2 Zur Geschichte der Beratung
In diesem kurzen Kapitel wird zuerst eine sozio-historische Betrachtung zur Entwicklung der Beratung skizziert. Anschließend werden einige als relevant für die Heilpädagogik erscheinende Handlungsfelder der Beratung in ihrem geschichtlichen Verlauf vorgestellt. Diese Trennung ist lediglich mit der Darstellungsausrichtung des Textes begründet. Beide Aspekte lassen sich nämlich nicht strikt voneinander getrennt betrachten, da Beratung immer an theoretischen, konzeptionellen und methodischen Schnittstellen operiert, die folglich als sich überlappende Aspekte zu verstehen sind.
Abb. 7: Kapitel 2 – Inhaltliche Struktur
2.1 Historische Betrachtungen zur Beratung
Um das gegenwärtige Selbstverständnis der Beratung im pädagogischen Kontext und somit im Rahmen der Heilpädagogik zu verstehen, ist es notwendig, zumindest schlaglichtartig die Geschichte der Beratung in Augenschein zu nehmen, was schwierig ist, weil gerade die Wahrnehmung der Beratung im Kontext der Heilpädagogik als kaum erforscht erscheint (vgl. Gröning, 2010, 9). Auch in der Erziehungswissenschaft scheint die geschichtliche Betrachtung von Beratung als kaum einmal wahrgenommen, geschweige denn wissenschaftstheoretisch erarbeitet: »Die Erziehungswissenschaft hat bis heute keine hinreichende Bearbeitung des Themas pädagogische Beratung geleistet. [...] Die Beratung scheint ganz weit weg von der Pädagogik institutionalisiert zu sein« (Gröning, 2010, 9/10).
Erst in jüngster Zeit hat Gröning eine umfassendere Darstellung zu Konzepten und Positionen im Rahmen einer geschichtlichen Verortung der Beratung erarbeitet. Die weiteren Ausführungen stützen sich auf ihre wissenschaftstheoretischen Begründungen. Gröning fokussiert vor allem die Erziehungsberatung, die Berufsberatung und die Sexualberatung, setzt diese jedoch in den Kontext von pädagogischen Beratungsformen und umfasst somit auch den Rahmen, in welchem eine heilpädagogische Beratung stattfindet. Es ist davon auszugehen, dass die grundlegenden Aussagen, die für diese Beratungsformen gelten, auch für eine heilpädagogische Beratung Gültigkeit besitzen.
Die oben genannten Beratungsformen für Jugendliche und Erwachsene weisen aufgrund ihres pädagogischen Bezuges eine relative Nähe zu Bildung und Erziehung bzw. zu Lernprozessen auf. Ähnlich wie die Heilpädagogik kommt diesen Beratungsformen auch eine lebenslauforientierte Ausrichtung zu, was sie eng mit heilpädagogischen Beratungsmodellen verbindet. Die geschichtlichen und institutionalisierten Einflüsse, welche auf diese bildungs- und erziehungsnahe Beratungsform eingewirkt haben (also primär auf die Erziehungs-, Berufs- und Eheberatung), operierten häufig »bereichsüberlappend«. Dies bedeutet, und diese Aussage deckt sich mit Analysen von Gröning (vgl.: Gröning, 2010, 11/12), dass die Beratung in heilpädagogischen Kontexten häufig gar nicht von Heilpädagogen durchgeführt wurde, sondern vielmehr von Psychologen, Ärzten oder Allgemeinpädagogen. Hieran wird deutlich, dass eine historische Skizze der Geschichte der Beratung vor allem auch offene oder verdeckte Professionskonflikte andeutet, welche sich in und zwischen den Feldern dieser Beratungsprozesse vollziehen (vgl.: Gröning, 2010, 19).
Es ist ersichtlich, dass – unabhängig von der Beratungsform – alle Ausrichtungen der Beratungsarbeit sowohl ideengeschichtlich als auch im Rahmen ihrer Institutionalisierung und ihrer organisatorischen Gebundenheit in ihrer Historie mit aufklärenden und emanzipatorischen Bewegungen eng verknüpft sind. Beispielhaft hierfür ist die Verknüpfung zwischen Beratung und der ersten Frauenbewegung in Deutschland: Die Gründerinnen der ersten Beratungsstelle für Mutterschutz und Sexualreform sowie für Berufsberatung und für Rechtschutz waren Frauen. Hier eine kurze Übersicht des historischen Geschehens:
Im Januar 1894 wurde in Dresden ein erster Rechtsschutzverein für Frauen (von Adele Gamper und Marie Stritt) gegründet. Kurze Zeit später kam es dann 1898 in Berlin zur Gründung einer ersten Auskunftsstelle für Fraueninteressen. Diese wurde durch den Bund deutscher Frauenvereine eingerichtet. Hierauf aufbauend erfolgten in ganz Deutschland parallel zu den Ideen der Rechtsschutzstellen für Frauen Auskunftsstellen für Frauenberufe (vgl. Gröning, 2010, 22 – 25). Ebenfalls kurz danach, nämlich 1905, gründete Helene Stöcker den Bund für Mutterschutz und Sexualreform, der einer erste Beratungsstelle 1924 in Hamburg und kurz danach 1926 eine zweite in Berlin eröffnen konnte. Eine intensiven Schub bekam das Beratungsgeschehen in Deutschland, als Ende der 1920er Jahre Marie Juchacz die Arbeiterwohlfahrt gründete, die in ihren Tätigkeitsfeldern auch inzwischen professionell gewordene Beratungstätigkeiten im Rahmen der Sexualberatung sowie der Beratung von jungen Müttern aufnahm. In dieser Zeit war bei den eher sozialistisch geprägten Frauen für die Beratungstätigkeit »der Gedanke der Fürsorge und der Hilfe [handlungsleitend]« (Gröning, 2010, 28). Beratung ist hierbei noch deutlich umfangreicher zu konzeptionalisieren, so dass diese als psychosoziale und als allgemeine soziale Beratung zu verstehen ist.
Aber auch schon in dieser ersten Zeit, also im Kaiserreich, lassen sich Beratungstätigkeiten nicht als eindeutig von sozialarbeiterischen und sozialpädagogischen (und somit auch heilpädagogischen) Handlungsfeldern abgrenzen: »An vielen Punkten verschmilzt Beratung [...] mit sozialer Arbeit und Fürsorge und hat weniger einen aufklärenden, sondern vielmehr einen helfenden, deutlich normativen Charakter« (Gröning, 2010, 21).
Diese ersten Schritte zu Beratungsstellen gehen also auf konkrete politische, vor allem sozial- und bildungspolitische Motivationen und Konzepte der Frauenbewegung des 19. und 20. Jahrhunderts zurück. Sie »beginnen mit ihrer Arbeit noch vor der Jahrhundertwende, lange vor der Weimarer Republik und lassen sich bis zur Machtergreifung und den Beginn des NS-Regimes in unterschiedlicher Ausprägung nachweisen. Sie werden vom so genannten gemäßigten Flügel der Frauenbewegung angeboten, hier sind die Berufsberatung und die allgemeine Auskunftsstelle des Bundes für Frauenvereine hervorzuheben und als Institutionen und Institutionennetzwerke nachweisbar« (Gröning, 2010, 28/299).
Eine erste wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Erziehungsberatung in Deutschland stellt die 1928 publizierte Dissertationsschrift zur Institutionalisierung von Organisationen von Erziehungsberatungsstellen in Deutschland durch Sophie Freudenberger dar. »Diese Arbeit stellt einen qualifizierten empirischen Fundus zur Frage von Verbreitung, Konzeptionen und Entwicklung von Erziehungsberatung dar und gibt einen Überblick sowohl über die Anzahl der Erziehungsberatungsstellen im Jahr 1928 als auch über deren inhaltliche Ausrichtung. Freudenberger differenziert in amtliche Erziehungsberatungsstellen, in halbamtliche und in freie Erziehungsberatungsstellen. Sie differenziert ebenfalls nach Erziehungs- und Jugendberatungsstellen und hat ein eigenes Kapitel zur Bedeutung der Erziehungsberatung für erziehungsschwierige und verwahrloste Kinder verfasst. Die Einrichtung von Erziehungsberatungsstellen führt sie dabei auf Erziehungsschwierigkeiten als Ausdruck sozialer Probleme zurück« (Gröning, 2010, 39).
Freudenberger hebt die Bedeutung der Beratung im Kontext der pädagogischen Arbeit mit erziehungsschwierigen und verwahrlosten Kindern hervor, was sie in eine inhaltliche und konzeptionelle Nähe zur Heilpädagogik der damaligen Zeit bringt. Denn Hanselmann arbeitet fast zeitgleich an der Universität Zürich an der Verwissenschaftlichung der Heilpädagogik im deutschsprachigen Raum und fokussiert dabei das »entwicklungsgehemmte« Kind. Die Faktoren, die Freundenberger nennt, damit Beratung notwendig wird, scheinen auch denen der heutigen Zeit in hohem Maße zu ähneln: Die sozialen Probleme größerer Bevölkerungsschichten, die Störungen in familiären Kontexten des Zusammenhalts, Individualisierungs- und Verstädterungstendenzen sowie dogmatische Theorien zur Erziehung (vgl.: Gröning, 2010, 39).
Der letztgenannte Punkt kann heute eher auf die Auflösung erzieherischer Theorien und ihre offensichtliche Unwirksamkeit bezogen werden. Auch an dieser Stelle scheint sich Geschichte zu wiederholen, wenn sie nicht bearbeitet wird. In der Konkretisierung dieser Thesen geht die Autorin vor allem auf die sozialen Probleme, sogar auf die Armut in der deutschen Gesellschaft ein; weiter skizziert sie die Problematik des Umgangs in den damaligen bürgerlichen Familien. Abschließend erläutert sie die Veränderung der Gesellschaft durch großstädtische Siedlungsformen sowie die Verunsicherung durch konkurrierende Formen der Pädagogik in Bezug auf die Eltern – auch dieses scheint eine deutliche Nähe zu heutigen erziehungsberaterischen Fragestellungen aufzuweisen.
Ein deutlicher Bezug zur Heilpädagogik lässt sich erkennen, wenn man die fünf Funktionen und Aufgaben der Erziehungsberatung betrachtet, welche Freudenberger 1928 in ihrer Dissertation beschreibt:
- »Wegweiser und Integrationsfunktion einschließlich Diagnostik und Eignungsprüfung im Rahmen der Schullaufbahnberatung,
- Helfen, schützen und fördern,
- Fürsorgliche Aufgaben im Rahmen der Jugendhilfe,
- Heilende Fürsorge im Rahmen der Heilpädagogik und
- schließlich Bildung und Qualifizierung der Erzieher« (Gröning, 2010, 40).
Die Benennung erziehungsberaterischer Aufgaben im Rahmen der Jugendhilfe sowie ganz konkrete Aufgaben der Fürsorge im Rahmen der...