[72]2 Die Tricks der Gedächtniskünstler
Sie wissen, es gibt Olympiaden der Gedächtnisriesen. In den meisten Fällen sind diese Menschen nun keine Naturbegabungen, sondern sie setzen „Mnemotechniken“, bestimmte Lerntechniken, ein. Auch der Normalmensch kann ganz ungewöhnliche Gedächtnisleistungen vollbringen, wenn er diese Mnemotechniken einsetzt. Zum Teil waren diese schon in der Antike bekannt, gerieten dann aber wieder in Vergessenheit und wurden erst in den letzten Jahrzehnten wiederentdeckt.
Allerdings beziehen sich die hier vorgestellten Techniken immer auf einen bestimmten Lernstoff: z. B. Wortreihenfolgen, Zahlen oder Vokabeln. Nur wenn solche Elemente in einem Lernstoff vorkommen, dann sind sie sehr nützlich.
Dem einen oder anderen Leser mögen die nun folgenden Gedächtnistricks zunächst künstlich und recht kompliziert erscheinen. Man will ja Lernaufwand sparen und nicht zusätzlichen betreiben. So wird man gar nicht erst ausprobieren, ob die beschriebenen Verfahren nützlich sind. Tatsächlich sind sie aber außerordentlich wirkungsvoll.
2.1 Die Loci-Technik
Mit der hier beschriebenen Loci-Technik kann sich jeder fast mühelos lange Wortlisten bzw. Aufzählungen und Gliederungen merken. Meinen Studenten gelingt es nach einer kurzen Instruktion meist schon bei der ersten Anwendung, sich eine Liste von 50 und mehr Wörtern bei nur einmaligem Hören zu merken – und das sogar in der richtigen Reihenfolge. Kaum ein Mensch kann das ohne diese Lerntechnik. Wenn Studenten diese Gedächtnistricks anwendeten, leisteten sie Ähnliches wie ein berühmter, in der Literatur beschriebener Gedächtniskünstler.
Allerdings muss man der Technik erst einmal etwas Vorschuss geben und sie wirklich ausprobieren. Also frisch ans Werk. Vollziehen Sie einmal [73]eins der Beispiele nach und nehmen Sie sich dann einen Lernstoff vor (natürlich muss das eine Liste von Begriffen sein), den Sie sich immer schon merken wollten. Vielleicht fangen Sie mit einer Einkaufsliste an. Vorher sollten Sie die Technik nicht beurteilen.
Einige andere Autoren bewerten diese Techniken nicht sehr gut. Das liegt nach meiner Meinung aber daran, dass sie nur darüber gelesen haben und das Verfahren eben nicht selbst ausprobierten.
Über die erfreuliche Effektivität hinaus kann die Loci-Technik auch noch die Motivation zum Lernen fördern. Mit Jugendgruppen, in Schulklassen, aber auch in Seniorenkursen (auch für diesen Personenkreis wurde die außerordentliche Wirksamkeit nachgewiesen) lässt sich geradezu ein Freizeitprogramm mit dieser Lerntechnik gestalten. Innerhalb eines Lernvorhabens ist es auch recht abwechslungsreich, einmal zu einer so ungewöhnlichen Lernweise zu greifen.
2.1.1 Lernen von Wortlisten mit der Loci-Technik
Hier wird nun das Vorgehen im Detail und mit Beispielen beschrieben. Tatsächlich lässt es sich in einem Satz mitteilen: Die Stichwörter einer zu lernenden Liste müssen bildhaft mit den Orten eines gut bekannten Weges verbunden werden.
Was heißt „bildhaft verbinden“?
Man macht sich ein Vorstellungsbild von dem Wort und verschmilzt es mit dem Vorstellungsbild des Ortes. Manche Wörter sind ohne weiteres bildhaft vorstellbar: etwa das Wort „Löffel“. Wenn dies nun das erste Wort einer Stichwortliste wäre, würde man es bildhaft mit dem ersten Ort (z. B. Haustür) der Reihenfolge verbinden, also konstruiert man z. B. eine Vorstellung von der Haustür, durch die ein riesiger goldener Löffel ragt.
Diese Vorstellung ist etwas bizarr. Die bildhaften Verbindungen der Stichwörter mit den Orten sind ja auch keine wirkliche Sache, sondern [74]öffnen Raum für die Phantasie und Kreativität. Später folgen einige Regeln, wie Verbindungs-Bilder konstruiert sein sollten, damit man sie später wieder gut erinnert.
Mit abstrakten Wörtern hat man natürlich ein Problem: Manchmal gibt es für Wörter keine Vorstellungsbilder. Dies gilt speziell für abstrakte Begriffe wie z. B. „Freiheit“ oder „Relation“. Dann gehört etwas Phantasie dazu, ein Bild zu finden, das dennoch möglichst eindeutig zu diesem Begriff führt. Bei dem zu lernenden Begriff „Freiheit“ bietet sich z. B. das Vorstellungsbild der Freiheitsstatue an, bei Relation z. B. das Bild eines mathematischen Bruchs, eventuell aber auch eines Steinbruchs, in dem die Größen aller Steine in einer bestimmten Relation stehen. Bei solchen Hilfskonstruktionen sind aber die Beziehungen zwischen Begriff und Bild weniger sicher, so dass es hier und da zu falschen Ablesungen aus der Vorstellung kommen kann. Daher muss der Abruf von abstrakten Wortlisten etwas häufiger wiederholt werden.
Es gibt auch Wörter, die kein Vorstellungsbild haben und auch kaum eine Assoziation erlauben, wie z. B. die medizinischen Bezeichnungen von Muskeln (die sich natürlich im Aussehen auch nicht ausreichend unterscheiden, um entsprechende Vorstellungsbilder zu verwenden).
Ein besonderes Ungetüm an Namen bietet ein kleiner Muskel am Hals. Er heißt „sterno-cleido-mastoideus“. Wie kann man dazu ein Vorstellungsbild finden? Jetzt gibt es einen weiteren Kunstgriff, der auch später noch für das Lernen von Vokabeln und von Fremdwörtern verwendet wird. Man muss einen weiteren Umweg machen. Man sucht nach einem ähnlich klingenden Wort oder einer kleinen Wortfolge, die dann eine Bildvorstellung ermöglicht. Hier zum Beispiel würde die kleine Wortfolge „Sternkleid am Mast“ ausreichend ähnlich klingen, um dann als Assoziation den Muskelnamen ins Gedächtnis zu rufen. Die Bildvorstellung lässt sich nun wieder leicht mit einem Ort der Ortsreihenfolge verbinden.
Wie findet man die richtige Ortsreihenfolge?
[75]a) Einen bekannten Weg aussuchen
Jeder von uns kennt viele Wege, die er in seinem Alltag oft gegangen ist. Dabei hat sich die Umgebung, haben sich die verschiedenen Orte des Weges eingeprägt. So ein Weg kann nun genutzt werden: z. B. der Weg von der eigenen Wohnung zur Schule, zur Universität, zum Arbeitsplatz, der Weg zum nächsten Bäcker/Kiosk oder zum Supermarkt usf. Auch die Zimmer der Wohnung, die Glieder vom Scheitel bis zur Sohle, die Schubladen einer Kommode, die Bücher, die in einer Reihe im Bücherbord stehen, all dieses kann gut zur Ortsreihenfolge werden. Die Reihenfolge dieser Orte ist nur allzu gut bekannt.
Je nach Anzahl der zu lernenden Begriffe müssen nun auf diesem Weg der Reihe nach eine Zahl von gut unterscheidbaren Orten ausgesucht werden. Dazu lassen Sie den Weg vor Ihrem inneren Auge ablaufen und schreiben sich alle auffälligen Orte auf, denen Sie in der Vorstellung begegnen. Dieselben Orte werden Ihnen ja vermutlich auch wieder einfallen, wenn Sie diese Prozedur beim Abruf der Liste wiederholen.
Nachdem Sie nun wissen, wie man eine Ortsreihenfolge etabliert, könnten Sie nun auch innerhalb des Autos (z. B. beim Herumblicken in Uhrzeigerrichtung), im Arbeitszimmer (Rundgang in Uhrzeigerrichtung) oder im Kleiderschrank eine Ortsreihenfolge herstellen, ja sogar eine Ortsreihenfolge innerhalb des eigenen Körpers wäre möglich! Sind Objekt und Ort unterschiedlich groß, kann man sie in der Vorstellung, quasi wie mit einem Zoom-Objektiv, ganz mühelos aneinander anpassen.
Man sieht also: es gibt sehr viele mögliche Ortsreihenfolgen.
b) Die Orte auf dem Weg bestimmen
Auf dem von Ihnen gewählten Weg müssen Sie nun – je nachdem wie viele Begriffe Sie mit dieser Liste lernen wollen – mehr oder weniger Orte aussuchen. Davon hängt ab, wie die „Prominenz“, die Auffälligkeit des einzelnen Ortes ausfallen wird. Müssen z. B. auf demselben Weg sehr viele Ort gefunden werden, kann man manchmal Wiederholungen (z. B. Ampeln, Kreuzungen, Bahnübergänge) nicht ganz vermeiden. [76]Es ist aber günstig, wenn die ausgewählten Orte sich gleichmäßig über die Wegstrecke verteilen und nicht nur in der ersten Hälfte oder am Ende des Weges liegen. Die Orte sind natürlich in dem Sinne auch nicht die wirklich – objektiv – auffälligsten Plätze eines Weges, sondern solche Orte, die Ihnen persönlich ins Auge fallen. Ein Sportler wird immer das Sportgeschäft auf seinem Weg beachten. Insofern kann er sicher sein, dass er es auch beim inneren Durchschreiten des Weges in der Vorstellung auffindet. Bei einem Musikfan ist es dagegen z. B. der große CD-Laden, an dem er nie vorbeigeht, ohne in die Auslage zu schauen.
Wenn man später in Gedanken den Weg abläuft, sollen ja die richtigen Orte zu einem Aufklingen des geformten Vorstellungsbildes führen. Daher ist es nützlich, wenn die gewählten Orte visuell auffällig sind. Der Ort selbst braucht nicht groß zu sein, es muss auch nicht die ganze visuelle Szene sein, die für die Konstruktion des Bildes verwandt wird. Auch eine Blume oder die besonders schöne Tür eines großen Hauses oder ein auffälliger Kanaldeckel können geeignete Orte sein. Sie müssen nur ausreichend auffällig sein und daher beim Abarbeiten des We ges in der Vorstellung auffallen. Nachdem Sie also nun aus einem Weg eine Anzahl von Orten bestimmt haben, prüfen Sie am besten erst einmal, ob Sie beim neuerlichen Abschreiten des Weges in der Vorstellung auch alle ausgewählten Orte richtig wiedererkennen (und nicht irrtümlich auch noch andere Orte aussuchen oder ausgesuchte Orte weglassen).
c) Ein wirklich gut bekannter Weg: Eine kleine Vorstellungsreise am eigenen Körper entlang
Das Beispiel wählt einen Weg aus, der ganz ungewöhnlich scheint, der aber in seiner Reihenfolge – wie Sie sofort bemerken – außerordentlich gut gelernt...