1.
Glück haben, das wollen alle
Glück. Glück! Glück? Größer geht’s wohl nicht?! Wie oft führen wir das so verheißungsvolle Wort im Munde. Die Philosophien über das Glück stehen in heftigem Widerstreit. Und füllen Bibliotheken. Vielleicht genügte schon dies: mit sich selber auszukommen, aber ganz ohne Schrecken vor sich selber und ohne Erwartung an sich selber. Oder wenigstens: der Schrecken nicht zu groß, die Erwartung auch nicht zu groß. Das Glück ist jener Moment, da man vergisst, an welche Bedingung es geknüpft sein könnte. Ein flüchtiges Durchgangsstadium, das flüchtigste überhaupt. Es ist, als müsse man sich hüten, es zu bemerken. Wer nachdenkt, ist ja mitunter ohnehin schon verloren. Wer aber ausgerechnet übers Glück nachdenkt, der hat plötzlich einen besonders unsicheren Weg unter den Füßen. Glücksgier und Verlustangst kommen aus elementarer Verunsicherung.
Glück ist zum Jagdobjekt geworden. Als lieferte diese Jagd Fetteinreibungen gegen den Weltfrost, der uns dauernd damit angreift, dass deutlicher als das Glück das Unglück zu fassen sei: indem wir von erstickten Kindheiten verbraucht werden, von unauflösbaren Ängsten, von massiver Verdrängung, vom Glauben an überlebte Ideen. Kurz: von Schwächen – statt von Möglichkeiten, von Fremdem – statt von uns selber. Was immer dem Menschen geschieht, er ist an das Grundgesetz gebunden, das nicht selten Tragödien zur Folge hat: Er ist für sich selber verantwortlich! Zum Grund der Tragödie wird oft genug die Tatsache, dass man sich dieses Gesetzes sehr spät, zu spät bewusst wird. Aber letztlich rettet da nichts, keine Religion, keine Zwangslage, kein Befehlsnotstand, kein geleisteter Eid – Treue (zur Idee, zur Macht), eben noch Tugend, kann plötzlich zum Versagen werden; Untreue, eben noch als Feigheit bezeichnet, ist plötzlich Charakter. Wie viele eingebildete Berge besteigen wir, und wachen erst auf, wenn wir beim Absturz wirklich bluten.
Das Glück bildet kein Volk, und es ist nicht Aufgabe einer Gesellschaft, Glück zu produzieren. Dafür sind Glücks- und Sinnvorstellungen zu ausgefächert. Ein System, das meint, ein Maß für Glück vorgeben zu können, sieht sich irgendwann genötigt, den undankbaren Bürger anzuklagen, der sich dem vermeintlichen Füllhorn verweigert. Was ein Staat kann und soll: dem Einzelnen die Möglichkeit der Teilhabe schaffen, sich als Mitglied einer Gemeinschaft, als Bürger einer Gesellschaft zu fühlen.
Unser Leben verläuft gleichzeitig entlang zweier Linien. Die eine führt hinab. Schwinden, Erschöpfung, häufig Verhärtung; sinkende Ansprüche, Sich-Abfinden mit allen Unzulänglichkeiten, irgendwann, womöglich, ein Tod im Leben. Der hässliche Zynismus der Enttäuschungen. Die zweite Linie: Bemühen, Drang nach oben, Selbstüberwindung, immer mehr guter Wille, Seele, Weisheit, irgendwann, womöglich, ein anderer Tod im Leben: ein Sich-Verflüchtigen durchs Abwerfen von Belastungen. Beide Linien gleichen zwei Blutkreisläufen, sind ein Gegenströmen, in das das Glücksempfinden partikelgleich aufgenommen ist, strudelnd, nicht zu bannen im Fluss der Dinge. In einem Gedicht übers Glück schrieb Karl Krolow: »Das reicht für Augenblicke: / denn vorüber ist es schon. / Und der Teufel sitzt im Genicke / zu rasch – als des Glückes Lohn.« Wie viele Plätze der Einzelne im System der verworrenen Realität einnehmen kann! Einübung in eine Selbstvergewisserung: Ich komme vor. Zum Begreifen gehört freilich die Einsicht, dass es nicht darauf ankommt, sich in diesem System der Wirklichkeit die Hauptrolle nehmen zu wollen.
Was nun ist Lebenskunst angesichts dessen? Es geht wohl um die Kunst, in einer verteufelt freizügig ausschlagenden Gesellschaft auf lebenswerte Weise Ich zu sagen. Der heutige Mensch ist kein »ungeteiltes« Wesen mehr; er kann sich nur behaupten, wenn er gewissermaßen eine extrem geforderte Vielheit lebt; jeder Einzelne ist eingebunden in ein nicht wegzuschiebendes System von Fragmentierungen, Arbeitsteilungen, Aufspaltungen, von Gleichzeitigem; jeder ist einer Unmenge von Vernetzungen und Befehlsketten ausgesetzt – man fühlt sich eingespannt in einen fortwährenden Wechsel von undurchschaubaren Prozessen. Unser Ich ist demnach innerlich, seelisch ein vielgestaltiges Wir, das in einer rasenden Globalisierung ständig von Selbstverlust bedroht ist. Und in gleichem Maße gefährdet, zum falschen Rettungsring zu greifen: der Selbstgier.
Lebenskunst heißt demnach: Bevor ein fremdes, äußeres Wir als Schutz, als Auffangmasse angerufen wird, damit man der Einsamkeit und den Verwirrungen der eigenen Freiheit entgehen kann, empfiehlt es sich, das andere Wir, diese vielfarbige Welt in uns selbst, dieses Wogen von Stärken und Schwächen, optimal zu organisieren. So, dass der Selbstverlust in gleicher Weise gering gehalten wird wie die Neigung zur Selbstsucht.
Es kann nicht gelingen, Fremdbestimmtheit und Bedingtheit des Daseins völlig aufzuheben, aber man kann mit einer Haltung durchs Leben gehen, die es beiden quälenden Faktoren schwer macht. Das System ist schuld! Der Satz stimmt immer – aber es bleibt die nüchtern zu betrachtende Tatsache, dass man sein Leben trotzdem weiterleben muss. Wer das will, hat zu sortieren: Was kann ich ändern, was nicht? Was tue ich und was lasse ich mit mir geschehen? Wo bewahre ich etwas, und wo erkenne ich, dass mir Berufung auf Vergangenes nur als »Tablette« dient, um schmerz- und anstrengungsfrei durch die neue Gegenwart zu kommen? Freiheit der Wahl.
Es geht um ein Leben, das sich zur Schwäche bekennt. Das sich Versagen leistet. Das noch im tiefen Ernst den Spielcharakter aller Handlungen entdeckt. Das gewissermaßen selbst das noch erlebt, was es vermisst. Das sich wohlfühlen will. Das dennoch nicht im Schmerz verzagt. Ja, das noch die Resignation zur Kultur erhebt. Die Skala der Stichwörter umfasst alles, was sich mit unserem Körper und unserer Seele verbindet: Pflege, Berührung, Schönheit, Atmen, Ernährung, Rausch, Klugheit, Müdigkeit, Tod. Vorm Tod die Kunst des Älterwerdens: jene Einübung in eine natürliche Passivität, welche einem heiteren Loslassen von Wichtigkeit, Bedeutsamkeit, Einflusskraft die körperliche Grundstimmung beigibt. Loslassen, so der Philosoph Wilhelm Schmid, das von einer Erfahrung spezieller Schönheit begleitet werden möge. Zunächst hat jeder Mensch nichts Wertvolleres auf der Welt als sich selbst. Das macht misstrauisch gegenüber allen, die vor Selbstlosigkeit gar nicht mehr als Ich existent sind. Die euphorisch, bis zur Unkenntlichkeit eintauchen in eine »Sache«. Lebenskunst ist lustvoller Aufenthalt in der Mitte, zwischen der Größe, die es nicht gibt, und dem Glück, das eine Furie des Verschwindens bleibt. Jeder, der es wirklich schafft, mit sich selbst befreundet zu sein (im Leben, wie es ist, nicht im Leben, wie es sein sollte!) – vielleicht ist der ein wahrer Partisan einer Zukunft, in der sich die Menschheit wieder anschickt, in großen guten Zusammenhängen zur Einheit zu finden.
Das Einverständnis mit der Welt ist nicht a priori Resignation. Es kann Widerstand sein, wenn man ausgerechnet in Umständen, die uns als gehörige Kraft bedrängen, einen Freiheitsraum gründen kann. Einen Freiheitsraum, darin man die eigenen Zweifel, Ohnmachten, Unsicherheiten überdauert – indem man ihnen etwas abgewinnt.
Der Trost des Daseins liegt so nicht im Vertrösten, sondern im Be-Greifen alles Gegenwärtigen. Den strömenden Regen nicht mit Sonnenhoffnung verfluchen, sondern Schönheit in ihm entdecken. Im Grimm über das Menschheitsprodukt Welt die Menschenliebe preisen. Im Herbst-Sturm etwas sehen wollen, das unter aufhellendem Himmel verschwände. Eine Meinung haben und sofort an deren Gegenteil basteln – und nicht erschrecken, wenn es funktioniert; unser Innenleben ist nämlich reicher, als wir oft zugeben wollen (oder dürfen). Die Luft sagt uns etwas, der Glanz spricht, die Trübnis auch. Und: Alle Luft ist wie geschaffen, den Zufall zu genießen. Zufall und Zufall summieren sich zu einer Fügung, die am Leben halten kann.
Schade vielleicht, dass wir auf dem Weg von der Haustür zu unseren täglichen Zielen so vielen Verkehrszeichen folgen müssen und dadurch nicht mehr ganz so wach sind für den Andrang ganz anderer, älterer Zeichen. Aber es gibt sie, wenn wir nur richtig schauen. So Weniges kann uns wirklich belehren, aber so Vieles kann uns Winke geben. Wilhelm Schmid hat einmal von der »Weltinnenpolitik« des Ich gesprochen: zuallererst mit sich selber ausmachen und in sich selber austragen, was man der Welt gern als Richtung empfehlen würde. Sich selbst als den Zusammenschluss all jener Unverträglichkeiten begreifen, die das Leben kräftig aufbietet, um nur ja schön kompliziert zu sein. Mit diesen Unverträglichkeiten dann nicht arbeiten, sondern spielen. Oder zu spielen versuchen. So einfach ist das ja nicht, wenn man gleichzeitig das Alltägliche mit jenem Ernst betrachten muss, den es uns andauernd abpresst.
Offen zu sein für die Welt, seine Sinne auszubilden für sehnsüchtige Wahrnehmung, Charakter zu entwickeln für Güte und freundliche Ausstrahlung – das kann keine Partei lehren. Weltveränderung beginnt mit dem Bild, das ich meinen Mitmenschen jeden Tag von mir selber anbiete. Auch das Unfrohe im Tonfall, das Unglück in den Blicken, das Maskierte in den Zuwendungen, das Mürrische in den Urteilen verändert die Welt – und genau da beginnt auch Glück. Die Passformen der Welt wollen uns immer anders, als wir sind und sein möchten. Gegenwelt aber ist möglicher, als wir uns oft zutrauen.
Nachdenken über Leben, das sich zur Schwäche bekennt und das annimmt, was ist, in aller Widersprüchlichkeit, in allen...