1. STATION Was passiert, wenn die weibliche Seite Gottes, der Sohn Gottes und der Gesandte Gottes eine sexy junge Deutsche treffen, die den Arabern hilft, weil sie die Juden liebt?
»Don’t Worry, Be Jewish« und »Free Palestine« steht auf zwei der vielen gegensätzlichen T-Shirts, die mir in einem Souvenir- und Klamottenladen auffallen, nachdem ich auf der anderen Seite jener Stadtmauer angekommen bin, die der osmanische Sultan Süleyman der Prächtige auf den zerstörten Mauern früherer Zeiten um die Altstadt herum errichten ließ.
Innerhalb der Mauern, dort wo ich herumspaziere, ist der Suk. Was ist ein Suk? Die meisten Wörterbücher definieren dieses Wort als Markt, aber nur deshalb, weil den Übersetzern eine lebhafte Vorstellungskraft abgeht. Eine bessere Übersetzung wäre »antike Shoppingmall«. Jawohl. Aber kommen Sie besser nicht hierher, wenn Sie auf der Suche nach einem pinken Bikini oder einem iPhone sind; für so etwas ist das hier nicht der richtige Ort. Man sollte hierherkommen, wenn man nach einer Jungfrau Maria aus nativem Olivenholz sucht – bitte fragen Sie mich nicht, was das ist – oder wenn man in der Stimmung ist, Gewürze zu riechen, die es sonst nur im Himmel gibt. Die Architektur dieses Suk wird Sie an Legenden und Mythen glauben lassen. Dieser Suk ist ziemlich düster, aus uralten heiligen Steinen erbaut, mit Gewölben und Bögen, wohin man schaut, und wenn die Händler nicht für alles, worauf das Auge fällt, Mondpreise verlangen würden, könnte man meinen, man sei im Paradies.
Wobei, ein Rotlichtviertel würde hier eigentlich sehr gut hinpassen. Ich jedenfalls kann es mir lebhaft vorstellen.
Ein paar Schritte vor mir steht eine Gruppe junger Männer und Frauen. Es scheinen Touristen zu sein, mit Fotoapparaten und Stadtplänen, und ich hänge mich an sie dran. Keine Ahnung, wo sie hinwollen, aber da sie offensichtlich an einer bezahlten Führung teilnehmen, lohnt es sich wahrscheinlich, und ich mische mich unter die Gruppe.
Bald wird mir ihr Ziel klar. Sie wollen sich den Klagemauertunnel ansehen, der entlang der Westmauer führt, einem Überrest der heiligsten Stätte des Judentums. Auch unter dem Namen Klagemauer bekannt, ist dies der Ort, an dem sich seit den letzten 2000 Jahren die Schechina befindet, die Gegenwart Gottes. Was ist die göttliche Präsenz? Ganz klar ist das nicht, obwohl man sie für gewöhnlich mit der weiblichen Seite Gottes in Verbindung bringt. Einige Mystiker gehen noch einen Schritt weiter und behaupten, sie sei Gottes Frau.
Ein Mann, vermutlich der Touristenführer, bringt uns zu den archäologischen Pfaden, die tief unter der Erde liegen. Wir sind direkt neben dem Har haBait, dem Tempelberg, auf dem einst der jüdische Tempel stand. Zweimal haben Feinde der Juden den Tempel zerstört, sagt der Mann, aber erst möchte er uns etwas über die Geschichte des Berges selbst erzählen, eine Geschichte, die tausende Jahre vor der Tempelzeit liegt.
Nein, der Times Square ist das nicht, sagt mir meine geniale Intuition. Ich bin in einer anderen Welt. Die Show, die hier gleich geboten wird, hat mit einem Broadway-Musical nichts zu tun.
Der Mann erzählt: »Die ganze Schöpfung nahm hier ihren Anfang. Das Universum wurde auf diesem Berg aus einem Felsen erschaffen, und hier prüfte Gott Abraham, indem er ihn aufforderte, seinen einzigen Sohn zu opfern.« Der biblische Garten Eden befand sich hier, und hier streifte auch der erste Mensch, Adam, umher, bis Gott ihn einschlafen ließ und aus einer seiner Rippen eine Frau erschuf. Und so liefen hier denn auch Adam und Eva nackt durch die Gegend, liebten sich Tag und Nacht und begründeten die Menschheit. Auf diesem Heiligen Berg also wurden die Sexualhormone aktiv. Genauer betrachtet heißt das ja, dass hier das erste Rotlichtviertel der Geschichte entstand.
Nein, im Ernst: Hier liegen die Anfänge Ihrer und meiner Kultur. Ganz gleich, ob Sie oder ich an Gott glauben oder nicht, ist dieser Berg der Ort, an dem die Grundlagen unserer gemeinsamen Kultur entstanden. Ohne diesen Berg und ohne dieses Land gäbe es kein Judentum, kein Christentum, keinen Islam, keine europäische Kultur, keine amerikanische Kultur, keine ›westliche‹ Kultur, wie wir sie kennen, und keine ›östliche‹ Kultur, wie sie heute praktiziert wird. Ohne diesen Berg und das, was auf und unter ihm stattfand, könnte immer noch Buddha auf die Welt gekommen sein, könnte es immer noch Kannibalen geben und könnten Sie und ich heute fanatische Anhänger des Elefanten, des Steins, des Winds oder der Sonne sein.
Wir sind am Anfang des Tunnels, und der Mann, der in der Tat ein Fremdenführer ist, bedient sich hölzerner Miniaturen, die er vor sich, und einer Videoanimation, die er hinter sich hat. Er erklärt uns alles, während Bilder des zerstörten Tempels auf dem Bildschirm und in Form eines Holzmodells auf dem Tisch vor ihm erscheinen. Er erzählt uns, dass der zweite Tempel, der im Jahr 70 von den Römern zerstört wurde, seinerseits auf den Ruinen des ersten Tempels errichtet worden war, den die Babylonier 586 v.Chr. zerstört hatten:
»Genau hier, wo wir stehen, wurde der Tempel bis auf die Grundfesten niedergebrannt.«
Auf dem Bildschirm sehen wir, wie loderndes Feuer den zweiten Tempel verzehrt.
»Der Tempel wurde von König Herodes erbaut, der eine unbekannte Zahl von Fachkräften beschäftigte, um dieses massive, prachtvolle, kolossale Bauwerk zu errichten.«
Langsam zerfällt der Videotempel in Stücke – bis auf eine Mauer. Der Fremdenführer nimmt ein kleines Holzgebilde in die Hand, eine Moschee, und stellt sie auf die Ruinen.
»Viele Jahre später errichteten die Muslime direkt auf dem zerstörten Tempel eine Moschee.«
In der Tat, das ist keine Broadway-Show. Wenn überhaupt, dann handelt es sich um eine Off-off-off-Broadway-Vorstellung. Eine Show aber ist es nicht. Die kleinen Bilder, mit denen dieser Reiseführer hantiert, haben schon Millionen von Menschen das Leben gekostet. Und es ist sehr wahrscheinlich, dass viele weitere Millionen diese Tradition auch in Zukunft fortsetzen werden.
Ein Mann in einem »Peace«-T-Shirt hört aufmerksam zu. Ein jugendlicher Tourist gähnt; vermutlich vermisst er seine Facebook-Freunde.
»Hat irgendjemand Fragen?«, fragt der Führer.
Als ich noch ein frommer Knirps war, habe ich mich immer über zwei biblische Statuen gewundert, die Cherubim, die sich in einem als »Allerheiligstes« bezeichneten Bereich des Tempels befanden: Wenn Statuen im jüdischen Glauben absolut verboten sind, warum gab es sie dann im Tempel, in Gottes ureigenem Haus?
Ich frage den Reiseleiter, der hier Holzmodelle 2000 Jahre alter Bauwerke einsetzt, ob er zufälligerweise nicht auch Miniaturmodelle der Cherubim hat.
Dem »Peace«-Touristen gefällt meine Frage.
»Woher kommen Sie?«, fragt er mich, als hätte er gerade den erstaunlichsten Menschen der Welt getroffen.
Aus Deutschland, sage ich.
Tut mir leid, aber ich habe nun mal diese seltsame Angewohnheit, dass ich gerne mit meiner Nationalität spiele. Durch eine Laune der Natur habe ich einen ›unbestimmbaren‹ Akzent, so dass man mir wunderlicherweise glaubt, wenn ich mich als Österreicher, Bulgare oder Chinese ausgebe, oder was mir sonst gerade in den Sinn kommt. Nun las ich aber unlängst von dieser internationalen Umfrage, der zufolge die Mehrheit der Befragten Deutschland für das tollste Land der Welt hält. Warum sollte ich also dieser Tage nicht ein Deutscher sein?
Mr. Peace aber mustert mich vollkommen enttäuscht. Er mag Deutschland nicht, das sehe ich und bin ein bisschen verschnupft.
Und Sie, woher kommen Sie?
»Aus Großbritannien«, sagt er mit stolzgeschwellter Brust und geht auf Abstand zu diesem hässlichen Deutschen.
Zu schade, dass wir Deutschen den Zweiten Weltkrieg verloren haben.
Okay, ich stamme nicht aus Deutschland, sondern aus Israel und interessiere mich für Cherubim. Von denen der Reiseleiter aber leider keine hat. Sorry. Vielleicht sind die Cherubim, die in der Bibel als geflügelte Wesen dargestellt werden, ja gerade ausgeflogen.
Der Reiseleiter führt uns nun durch das schier endlose Tunnelsystem und lässt sich dabei immer ausführlicher über die erstaunlichen Fertigkeiten aus, mit denen König Herodes diese Stätte errichtete. Er spricht von Herodes, als ob dieser noch lebte. »König Herodes beschließt« und »König Herodes baut« und »König Herodes will« – in der Gegenwartsform. König Herodes, lässt er uns darüber hinaus wissen, ist ein Genie in Geometrie und ein Größenwahnsinniger: Er will den spektakulärsten Tempel aller Zeiten bauen.
Während die Tunnel immer abgefahrener werden – kein Sonnenstrahl dringt hier herein, nicht einmal ein Starbucks- oder Jacobs-Kaffee ist hier erhältlich –, erfahren wir, dass Herodes auch ein sehr bösartiger Mensch ist. Er tötet fast alle Rabbiner in der Gegend. »Fast« bedeutet, dass er einen am Leben lässt, aber nicht, bevor er ihm die Augen ausgestochen hat.
Ein echter Sympathiebolzen.
Wir kommen an einem Abschnitt der Mauer vorbei, der aus einem einzigen Felsblock von 13,3 Metern Länge und 580 Tonnen Gewicht besteht. Kräne gab es damals noch nicht, und ich kann mir nicht im Traum vorstellen, wie König Herodes das hinbekommen hat.
Länge der Westmauer einschließlich der Abschnitte, die man nur von hier unten aus sehen kann: ein halber Kilometer.
Einfach erstaunlich.
Warum hat sich der Nichtjude König Herodes die Mühe gemacht, so einen riesigen Kasten hier hinzustellen?
»Er war...