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Das Zeugenhaus

Nürnberg 1945: Als Täter und Opfer unter einem Dach zusammentrafen

AutorChristiane Kohl
VerlagGoldmann
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783641153403
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Opfer und Täter unter einem Dach: Schuld und Sühne 1945
Im November 1945 beginnt in Nürnberg der Prozess gegen die hohen Repräsentanten der NS-Diktatur. Eine Villa am Stadtrand dient als Gästehaus für Zeugen der Anklage sowie der Verteidigung. Auf engstem Raum treffen Schuldige, Mitläufer, Opfer und solche, die sich immer arrangieren, aufeinander. Christiane Kohl recherchierte die ungeheuerlichen Vorgänge im Haus und erzählt hautnah von der dramatischen Verstrickung jedes Einzelnen in jenem Augenblick, als die Welt über Deutschland zu Gericht saß.

CHRISTIANE KOHL studierte Politik und Germanistik, arbeitete als Bonner Korrespondentin des Kölner »Express«, als Pressesprecherin im Hessischen Umweltministerium und schließlich als Redakteurin und Reporterin beim »SPIEGEL«. Von 1995-2005 berichtete sie als Italien-Korrespondentin aus Rom, zunächst für den »SPIEGEL«, dann für die »Süddeutsche Zeitung«. Nach weiteren acht Jahren als SZ-Korrespondentin für Ostdeutschland lebt sie heute als freie Schriftstellerin in Nordhessen.

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Leseprobe

Zwei Gästebücher und ein Verdacht


Wenn mein Freund Wolfgang nicht dabei gewesen wäre, hätten die beiden alten Herren wahrscheinlich gar nicht angefangen, davon zu erzählen. Aber so begannen sie plötzlich, sich gegenseitig zu überbieten mit ihren Geschichten. Wir saßen am großen Fenster im alten Mühlenraum meines Elternhauses, einer ehemaligen Wassermühle, die vor vielen Jahren zu einem großzügigen Wohnhaus umgebaut worden war. Tagsüber bot sich von dort ein herrlicher Blick in das Grün der Landschaft. Jetzt aber war es dunkel, nur das fahle Licht unserer Tischlampe beleuchtete die am nahe gelegenen Bach stehenden Bäume, die sich wie düstere Gestalten aus dem schwarzen Brei der Nacht hervorhoben. Mein Vater hatte eine gute Flasche Wein aus dem Keller geholt, und so saßen wir in munterer Runde, als das Gespräch die heiklen Themen der Vergangenheit berührte.

Vom Krieg hatte mein Vater schon früher erzählt, von seiner Gefangenschaft und den drei Abschüssen als Sturzkampfflieger. Doch was er nun berichtete, war von anderer Art. Mein Vater wirkte verlegen, er lachte immer mal wieder, während er über jene unruhigen Tage im Berlin der 30er Jahre erzählte, als er dort Jura studierte. Die Nazizeit, das war die Zeit seiner Jugend gewesen, und er hatte sie – dessen war ich mir stets sicher gewesen – nicht unbeteiligt an den Ereignissen durchlebt. Wann immer ich ihn jedoch danach fragte, nie hatte ich eine konkrete Antwort erhalten.

An diesem Abend aber war alles anders. Da breitete mein Vater detailliert Erlebnisse aus seinem Alltag im Nationalsozialismus vor uns aus, in einer Offenheit, wie ich sie noch nie an ihm beobachtet hatte. Auch Bernhard, unser Hausfreund, gab, davon angeregt, immer neue Anekdoten zum Besten. Bernhard von Kleist war damals 79 Jahre alt, hatte wasserblaue Augen und einen leichten Gehfehler, der von einer Kriegsverletzung herrührte. Seit einigen Jahren lebte er im Haus meiner Eltern, der Bärenmühle in Nordhessen. Er war der Unterhalter unserer Mutter, die sich ihr Leben lang vor nichts so sehr gefürchtet hatte wie vor Langeweile.

Es kam immer mal wieder zu Eifersüchteleien zwischen Bernhard und meinem Vater. In diesem Augenblick aber herrschte vollendete Harmonie zwischen ihnen. Beide erzählten sie ohne Pause, und nur das Kaminfeuer knisterte zuweilen so laut, dass es den Redefluss der Männer übertönte. Unsere Mutter drehte sich demonstrativ dem Flammenspiel zu, sie konnte es nicht leiden, wenn sich die Gespräche im Hause ernsthafteren Themen zuwendeten. Mein Freund Wolfgang Korruhn, ein bekannter Fernsehreporter, wollte einen Dokumentarfilm über die Verwicklungen des Chemiekonzerns IG Farben in die systematische Vernichtung der Juden durch die Nazis drehen. Bernhard von Kleist erwies sich in diesem Zusammenhang als interessanter Gesprächspartner, denn er war Dolmetscher bei den Nürnberger Prozessen gewesen. Wir saßen noch lange zusammen. Später in der Nacht machte ich mir Notizen, und so weiß ich noch heute so ziemlich jede Einzelheit, die an diesem 31. August 1980 gesprochen wurde.

Bernhard war kurz in seinem Zimmer verschwunden und tauchte bald darauf mit einem etwas abgegriffen wirkenden Album unterm Arm wieder auf. Das Buch war in hellbraunes Leder gebunden, das von einer dünnen Goldlinie gerahmt wurde, auch die Blattränder waren mit einer hauchdünnen Goldschicht eingefasst. Vorsichtig, als würde er ein Schatzkästlein öffnen, klappte der alte Herr die beiden Buchdeckel auseinander. Leicht vergilbte Buchseiten kamen zum Vorschein, die mit vielerlei Handschriften bekritzelt waren – das braune Lederbändchen war ein Gästebuch. Behutsam blätterte Bernhard von Kleist darin und hatte im Nu mehrere Einträge gefunden, mit denen sich Herren der IG Farben in lauteren Sprüchen verewigt hatten. Da dankte ein Chemiemanager in schnörkeligen Schriftzügen »für das Versüßen bittrer Stunden«. Im Nürnberger Gerichtsgebäude, so konnte sich von Kleist noch dunkel erinnern, hatte der Mann über die Entwicklung des Zyklon B Auskunft geben müssen, jenes Rattengiftes, mit dem Millionen Menschen in den Vernichtungslagern getötet worden waren.

Es gab viele Namen in dem Gästebuch. Einige waren in großzügigen Bögen aufs Papier geworfen und kaum zu entschlüsseln. Andere konnte ich beinahe auf den ersten Blick entziffern. Robert Havemann hatte sich eingetragen, ein Widerstandskämpfer gegen das NS-Regime, der später in der DDR zum Dissidenten wurde. Ein paar Blätter weiter las ich die Unterschrift von Fritz Wiedemann – »ein ehemaliger Adjutant von Adolf Hitler«, wie Bernhard auf meinen fragenden Blick hin erklärte: »Er ist uns ein guter Freund geworden«, fügte er fast stolz hinzu. Der Publizist Eugen Kogon, der lange im Konzentrationslager Buchenwald gesessen hatte, war im Gästebuch ebenso vertreten wie ein Mann namens Edinger Ancker, der ausweislich seiner Eintragung ein Mitarbeiter des berüchtigten NSDAP-Chefs Martin Bormann gewesen war. Ich sah den schmissigen Namenszug von Rudolf Diels, dem »Gründer der Gestapo«, wie von Kleist eilfertig erklärte. Und ich las die krakelige Handschrift einer Gisa Punzengruber, unter deren Namen jemand mit Bleistift den Hinweis »KZ-Zeugin« angefügt hatte.

Immer weiter blätterte ich in dem Buch, und langsam fühlte ich einen leisen Schauer unter der Haut: Wie hatten sich diese höchst unterschiedlichen Menschen so kurz nach dem Ende der NS-Zeit in einem gemeinsamen Gästebuch verewigen können? Wer hatte diese Leute zusammengebracht, und warum?

Das Gästebuch stammte aus einem Zeugenhaus, das während der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse eingerichtet worden war. Die Zeugen waren in zwei nebeneinander stehenden Villen am Nürnberger Stadtrand untergebracht, berichtete von Kleist. Seine Frau Annemarie, die längst verstorben war, habe zeitweise als Leiterin der Häuser fungiert. Es musste eine schier unglaubliche Atmosphäre dort geherrscht haben, denn wie die Eintragungen im Gästebuch belegen, hatten NS-Funktionäre und einstige Widerstandskämpfer gleichzeitig unter einem Dach gewohnt. Während sich Täter und Opfer der Nazizeit andernorts mühelos aus dem Weg gehen konnten, saßen sie hier ab Herbst 1945 praktisch Abend für Abend gemeinsam an einem Tisch.

»Wie war die Stimmung?«, platzten Wolfgang und ich beinahe gleichzeitig heraus, wir wollten jetzt jede Einzelheit über diese merkwürdige Herberge erfahren. Doch von Kleist reagierte mit spürbarer Zurückhaltung: »Es wurde viel Bridge gespielt«, meinte der alte Herr gedehnt, während er an seiner Zigarette zog, »man rauchte Zigarren, trank amerikanischen Whiskey und diskutierte über die Fragen der Zeit.« »Selbstverständlich«, fügte er in pedantischem Ton hinzu, »wussten die Herren sich auch in schwierigeren Situationen zumeist wie Gentlemen zu benehmen.«

Wolfgangs Film über die IG Farben wurde, soweit ich weiß, nie realisiert. Doch für mich gab der Abend in der Mühle den Anstoß zu einer Recherche, die mich über viele Jahre beschäftigen sollte. Was hatte sich in jenem Haus abgespielt, in dem sich so kurz nach dem Krieg deutsche Geschichte im Wortsinne ganz hautnah vollzogen hatte? Auf den vergilbten Seiten von Bernhards Gästebuch war festgehalten, was in keiner Gerichtsakte dokumentiert ist: die privaten Ängste und Selbsttäuschungen von Menschen, die während der NS-Zeit mitschuldig wurden, ebenso wie die Bitternis und Wut überlebender Naziopfer. Die Gäste in dem Zeugenhaus – so war mein erster Gedanke – hatten auf engstem Raum durchlebt, was die Deutschen noch heute beschäftigt: Diskussionen über die Naziverbrechen, Schuldzuweisungen, Selbstverleugnungen – und immer wieder die Frage, warum das Unglaubliche hatte geschehen können.

Einer der Männer, die das Haus gut gekannt hatten, war Robert M.W. Kempner gewesen. Der einstige US-Ankläger war nach dem Ende der Nürnberger Prozesse in Deutschland geblieben, er unterhielt eine Anwaltspraxis in Frankfurt. Einige Jahre nach dem Abend in der Mühle traf ich ihn in einem Hotel in Königstein, wo er damals vorzugsweise residierte. Das Hotel Sonnenhof war eine prächtige, mit Türmchen und Erkern versehene Villa, die in einem riesigen Park lag und einen herrlichen Blick in die Landschaft bot.

Im Innern atmete das Haus freilich einen etwas verblichenen Charme, die Polstermöbel wirkten durchgesessen, die Bezüge waren abgenutzt. Kempner hatte im »Grünen Salon« Platz genommen, einem mit einer großen Fensterfront ausgestatteten Raum. Neben ihm saß seine langjährige Assistentin Jane Lester, die ich später noch häufiger treffen sollte. Die beiden waren ein nicht alltägliches Paar: Kempner, damals schon Ende 80, hatte schlohweißes Haar, seine Augen schauten aus tiefen Höhlen hervor, doch er saß aufrecht in seinem Stuhl und schien immer noch der Poltergeist zu sein, der er während der Nürnberger Prozesse gewesen war. Jane Lester, eine zierliche Person mit langem, grauweißem Haar, die seit den Tagen von Nürnberg für Kempner arbeitete, musste in ihrer Jugend eine sehr gut aussehende Frau gewesen sein. Jetzt wirkte sie zurückhaltend, doch es war unschwer zu erkennen, dass eigentlich sie die Zügel in der Hand hielt.

Kempner erinnerte sich noch lebhaft an das Haus und seine Gäste. Es sei »ein Kunststück für sich gewesen«, die politisch völlig unterschiedlich beheimateten Zeugen »einfühlsam unterzubringen«, hatte er schon in seinen Memoiren geschrieben. Jetzt erzählte Kempner, dass es in dem Haus zuweilen auch recht turbulent zuging. Einzelne Bewohner seien immer mal wieder durch Damenbekanntschaften aufgefallen, als deren Folge sich dann allerlei Verwicklungen ergeben hätten, sowohl im Hause als auch außerhalb, berichtete der alte Herr schmunzelnd. Wenn der etwas schwerhörige Kempner mal...

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