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E-Book

Wut, Spaß und Tränen.

Von der Notwendigkeit sich selbst zu behaupten

AutorTino Hünger
VerlagMilitzke Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl208 Seiten
ISBN9783861899655
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,99 EUR
Werde, der du bist! (Pindar) Was passiert, wenn ein 13-Jähriger eine existenzielle Frage stellt? Was lösen die schäbigen Reaktionen eines politisch überholten Systems aus? Wie viel Wut, Spaß und Tränen brauchst du, um zu werden, der du bist? Autobiografisch angelehnte Episoden, authentisch und hautnah aus der Perspektive eines Heranwachsenden geschrieben, führen uns zurück in die DDR und das wiedervereinte Deutschland der Jahre 1986 bis 1991. Zwischen der Katastrophe von Tschernobyl, Mauerfall und neuer Weltordnung erleben wir Zeitgeschichte, in ungeschönter Form. Die heile Welt sieht anders aus.

Tino Hünger, Jahrgang 1972, ist geboren und aufgewachsen in Zeulenroda. Ohne Euphorie absolviert er während der Wendezeit eine Ausbildung zum Instandhaltungsmechaniker, leistet anschließend Zivildienst und holt das Abitur nach. Es folgen ausgiebige Reisen, ein Diplomabschluss als Sozialpädagoge und verschiedene sportliche Herausforderungen. Er lebt mit seiner Familie in Leipzig. Die Haare haben zwar an Farbe verloren, doch das Funkeln in den Augen verrät, dass der Rebell im Herzen noch immer sein Feuer anzündet.

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Leseprobe

Rissbildung im Reaktor


Da waren seltsame Bilder im Fernsehen, sie zeigten sowjetische Soldaten mit Bleischürzen, die einen ausgebrannten Atomreaktor nach den Löscharbeiten zur Versiegelung mit Beton ausgossen. Und weitere Bilder von Soldaten, die mit Hacke und Schaufel versuchten die radioaktive Strahlung zu bekämpfen. Aus meiner Sicht wirkte das völlig absurd und seltsam verzweifelt. Ich wusste nicht, ob so was funktionieren kann. Meine offensichtlich viel zu begrenzte Vorstellungskraft zog diese Möglichkeit einfach nicht in Betracht. Im DDR-Fernsehen und in der Schule hat man uns erklärt, die Bleischürzen würden die Soldaten vor der Strahlung schützen. Heute dürfte keiner dieser gefeierten Helden mehr am Leben sein. Es ereignete sich ein unglaublicher Vorfall, der alles veränderte. Er geschah am 26. April 1986. Die Folgen dieser Katastrophe blieben beispiellos und dramatisch.

Ob der gesamte Verlauf meiner weiteren Entwicklung wirklich dadurch ausgelöst wurde oder ob das Ereignis lediglich ein Indikator war für die Dinge, die schon lange in mir rumorten, das kann ich heute nicht mehr sagen.

Jedenfalls gab es in der heutigen Ukraine, in dem bis dahin für die Weltöffentlichkeit unbekannten Ort Tschernobyl, ein Atomkraftwerk. Es war der Stolz der sowjetischen Atomphysik. Das darin tätige Expertenteam wog sich irgendwann in großer Sicherheit, hörte auf, sich kritisch zu hinterfragen und feierte seine eigene Genialität. Der Mensch als Mittelpunkt des Universums, Herrscher über die Atome. Hülle und Kern, alles fest im Griff, im Würgegriff der Wegbereiter der neuen Weltordnung. Doch gerade auf dem Höhepunkt der Selbstgefälligkeit spielte die Technik nicht nach den vorgegebenen Regeln oder irgendwer vergaß, die Einhaltung des Masterplans zu überwachen. Der Reaktor überhitzte, es bildeten sich Risse in der Hülle und die ganze Kiste flog auseinander wie ein Silvesterknaller, nur eben mit all den bekannten unangenehmen Nebenwirkungen, die atomare Explosionen mit sich zu bringen pflegen. Zwar erregte der Vorfall weltweit ein gigantisches Aufsehen und schaffte Verunsicherung und Ratlosigkeit auf allen Ebenen, dennoch wurden große Teile der für die Bevölkerung notwendigen Informationen zurückgehalten. Auch die Medien in Ost und West bewerteten den Vorfall unterschiedlich. Keiner wusste wirklich, was genau passiert war und welche Folgen das haben konnte. Die Ostmedien zeigten die bereits erwähnten tapferen Soldaten, spielten die Gefahren herunter, ganz nach dem Motto, unser sozialistischer Waffenbruder macht keine Fehler. In den Westmedien wurde alles wesentlich stärker dramatisiert, deutlich mehr Panik verbreitet. Es gab dort seltsame Empfehlungen. So wurde davon abgeraten, Pilze zu sammeln oder bestimmte Beerenarten zu verzehren, weil diese möglicherweise radioaktiv verseucht sein könnten. Und das ganze mehr als 2.000 Kilometer vom Ort der Ereignisse entfernt. Eine seltsame Ambivalenz trat da zum Vorschein, wenn man die Berichterstattung beider Seiten verfolgte.

Ich war gerade dreizehn Jahre alt und in höchstem Maße verunsichert, ich konnte mir gar nicht vorstellen, was da wirklich passiert war, nur die fast schon panische Angst war greifbar. Was in Atomkraftwerken genau geschah, davon hatte ich keinen Schimmer, es gab da Radioaktivität, das war etwas Gefährliches und konnte viele Menschen töten. Dieselbe Radioaktivität trat aus, wenn Atombomben explodierten, das hatte ich bereits in der Schule gelernt und dabei Bilder von Hiroshima und Nagasaki gesehen. Die einzigen beiden Einsätze von Atomwaffen gegen Menschen in der gesamten Geschichte, ausgeführt vom imperialistischen Feindesland USA. Ständig wurden wir damit zugetextet. Und mit der Stationierung von Atomwaffen auf deutschem Boden, von dem ja nie wieder Krieg ausgehen sollte. Doppelte Nulllösung, No Bomb, Give Peace a Chance, Je stärker der Sozialismus, desto sicherer der Frieden und was sich alle so einfallen ließen. Für mich war das wenig transparent, ich wollte eigentlich lieber greifbare Fakten, Ergebnisse, Rettung vor dem Super-GAU. Was war denn jetzt mit der Atomkraft – Waffe der Massenvernichtung oder Segen der Menschheit als Energiequelle? Werden wir jetzt alle sterben oder ist es mit ein paar Aufräumarbeiten vor Ort schon getan? Ich war komplett durcheinander. Meine Freunde und ich zogen es vor, die Angst zu verdrängen und uns auf die alltäglichen Dinge zu konzentrieren. Damit waren nicht so sehr Schule und Hausaufgaben gemeint, eher Fahrradfahren und Angeln. Diese Art von Flucht vor der Realität funktionierte für eine Weile ganz gut.

Bis zu diesem einen Abend in den folgenden Sommerferien, als ich mit Henry beim Nachtangeln saß. Wir freuten uns darüber, in der Abenddämmerung mehrere Rehe dabei zu beobachten, wie sie, vorsichtig ihre Umgebung prüfend, aus dem Wald auf das Feld hinaus schritten, um dort die feuchten jungen Pflanzen zu verzehren. Es war ein faszinierender Anblick, der Ruhe und Frieden ausstrahlte. Vielleicht eine Stunde zuvor hatte ich meinen bis dahin größten Hecht gefangen, neunundachtzig Zentimeter lang und locker drei bis vier Kilo schwer, ganz ohne Übertreibung, das war ein Mordsvieh. Die Welt war an diesem Tag auf merkwürdige Art und Weise in Ordnung gewesen und ich genoss das Leben bis in die Haarspitzen, die Natur, die unbeschwerte Ferienstimmung, alles.

„Du Trap, denkst du, wir werden alle draufgehen, wir Menschen und die Tiere und alles? Glaubst du, dass wir bereits verstrahlt sind, wegen Tschernobyl und dem ganzen Wahnsinn?“, riss Henry mich aus meinen Träumen.

„Mann, wie kommst du denn jetzt auf so was?“

„Glaubst du es oder glaubst du es nicht? Werden wir langsam und qualvoll verrecken oder nicht?“

„Scheiße Henry, du machst mir Angst! Woher soll ich denn das wissen?“

Henry war schon immer etwas seltsam gewesen. Wir kannten uns bereits seit dem Kindergarten. Dort hatte er einmal eine Gehirnerschütterung davon getragen und war seitdem etwas verzögert im Denken, zumindest war das die Erklärung, die seine Eltern dafür hatten. Ich mochte ihn, weil er besonders war. Eine Art Außenseiter, ohne sich verstoßen zu fühlen. Und er hatte das Herz am richtigen Fleck, wenn man diese Redewendung verwenden will. Bei der Einschulungsuntersuchung wurde er ein Jahr zurück gestellt, war also in meinem Alter, aber eine Klassenstufe tiefer. Wir gingen oft zusammen angeln und es konnte schon mal vorkommen, dass wir Wetten darüber abschlossen, wer es wagte, einen Tauwurm lebendig zu verschlucken oder auch einen Köderfisch. Er teilte nicht nur meine Affinität zum Leben in der Natur, sondern auch meine Experimentierfreude. Dazu gehörten mitunter auch fragwürdige Selbstversuche. Die meisten genialen Überlebenstricks hatten Menschen sich entweder aus der Tierwelt abgeschaut oder sich durch Experimente und Selbstversuche erschlossen. Wir waren in der Richtung echt gut unterwegs für durchschnittliche Jungen in unserem Alter, aber bei Radioaktivität endete auch unser Erfahrungshorizont. Zum Schutz davor konnte man sich keinen Unterstand aus Tannenzweigen bauen oder Baumrinde verzehren.

Warum es gerade an diesem Tag in diesem an sich unbeschwerten Moment geschah, habe ich nie so recht verstanden. Jedenfalls wurde uns langsam immer klarer, dass wir mitten auf dem Vulkan saßen, ohne je gefragt zu werden. Dass wir sterben könnten, ohne je unseren Unmut mitgeteilt zu haben. Dass wir etwas tun mussten, egal was.

An diesem Sommerabend im Juli, der sich durch so gut wie gar nichts von den vorhergehenden unterschied, hatte uns das Thema Angst ganz plötzlich fest in den Würgegriff genommen. Nach drei Monaten der Verunsicherung und Panikmache, aber auch Verdrängung und Bagatellisierung, konnten wir es nicht mehr ertragen. Wir mussten uns zumindest bemerkbar machen, aufrütteln, endlich die Ventile öffnen und Druck ablassen. Bis zum Morgenrauen überlegten wir hin und her, was nun zu tun sei. Wir fanden keine Minute Schlaf und es gelang uns, einen Plan für eine Aktion zu schmieden. Als wir die Angelruten einholten, stellte ich fest, dass bei mir ein Aal angebissen hatte. Mittlerweile hatte er die Gefahr längst erkannt und sich aus einem Selbstschutzreflex irgendwo am Grund des Sees zwischen Wurzeln und Steinen verklemmt, so dass es mir nicht mehr möglich war, ihn anzulanden. Scheiß drauf. Ich kappte die Schnur und schenkte ihm damit das Leben. Innerhalb der nächsten Tage würde er den Angelhaken wieder auswürgen und davon schwimmen, zumindest stand es so in den Lehrbüchern und mir gefiel der Gedanke, dass dieser Fisch eine zweite Chance bekam. Dann setzten wir uns auf unsere Fahrräder und kurbelten müde nach Hause. Es folgten ein paar Stunden Schlaf, ein warmes Mittagessen und das Abstreifen der letzten Zweifel an unserem Vorhaben.

Wir trafen uns am frühen Nachmittag bei mir zu Hause und gingen anschließend in die Drogerie, um eine Sprühdose mit schwarzem Wildlederspray zu klauen. Das war die einzige in Sprühdosen verfügbare Farbe in der ganzen DDR, die man zum Besprühen von Wänden verwenden konnte. Klauen mussten wir sie deshalb, weil es so was nur in einem einzigen Laden in der ganzen Stadt...

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