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E-Book

Das Reich des kleineren Übels

Über die liberale Gesellschaft

AutorJean-Claude Michèa
VerlagMatthes & Seitz Berlin Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl192 Seiten
ISBN9783957571038
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis16,99 EUR
Mit seinem Essay 'über die liberale Gesellschaft' avancierte Jean-Claude Michéa in kurzer Zeit zu einem der meistdiskutierten politischen Philosophen Frankreichs. In seiner ebenso scharfsinnigen wie spitzzüngigen theoriegeschichtlichen Untersuchung des Liberalismus zeigt Michéa, dass sich der kulturelle Liberalismus freier individueller Entfaltung, der heute zum Grundinventar linker Positionen gehört, nicht vom Wirtschaftliberalismus des freien Marktes trennen lässt und immer auf ihn zurückfällt. Gegen die linke Illusion, beide Spielarten des Liberalismus gegeneinander ausspielen zu können, plädiert Michéa für eine Befreiung des Moralischen aus der Sphäre des Privaten und für allgemein verbindliche positive Werte. Nur so gelingt der Auszug aus dem 'Reich des kleineren Übels' des Liberalismus. Eine radikale Intervention, die das politische Selbstverständnis von Links und Rechts grundlegend in Frage stellt und herausfordert.

Jean-Claude Michèa, geboren 1950, ist ein politischer Philosoph. Ausgehend von der Auseinandersetzung mit George Orwell entwickelte er seine umstrittenen Thesen zum Liberalismus, in denen er sich vor allem mit der Kritik der politischen Weltanschauung der Linken befasst. Er lebt in Montpellier.

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Leseprobe

1Adam Smiths berühmte Stecknadelfabrik beschäftigt nur zehn Arbeiter. Der Autor von Wohlstand der Nationen hätte sich natürlich nicht im Traum einfallen lassen, wozu eines Tages die weltweite Herrschaft der Rentenfonds und der multinationalen Unternehmen, geschweige denn Briefkastenfirmen oder Mafiawirtschaft konkret führen würden. In der Untersuchung »Les États-Unis avant la grande industrie« liefert Matthieu Amiech zu diesem Punkt sehr aufschlussreiche Ergänzungen, in: Notes & Morceaux choisis, n° 7, Dezember 2006.

2Adam Ferguson, An Essay of the History of Cicil Society, London 1767, S. 187, dt. zit. nach Friedrich von Hayek, Freiburger Studien, Tübingen 1969, S. 97.

31998 erschien der Text mit einer bemerkenswerten Einführung von Michel Barrillon (»Diderot dans la première bataille du libéralisme économique«), vgl. Denis Diderot, Apologies: apologie de l’abbé Galiani & Lettre apologétique de l’abbé Raynal à M. Grimm, Marseille 1998.

4Liberalisierungsgesetze, die die Koalitionsfreiheit von Arbeitern beschnitten und Streik unter Strafe stellten, Anm. d. Übers.

5Vgl. Pierre Manent, Histoire intellectuelle du libéralisme, Kapitel I, Paris 1987.

6Zu diesem Thema finden sich besonders anregende philosophische Überlegungen bei Olivier Rey, Itinéraire de l’égarement, Paris 2003.

7So erklären sich seine Bemühungen in der Préface au traité du vide im Zusammenhang mit Experimenten über das Vakuum, eine vorbeugende Trennung vorzunehmen zwischen den »Problemen, die sich von den Sinnen oder der vernünftigen Überlegung erfassen lassen« und für die künftig die Autorität der Modernen Vorrang hat, und allen anderen »Wissensgebieten« (darunter natürlich die Theologie), die sich nicht in den Kategorien des Fortschritts denken lassen. Pascal ist folglich einer der ersten Philosophen, der gleichzeitig modern und anti-modernistisch ist, anders gesagt: einer der ersten modernen Kritiker der Moderne.

8Auguste Comte sollte später schreiben: »[…] wenn die Politik zu einer positiven Wissenschaft geworden ist, wird das Publikum den Publizisten zwangsläufig das gleiche Vertrauen hinsichtlich der Politik entgegenbringen müssen und tatsächlich entgegenbringen, das es derzeit den Astronomen für die Astronomie, den Ärzten für die Medizin usw. erweist«, vgl. Auguste Comte, »Séparation générale entre les opinions et les désirs«, in: Ders., Opuscule de philosophie sociale 1818–1828, Paris 1883, S. 4. So sieht also die metaphysische Grundlage der derzeitigen Autorität der allgegenwärtigen »Experten« aus.

9Indem er sich bevorzugt auf das von den Irokesen und dem Huron-Stamm gelieferte anthropologische Material bezog, gelangte Adam Smith zu der Vorstellung einer »notwendigen« Bewegung, die alle menschlichen Gesellschaften vom »Stadium der Jäger« über die »Zeitalter der Hirtenvölker« und der »Ackerbauern« zur commercial society führen soll. Christian Marouby zeigt akribisch die unzähligen Verstöße gegen die empirische Beobachtung und die logische Herleitung, die Adam Smith vorzunehmen gezwungen ist, um seine Hypothese sowie die anthropologischen Postulate halten zu können, auf denen der Wohlstand der Nationen beruht (und auf die sich selbstverständlich nach wie vor die zeitgenössische Wirtschafts-»Wissenschaft« stützt). Vgl. Christian Marouby, L’Économie de la nature. Essai sur Adam Smith et l’anthropologie de la croissance, Paris 2004.

10Vgl. C. A. Bayly, Die Geburt der Modernen Welt. Eine Globalgeschichte 1780–1914, Frankfurt am Main 2006, S. 25: »In diesem Buch wird davon ausgegangen, dass das Wesentliche des Modernseins darin liegt, sich für modern zu halten. Modernität ist das Bestreben, ›auf der Höhe der Zeit zu sein‹, ein Prozess des Nacheiferns und Ausleihens. Man kann wohl nur schwer bestreiten, dass immer mehr Menschen zwischen etwa 1780 und 1914 der Ansicht waren, dass sie modern seien oder dass sie in einer modernen Welt lebten, ob sie das nun mochten oder nicht. […] Es war auch deshalb ein modernes Zeitalter, weil ärmere und untergeordnete Menschen in der ganzen Welt dachten, dass sie ihren Status und ihre Lebenschancen verbessern könnten, indem sie Kennzeichen dieser mythischen Moderne übernahmen, ob es nun Taschenuhren, Regenschirme oder neue religiöse Texte waren.«

11Georges Livet, Guerre et paix de Machiavel à Hobbes, Paris 1972, S. 50.

12Schon Platon hatte zwischen stasis (Bürgerkrieg) und polemos (Krieg gegen die Ausländer) unterschieden.

13Die Pascal’sche Wendung ist eine offene Anspielung auf eine vergleichbare Formulierung Erasmus von Rotterdams (»der Krieg ist die Wurzel allen Übels« aus: Die Erziehung des Christlichen Fürsten von 1516). Tatsächlich räumte schon Erasmus dem Bürgerkrieg in seiner Analyse einen wichtigen Platz ein (»Welchen Namen verdient das Tun von Christen, die sich gegenseitig bekämpfen, wo sie doch so viel miteinander verbindet, die das Gemetzel währen lassen, aus einem uneinsichtigen Grund, aus persönlicher Feindseligkeit, aus einer Art jugendlichem Ehrgeiz?«).

14Zum Wesen und der Reichweite dieser primären Sozialität im Frankreich des 16. Jahrhunderts sei auf das Standardwerk der amerikanischen Historikerin Nathalie Zemon Davis verwiesen, vgl. dies., Die schenkende Gesellschaft. Zur Kultur der französischen Renaissance, München 2002.

15Wie im Bereich der Metaphysik muss der Cartesianische Zweifel eine hyperbolische Form annehmen, um im Voraus die Möglichkeit des cogito zu begründen. Man sieht, dass die modernen Lösungen nicht zwangsläufig aus negativen, ja verzweifelten philosophischen Situationen abgeleitet werden müssen (der absolute Zweifel, die absolute Gewalt), sondern auch fiktive Szenarien (die Hypothese des Traums und des Genius malignus bei Descartes, der Naturzustand bei Hobbes, die Fabel vom primitiven Tausch bei den Ökonomen) infrage kommen. Tatsächlich ist ein solcher Rückgriff auf die eigenen Gründungsmythen kein unwesentliches Paradox für eine Gesellschaft, die sich (zum ersten Mal in der Geschichte) selbst als durch und durch »realistisch« und prozedural (also auf den rein mechanischen Protokollen des Rechts und des Marktes gründend) begreifen will.

16Vgl. Christopher Lasch, The True and Only Heaven: Progress and its Critics, Norton 1991. Zu diesem Überdruss und tiefen Verlangen nach Frieden findet sich eine überraschende Passage bei Benjamin Constant in einem geplanten, später aber nicht ausgeführten Vorwort zu seinem Roman Adolphe: »Ich wollte in Adolphe eine der vorrangigsten moralischen Krankheiten unseres Jahrhunderts darstellen, diese Müdigkeit, diese Sorge, diese Entkräftung, diese unaufhörliche Erforschung, die neben alle Empfindungen einen Hintergedanken stellt, und sie damit schon im Keim welken lässt.« Adolphes moralische Krankheit ist ganz offensichtlich das liberale Syndrom.

17Vgl. Éric Desmons, Mourir pour la patrie?, Paris 2001; Desmons analysiert hier brillant die doppelte Bewegung, die Augustinus dazu bringt, die Liebe, die der antike Bürger für seinen eigenen Staat hegen sollte, auf den Gottesstaat zu übertragen, und die später dafür sorgt, dass die aufkommenden Nationen im Spätmittelalter dieses augustinische Ideal des Glaubensmärtyrers zugunsten ihres neu erwachten Patriotismus zurückverwandeln.

18Benjamin Constant, »Über die Freiheit der Alten im Vergleich zu der der Heutigen«, zit. nach Lothar Gall und Rainer Koch (Hg.), Der europäische Liberalismus im 19. Jahrhundert, Bd. 1, Berlin/Frankfurt am Main/Wien 1981, S. 40.

19Vgl. Paul Bénichou, Morales du grand siècle, Paris 1948, S. 155 ff. [Das Kloster Port-Royal bildete das Zentrum der als Häretiker verfolgten und pietismusnahen Jansenisten, in dessen Umfeld sich auch Denker wie La Rochefoucauld und Pascal bewegten, Anm. d. Übers.]

20Vgl. zum Beispiel Michael Sandel, Liberalism and the Limits of Justice, Cambridge 21998.

21Bekanntlich kann der liberale Staat seit dreißig Jahren auf ein auf diese Kriterien hervorragend zugeschnittenes...

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