Eine bürgerliche Kindheit
Es ist ein Mädchen
Müller, Müller, mahl’ er!
Die Jungen kosten ’nen Taler,
Die Mädchen kosten ’nen Taubendreck,
Die schuppt man mit den Beinen weg.
Müller, Müller, mahl’ er!
Die Mädchen kriegen ’nen Taler,
Die Jungen kriegen ’n Reiterpferd,
Das ist wohl tausend Taler wert
(Kinderreim nach Hedwig Dohm, 1902, 14).
Kinder machten (und machen) nicht nur im 19. Jahrhundert aus einem Paar eine Familie. In einer vor 1871 gegründeten bürgerlichen Familie kamen durchschnittlich etwa sechs Kinder zur Welt, von denen allerdings nicht alle erwachsen wurden. Hohe Säuglingssterblichkeit, lebensbedrohende ansteckende Erkrankungen, die heute als „Kinderkrankheiten“ ihren Schrecken verloren haben, oder Seuchenzüge wie die Pocken forderten ihre Opfer. Erst allmählich setzten sich Bestrebungen durch, den eigenen Kindersegen bewusst einzuschränken. Die hohen Summen, die investiert werden mussten, um den Kindern standesgemäße Ausbildungen zu erwerben, ließen im letzten Drittel des Jahrhunderts das Bürgertum in Sachen Geburtenplanung zum Vorreiter werden. Doch für die übergroße Mehrheit der Bürgerinnen war es selbstverständlich, mit mehreren Geschwistern, wenn nicht gar in einer ganzen Geschwisterschar aufzuwachsen. In den Jugenderinnerungen verklärten sich die ersten Lebensjahre nicht selten zu einem fröhlichen, lauten und sorgenfreien Leben im Freien. Ich schaue in den Spiegel, erinnert sich die 1843 geborene, auf einem Gutshof auf Rügen aufgewachsene Franziska Tiburtius, und frage mich, ob ich das wirklich bin, jenes kleine braune Ding mit den fliegenden Zöpfen, wehendem Kleidchen und flinken Beinen, das wie ein getreuer Pudel hinter einer ganzen Schar Knaben und Mädchen herläuft, die über den Gutshof rasen, schreien, raufen, auf die Strohmiete klettern, hinunterrutschen, Versteck spielen. […] (Ich) musste allerhand kleine Dienste tun, Kaninchen füttern, wenn die Großen nicht Zeit und Lust dazu hatten, musste Steine und Sand in der Schürze herbeitragen, zum Bau der großen Festung, die von den Jungen auf der Wiese hinter dem Garten errichtet wurde, musste auf passen, ob Herr Dalmer, der Hauslehrer, schon vom Ufer zurückgekommen war, weil man dann zum Unterricht anzutreten hatte, – und war froh, ‚dabei‘ zu sein (Tiburtius, 1929, 21). Auch Elisabeth Kühne, die 1850 geborene Juristentochter, erinnert sich an sorgliche Überwachung bei denkbarster Bewegungsfreiheit, innige Verbundenheit mit Garten, Wiese, Wald, mit Blumen und Tieren. Eine drei Jahre ältere Schwester; der ein Jahr ältere Bruder […] unzertrennlicher Kamerad in Schutz und Trutz, zu Friedenstaten und auf oft sehr energischen Kriegspfaden (Simon, 1928, 11). Und in ihren publizierten Kindheitserinnerungen schreibt sie: Wenn ich mir meine Kindheit vergegenwärtige und die der Großstadtkinder damit vergleiche, so kann ich mir nicht vorstellen, was aus mir geworden wäre ohne die Bewegungsfreiheit der köstlichen kleinen Ackerbürgerstadt und ohne die Beziehung zur Natur (Gnauck-Kühne, 1909/10, 126). Sie erwähnt aber auch die mütterlichen Stockhiebe, die Streitigkeiten zwischen den Geschwistern schlichten sollten. Und es ist merkwürdig, wie beredt ein stummer Stock sprechen kann (ebd. 128).
Ein naturnahes relativ freies Leben in ländlicher Umgebung genossen städtische Bürgerkinder seltener. Hier war der Erziehungsstil strenger und artete nicht selten in Drill aus. Das Kinderleben spielte sich unter Beobachtung der Kindermädchen und Gouvernanten fern von den Erwachsenen ab. Doch die mütterliche und väterliche Kontrolle war allzeit spürbar. Kinder im Hause sollten am besten unsichtbar, vor allem aber unhörbar sein, bedeutete man der 1850 geborenen Bremer Großkaufmannstochter Hedwig Crüsemann (verh. Heyl). Die Größeren, die schon am elterlichen Mittagessen teilnehmen durften, wussten, dass sie zu schweigen hatten. Kam ein Kind einige Minuten später wie die Eltern an den Tisch, stellte es sich ruhig hinter den Stuhl bis zum Schluss der Mahlzeit. Gnade gab es nicht. Speisen, die nicht aufgegessen wurden, wenn sie auf dem Teller lagen, kamen zum Abendbrot wieder (Heyl, 1906, 39). Ohnehin redete ein streng erzogenes Bürgerkind mit den Erwachsenen nur, wenn es explizit dazu aufgefordert worden war.
Zwar berichten Bürgerinnen auch von liebevollen zärtlichen Beziehungen zu Mutter oder Vater, Großeltern oder weiteren Verwandten. Doch selbstverständlich waren solche Verbindungen nicht. Zumeist waren die Väter fern. Ein stiller, ergebener Herr. Wir wussten nichts von ihm, er wusste nichts von uns (Dohm, 1912, 66), so die 1831 geborene Hedwig Dohm, geb. Schleh in ihren Jugenderinnerungen. Irgendwie waren Väter immer am Arbeiten, die Mütter mit hauswirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verpflichtungen befasst und belastet. Gerade die Kleineren hatten häufig engere Bindungen an die Dienstboten als an die Eltern. Ich war das erste ihrer Ammenkinder, erzählt Hedwig Dohm über ihre Mutter. Darum mochte sie mich nicht. Ich weiß es von ihr selbst. Dass ich – ein Säugling – immer nur nach der Amme, nicht nach ihr verlangte – hielt sie für frühzeitige Charaktertücke (Dohm, 1912, 65).
In jedem Fall aber unterschied sich die Erziehung von Jungen und Mädchen und die Sorgfalt, die Eltern auf Erziehung und Bildung von Jungen und Mädchen verwandten. Nicht nur in den Haushalten des Adels und der regierenden Dynastien kündigte die doppelte Böllerzahl die Geburt eines Sohnes an. Auch in Bürgerfamilien zählten Söhne in der Regel mehr. Söhne setzten die Familie und gegebenenfalls das Familienunternehmen fort. Söhne traten in die beruflichen Fußstapfen der Väter. Und Töchter? Töchter wurden fortgegeben. Sie kosteten standesgemäße Aussteuern und schufen bestenfalls neue verwandtschaftliche Beziehungen zu anderen Familien, so jedenfalls die gängige Anschauung. Söhne durften sich der besonderen Aufmerksamkeit der Väter sicher sein, und die Töchter? Mit Natürlich einen Jungen. Ein Mädchen ist doch nichts Ernsthaftes (Mann, 1974, 29) verstimmte beispielsweise Thomas Mann Hedwig Dohm, als diese ihn nach dem Wunschgeschlecht seines zukünftigen ersten Kindes fragte.
Die leichte Enttäuschung, dass es „nur“ ein Mädchen ist, durchzieht viele autobiografische Texte von Müttern und Töchtern. Ihren Mann bestätigend, schreibt Katia Mann, geb. Pringsheim (geb. 1883), über ihre erstes Kind: Es war also ein Mädchen, Erika. Ich war sehr verärgert. Ich war immer verärgert, wenn ich ein Mädchen bekam, warum weiß ich nicht. Wir hatten ja im ganzen drei Buben und drei Mädchen, dadurch war Gleichgewicht. Wenn es vier Mädchen und zwei Buben gewesen wären, wäre ich außer mir geraten (Mann, 1974, 29). Und die Professorengattin Emilie Bücher (geb. 1853) berichtet von einer befreundeten Familie: Frau Seeliger bekam gestern ein Mädchen. […] Ich fürchte, sie sind recht enttäuscht, obwohl mit Unrecht. So ein kleines Mädel verschwindet unter den andern, wogegen beim Bub eine ganze Familie u[nd] ein Haushalt nach s[einer] Lernerei u[nd] Studiererei sich richten müssen (Wagner-Hasel, 2011, 141).
Ich habe meinen Eltern keine Sorge gemacht, lässt Hedwig Dohm Agnes Schmidt, die Icherzählerin der Novelle Werde, die du bist (1894), eine Kanzleiratstochter, folgerichtig sagen. Ich tat, was man von mir verlangte. Sie zogen mir aber den Bruder vor, und wenn ich später weder Musik noch Zeichnen noch Sprachen oder sonst etwas lernte, so war es, weil dem Bruder Alles, was gespart werden konnte, zu gute kam. Jetzt weiß ich, warum man mir den Bruder vorzog; weil er der Sohn war und ich nur die Tochter (Dohm, 1894, 15). Und irritiert schreibt Margarethe Krupp (geb. von Ende) über ihren Vater: Es bleibt doch ein psychologisches Rätsel, dass ein derartiger Mann, dem laisser aller im Lernen der Töchter passiv gegenübergestanden, dass auch er sich begnügte, deren Zukunft dem lieben Gott zu überlassen, wo freilich die Söhne genug Sorgen und Ausgaben verursachten (Friz, 2009, 46).
Selbstverständlich unterschieden sich die Kinderwelten der beiden Geschlechter, wenn sie ins Schulalter kamen. Knaben und Mädchen lebten in getrennten Welten, erzählt Hedwig Dohm in ihren „Erinnerungen einer alten Berlinerin“. Meine acht Brüder schlitterten auf dem zugefrorenen Rinnstein, schneeballten sich, keilten sich grässlich untereinander, waren faul in der Schule und wuschen sich am liebsten gar nicht. Mir war dieser Teil der Schöpfung durchaus unsympathisch. Die Mädchen, die saßen möglichst still, sittsam, machten Handarbeiten in den Feierstunden, von der mühsamen Perlen- und petit-point-Stickerei bis zum Strumpfstopfen herunter (Dohm, 1912, 53f.). Wilde, knabenhafte Spiele sollte man den Mädchen, wie sich von selbst versteht, nie in Gemeinschaft mit Knaben, aber auch nicht unter sich gestatten, dozierte daher auch der viel gelesene Pädagoge Karl von Raumer 1853 in einem Ratgeber über Mädchenerziehung. Mädchenspiele müssen immer anmutig bleiben, nie die Grenze der feinen Sittsamkeit und Bescheidenheit überschreiten (Raumer, 1853, 63f.). Je älter ich wurde, bestätigt die Juristentochter Anna Pappritz...