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Capabilities - Handlungsbefähigung und Verwirklichungschancen in der Erziehungswissenschaft

Handlungsbefähigung und Verwirklichungschancen in der Erziehungswissenschaft

AutorHans-Uwe Otto, Holger Ziegler
VerlagVS Verlag für Sozialwissenschaften (GWV)
Erscheinungsjahr2008
Seitenanzahl198 Seiten
ISBN9783531909226
FormatPDF
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis16,99 EUR
Mit diesem international besetzen Sammelband wird das Thema des 'Capability Approach' erstmals für die deutschsprachige Erziehungswissenschaft zusammengefasst. In der Bestimmung und Definition von 'Handlungsbefähigung' wird der Versuch unternommen, sowohl pädagogisch als auch sozialanalytisch zu einem neuen Gerechtigkeitsbegriff zu kommen, der die Zukunft der Erziehungswissenschaft maßgeblich beeinflussen kann.

Dr. Dr. h. c. Hans-Uwe Otto ist Professor an der Fakultät für Pädagogik der Universität Bielefeld.
Dr. Holger Ziegler ist Juniorprofessor am Fachbereich Erziehungswissenschaft und Sozialwissenschaften der Universität Münster.

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Leseprobe
Der Capabilities-Ansatz als neue Orientierung in der Erziehungswissenschaft (S. 9)

Hans-Uwe Otto / Holger Ziegler

Der mit den Namen des indischen Ökonomen und Nobelpreisträgers Amartya Sen (1992, 2000, vgl. Klasen/Günther 2006) und der US-amerikanischen Philosophin Martha Craven Nussbaum (vgl. 1999, 2006) verbundene Capabilities- Ansatz ist ein international zunehmend diskutierter, gerechtigkeitstheoretischer Ansatz, der die Frage nach einem guten Leben bzw. einer gelingenden praktischen Lebensführung in den Mittelpunkt stellt1.

Der primäre Fokus von Sens Capability Approach ist das Arrangement differenter Handlungs- und Daseinsweisen, über das je unterschiedliche Menschen verfügen und damit verbunden die Frage nach ihren positiven Freiheiten, sich für ein als erstrebenswert betrachtetes Leben entscheiden zu können. Demgegenüber schlägt Martha Nussbaum mit ihrem Capabilities Approach eine „objektive Liste" fundamentaler Möglichkeiten und Befähigungen vor, die sie als Grundlage eines erfüllten, gedeihlichen Lebens („human flourishing") im Sinne komplexer menschlicher Zustände und Handlungsweisen begründet.

Amartya Sen und insbesondere Martha Nussbaum schließen sich dabei mit ihren Begründungen des Capabilities-Ansatzes an eine aristotelische Ethik an, die im „tugendhaften Charakter" eine wesentliche Bedingung zur Führung eines solchen guten Lebens sieht. Ein solcher tugendtheoretischer Fokus ist für eine Erziehungswissenschaft attraktiv, die sich auf die Komplexität von Lebenswelten und Lebensführungen bezieht und auf AkteurInnen „mit einer konkreten Geschichte, Identität und affektiv-emotionalen Verfassung" (Benhabib 1989: 460) sowie auf Fragen von „Kultur, also von Haltungen, Einstellungen und symbolisch artikulierten Lebensentwürfen" (Brumlik 2007: 82).

Der aristotelischen Tradition folgend, nimmt der Capabilities-Ansatz über Regeln, Standards, Prinzipien und rationale Abwägungen hinaus auch Bedürfnisse, Neigungen, Empfindungen, Haltungen, Erlebnisperspektiven, Sinn- und Symbolsysteme sowie ästhetische Handlungsmotivationen der AkteurInnen in den Blick und verweist darauf, dass ein gutes Leben nicht nur ein individuelles, sondern immer auch ein soziales Projekt ist.

Mit seinem Bezug auf die aristotelische Tugendlehre stellt sich der Capabilities- Ansatz jedoch zugleich in eine Tradition, derzufolge sich ein gutes Leben dann einstellt, wenn Menschen ihr Leben gemäß einer spezifischen, ihnen ei- gentümlichen dispositionalen Anlage und Natur, führen (vgl. Quante 2003). Diese Prämisse alleine ist Anlass genug, um dem Capabilities- Ansatz mit Skepsis zu begegnen.

Denn eine solche Konzeptualisierung eines guten Lebens behauptet zumindest, über ein Grundverständnis darüber zu verfügen, was ein „wahres menschliches Leben" (Marx 1968) sei, um aus diesem eine objektive Bestimmung des Guten und eines gut geführten, erfüllten Lebens abzuleiten. Jeder Versuch, ein gutes, geglücktes oder glückliches Leben in einer solchen Weise substanziell zu bestimmen, gerät in den Verdacht eines metaphysisch-teleologischen Essentialismus.

Zumal, wenn in gängigen Interpretationen der aristotelischen Tugendtheorie das gute Leben im Sinne einer Erfüllungen essentieller Anlagen und Fähigkeiten und nicht als Selbstverwirklichung individueller Originalität und Einzigartigkeit in den Blick genommen wird (kritisch: Nussbaum 1999), münden hierauf berufende „Werde-der-du-bist"-Theorien eines gelingenden Lebens (vgl. Horn 2006) schnell in rückwärtsgewandte Formen der Modernisierungskritik, wie sie sich etwa in traditionalistischen Naturrechtsbegründungen aber auch im Zuge des Erstarkens eines neo-konservativen Kommunitarismus finden.
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis5
I. Einleitung8
Der Capabilities-Ansatz als neue Orientierung in der Erziehungswissenschaft9
II. Politisch-theoretische Grundlegungen15
Befähigungsgerechtigkeit als Ermöglichung gesellschaftlicher Inklusion17
1 Einleitung17
2 Die umstrittene Semantik von „soziale Gerechtigkeit“19
3 Der capabilities approach zwischen Begründungs- und Anwendungsdiskurs22
4 Gesellschaftstheoretische Weiterführung48
Capabilities: Egalitaristische Vorgaben einer Maßeinheit54
Entwicklung und Struktur des Ansatzes55
Evaluative Haltung zur eigenen Lebensführung59
Befähigungen, Partizipation und Paternalismus63
Primary Goods versus Capabilities: Considering the debate in relation to equalities in education69
III. Erziehungswissenschaftliche Perspektiven83
Handlungsbefähigung und Wohlergehen: Der Capabilities- Ansatz als alternatives Fundament der Bildungs- und Wohlfahrtsforschung85
Autonomie, Adaptivität und das Paternalismusproblem – Perspektiven des Capability Approach90
Einleitung90
Autonomie und Entfremdung92
Positive Freiheit und adaptive Präferenzen98
Das Paternalismusproblem107
Fazit112
The capability approach as a framework for reimagining education and justice116
Introduction116
Capabilities: rationality and freedom118
Sen and Nussbaum’s ideas on education121
Some limits to the capability approach in and for education123
Is the capability approach too ambitious?127
Conclusion128
Handlungsbefähigung – eine sozialisationstheoretische Perspektive131
Einleitung131
Zur sozialisationstheoretischen Bestimmung von Handlungsbefähigung132
Agency und Capability. Zwei Seiten von Handlungsbefähigung?138
Kindeswohl und Kindeswille. Zum Wohlergehen von Kindern aus der Perspektive des Capability Approach143
Kindeswohl ...144
... und Kindeswille146
Modelle des Zusammenhangs zwischen Kindeswille und Kindeswohl149
Gibt es ein überlegenes Modell?154
Wohlergehen und das gute Leben156
Kinder- und Jugendhilfe als Menschwerdungshilfe158
IV. Anschlüsse an Bildungstheorie und Bildungsforschung163
Bildung as Human Development: An educational view on the Capabilities Approach165
The Capabilities Approach as an educational point of view165
The Capabilities Approach, Class and Freedom170
The Capabilities Approach and the Marxist Tradition175
The capabilities approach in the current welfare reform177
Resources and the capabilities approach184
Bildung and the capabilities approach187
Autorinnen und Autoren198

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