Kulturformen handelte. Dieses Problem stellt sich beispielsweise bei der botanischen Bewertung der ältesten Funde der Maispflanze in Mexiko um 5000 v. Chr. Der Anbau von Mais, der für die amerikanischen Kulturen sehr wichtig werden sollte, breitete sich wohl relativ schnell sowohl nach Süden als auch nach Norden aus.
Die frühen Formen des Pflanzenanbaus dienten der Ergänzung der Nahrungsversorgung. Bedingte der Nahrungserwerb anfangs noch das jahreszeitliche Wandern, so setzte sich mit der Zeit eine Wirtschaftsweise durch, die durch das Anlegen von Vorräten einen längeren Aufenthalt in ein und derselben Region ermöglichte. Das machte die Anlage von Siedlungen mit festen Unterkünften notwendig, von denen frühe Überreste (um 3500 v. Chr.) beispielsweise an der peruanischen Küste und in Ecuador gefunden wurden.
Im zentralen Andenraum kam es bereits sehr früh zur Viehhaltung (Lama, Meerschweinchen). Es entstanden besondere Bauten wahrscheinlich für Sakralzwecke, die sich im dritten vorchristlichen Jahrtausend in der Region verbreiteten. Auf die Existenz von Dauersiedlungen weist auch die Anlage von Friedhöfen hin. Was die Bestattungsformen angeht, so haben die künstlichen Mumien der Chinchorro-Kultur im Norden des heutigen Chile (ca. 5000 v. Chr.) besonderes Aufsehen erregt, da sie zu den weltweit ältesten Exemplaren zählen. Rechnet man hinzu, dass technische Erfindungen wie die Metallverarbeitung, die Weberei und das Töpfern auf das vierte und dritte vorchristliche Jahrtausend zu datieren sind und dass Funde aus diesem Zeitraum auf Handelstransaktionen verweisen, dann lässt sich das Ausmaß des Wandels bis 2000 v. Chr. ermessen. Besonders interessante Funde haben Archäologen in den letzten Jahren im bis dahin kaum erforschten Amazonasbecken gemacht. So fanden sich im nördlichen Küstengebiet des Bundesstaats Maranhão Keramiken, die mindestens 5500, vielleicht sogar 7000 Jahre alt sind. Es handelt sich dabei höchstwahrscheinlich um die ältesten Keramikfunde des amerikanischen Doppelkontinents. Wahrscheinlich ist auch, dass der Maniok, der vor rund 4000 Jahren erstmals in Peru angebaut wurde, ursprünglich aus dem Amazonasbecken stammte.
Bereits ca. 1800 v. Chr. wurden an der peruanischen Küste Bewässerungssysteme angelegt. Auf dieselbe Zeit lassen sich die frühesten Funde von Keramiken im heutigen Südmexiko (Chiapas), Guatemala und in der zentralen Andenregion datieren. Im Andenraum entwickelte sich im zweiten vorchristlichen Jahrtausend die Bearbeitung von Metall etwa durch Löten, Gießen und Legieren entscheidend weiter. An der Verbreitung von Techniken und Nutzpflanzen lässt sich die Zunahme der Austauschbeziehungen ablesen. Der Handel bildete eine Grundlage für die Entstehung religiöser und künstlerischer Zentren, die an der Küste und im Hochland des Andenraums bereits auf das vierte Jahrtausend v. Chr. zurückzuführen sind. So entstand im Casma-Tal am Cerro Sechín eine frühe Monumentalarchitektur. Ab ca. 1100 v. Chr. war Chavín de Huántar im nördlichen Peru mit seinem Stil prägend und gab einer Kultur ihren Namen, deren Architektur, Skulptur und Keramik lange dominant blieben.
Eine ähnliche formative und überregional verbindende Rolle wie Chavín in Südamerika spielte ungefähr zur selben Zeit die Kultur der Olmeken in Mesoamerika. Die wichtigsten Zeremonialzentren La Venta, San Lorenzo und Tres Zapotes lagen an der südlichen Golfküste des heutigen Mexiko. Die Steinreliefs und Pyramidenbauten in dieser Region deuten darauf hin, dass es sich um ein frühes Staatswesen mit Handelsbeziehungen bis nach Costa Rica handelte, von wo man Jade und Kakao importierte. Die Olmeken entwickelten nicht nur einen Kalender mit 260 Tagen, sondern auch Ansätze zu einer Schrift.
Nahe den olmekischen Kerngebieten kam es in...