Erstes Buch
Inhaltsverzeichnis
I. 1. Wenn ich, mein lieber Bruder Quintus, wie ich oftmals thue, die alten Zeiten überdenke und mir vergegenwärtige, so pflegen mir die Männer sehr glücklich zu erscheinen, welchen bei der besten Verfassung des Staates im Genusse hoher Ehrenämter und eines großen Thatenruhmes einen solchen Lebenslauf zu behaupten erlaubt war, daß sie entweder ihren Aemtern ohne Gefahr obliegen oder in ihrer Zurückgezogenheit von den Staatsgeschäften mit Würde leben konnten. Auch ich hatte gehofft, es würde mir einst mit Fug und Recht und nach dem Urtheile fast Aller eine Zeit, in der ich wieder Ruhe finden und mich in den Schoß der herrlichen Wissenschaften, die wir beiden lieben, zurückziehen könnte, gegönnt werden, wenn die unendliche Arbeit der gewöhnlichen Verhandlungen und die Bewerbung um Staatsämter mit dem Ablaufe der Ehrenstellen zugleich auch mit der Neige des Alters das Ziel erreicht hätte. 2. Doch diese Hoffnung meiner Gedanken und Pläne wurde theils durch die unglücklichen Zeitverhältnisse des Staates 77, theils durch mannigfache eigene Unfälle 78 vereitelt. Denn in der Zeit, welche mir die vollste Ruhe und Zufriedenheit zu versprechen schien 79, türmte sich eine Menge der größten Widerwärtigkeiten auf, und die wildesten Stürme erhoben sich, und nicht wurde mir der so gewünschte und erstrebte Genuß der Muße zu Theil, um die Wissenschaften, denen wir von Kindheit an ergeben waren, zu betreiben und unter uns anzubauen. 3. Denn mein erstes Lebensalter fiel gerade in den Umsturz der alten Verfassung 80; und mein Consulat führte mich mitten in den Kampf und die Gefahr des ganzen Staates 81, und die ganze Zeit nach dem Consulate habe ich den Fluten entgegenstellen müssen, die, durch mich von der Vernichtung des Staates abgewehrt, gegen mich selbst zurückströmen sollten 82. Aber ungeachtet dieser mißlichen Verhältnisse und bedrängten Zeiten will ich mich dennoch unseren wissenschaftlichen Bestrebungen widmen und, so viel mir die Ränke der Feinde, die Vertheidigungen der Freunde und die Staatsgeschäfte Muße übrig lassen, vorzugsweise zum Schreiben anwenden. Deinen Aufforderungen aber, mein Bruder, und deinen Bitten werde ich nicht unterlassen Genüge zu leisten. Denn Niemand kann durch Ansehen und Willen mehr über mich vermögen, als du.
II. 4. Ich muß nun zu einem Ereignisse früherer Zeiten 83 zurückkehren, das zwar meinem Gedächtnisse nicht ganz vollständig gegenwärtig ist, wohl aber, wie ich glaube, geeignet ist für die Erfüllung deines Wunsches die Ansicht der beredtesten und berühmtesten Männer über die ganze Redekunst zu erfahren. 5. Du hast ja oft den Wunsch gegen mich ausgesprochen, weil die Schrift 84, die mir in meinem Knaben- oder Jünglingsalter aus meinen Heften unvollendet und nur in rohen Umrissen entschlüpfte, kaum meines jetzigen Alters und der Erfahrung, die ich aus der Führung so vieler und so wichtiger Verhandlungen gewonnen habe, würdig ist, ich möchte über dieselben Gegenstände etwas Gefeilteres und Vollendeteres veröffentlichen. Auch pflegst du zuweilen in unseren Unterhaltungen darin von mir abzuweichen, daß, während nach meinem Urtheile die Beredsamkeit auf den wissenschaftlichen Kenntnissen der einsichtvollsten Männer beruht, du hingegen der Ansicht bist, sie müsse von der gründlichen Gelehrsamkeit getrennt und als das Erzeugniß einer gewissen natürlichen Geistesanlage und Uebung angesehen werden. 6. Wenn ich nun, wie ich oftmals that, auf die Männer von der höchsten Geistesbegabung meinen Blick richtete; so drängte sich mir die Frage auf, warum wol alle anderen Fächer eine größere Anzahl bewunderungswürdiger Männer aufzuweisen habe, als die Beredsamkeit. Denn wohin man auch seine Aufmerksamkeit und seine Gedanken wenden mag, so wird man sehr viele ausgezeichnete Männer in jeder Art von Künsten und Wissenschaften sehen, und zwar nicht bloß in den gewöhnlichen, sondern beinahe in den wichtigsten. 7. Wer sollte, wenn er bei der Wissenschaft berühmter Männer den Nutzen oder die Größe ihrer Thaten zum Maßstabe nehmen will, nicht dem Feldherrn vor dem Redner den Vorzug geben? Und doch wer möchte bezweifeln, daß wir der vortrefflichsten Heerführer aus unserem Staate allein beinahe unzählige, in der Beredsamkeit aber hervorragende Männer kaum wenige anführen können. 8. Ferner, Männer, die mit Klugheit und Weisheit einen Staat zu lenken und zu leiten verstanden, haben viele zu unserer, mehr noch zu unserer Väter und auch unserer Vorfahren Zeit gelebt, während gute Redner sehr lange gar nicht, erträgliche kaum in den einzelnen Zeitaltern einzelne gefunden wurden. Und damit man nicht etwa meine, die Redekunst müsse mehr mit anderen Wissenschaften, die auf tieferen Kenntnissen und vielseitiger Gelehrsamkeit beruhen, als mit dem Ruhme eines Feldherrn oder mit der Klugheit eines guten Senators verglichen werden: so möge man seinen Geist auf eben diese Zweige der Wissenschaft richten und betrachten, welche Männer sich in denselben ausgezeichnet haben und wie viele, und er wird so am Leichtesten beurtheilen, wie gering die Anzahl der Redner ist und zu jeder Zeit war.
III. 9. Es ist dir ja nicht unbekannt, daß die Wissenschaft, welche die Griechen Philosophie nennen, von den gelehrtesten Männern als die Erzeugerin und Mutter aller anderen gepriesenen Wissenschaften betrachtet wird; und doch ist es schwer alle die Männer aufzuzählen, die sich in derselben durch den größten Umfang ihres Wissens und die größte Vielseitigkeit und Fülle ihrer Bestrebungen auszeichneten, die sich nicht etwa mit einem einzelnen abgesonderten Gegenstande beschäftigten, sondern so viel als möglich Alles mit ihrer wissenschaftlichen Erforschung und Erörterung umfaßten. 10. Was die Mathematiker anlangt, wer weiß nicht, was für dunkele Gegenstände, welch eine entlegene, vielseitige und tiefe Wissenschaft sie bearbeiten? Und doch sind unter ihnen so viele vollkommene Meister aufgetreten, daß sich fast Niemand dieser Wissenschaft mit großem Eifer befleißigt zu haben scheint, ohne seinen Zweck zu erreichen. Wer hat sich der Musik, wer der Sprachkunde gründlich gewidmet, ohne den ganzen beinahe unbegränzten Umfang und Stoff jener Künste mit seiner wissenschaftlichen Forschung zu umfassen? 11. Mit Recht glaube ich behaupten zu dürfen, daß unter allen denen, die ihre Bemühungen auf diese edelen Künste und Wissenschaften gerichtet haben, die Menge ausgezeichneter Dichter sich als die geringste erweist. Und obwol unter diesen nur sehr selten ein hervorragender Geist auftritt, so wird man doch, wenn man nach der Menge der Unsrigen und der Griechen eine sorgfältige Vergleichung anstellen will, weit weniger gute Redner als gute Dichter finden. 12. Um so viel wunderbarer muß dieß erscheinen, weil die Kenntnisse in den anderen Wissenschaften meistens aus tiefen und verborgenen Quellen geschöpft werden, die Redekunst hingegen ganz vor Aller Augen liegt und sich in der gewöhnlichen Erfahrung und in der Menschen Sitte und Rede bewegt. Während daher in den anderen Wissenschaften gerade das, was sich am Weitesten von der Unerfahrenen Einsicht und Denkart entfernt, am Meisten hervorragt, so ist es in der Beredsamkeit gerade der größte Fehler, wenn man von der gebräuchlichen Redeweise und dem gemeinen Menschenverstande abweicht.
IV. 13. Auch das läßt sich nicht mit Recht anführen, daß die Mehrzahl sich der anderen Wissenschaften befleißige oder durch größeres Vergnügen oder reichere Hoffnung oder glänzendere Belohnungen zur Erlernung derselben aufgemuntert werde. Und um Griechenland zu übergehen, das in der Beredsamkeit immer den Vorrang behaupten wollte, und jene Erfinderin aller Wissenschaften, die Stadt Athen, wo die höchste Redekunst erfunden und zur Vollkommenheit gebracht worden ist, in unserem Staate selbst wurde nie irgend einem Gegenstande größerer Fleiß und Eifer zugewandt als der Beredsamkeit. 14. Denn nachdem unsere Herrschaft über alle Völker begründet war, und die Dauer des Friedens das ruhige Leben befestigt hatte; so fand sich nicht leicht ein ruhmbegieriger Jüngling, der nicht der Ansicht gewesen wäre mit allem Eifer nach Beredsamkeit streben zu müssen. Anfänglich zwar bei dem gänzlichen Mangel an wissenschaftlicher Bildung, da man weder von einem geregelten Verfahren der Uebung noch von einer Kunstregel eine Ahnung hatte, brachte man es so weit, als es durch Naturanlage und Nachdenken möglich war. Später aber, als man die Griechischen Redner hörte, ihre Schriften kennen lernte und Lehrmeister anwandte, entbrannten unsere Landsleute von einem unglaublichen Eifer für Beredsamkeit. 15. Aufmunterung fanden sie in der Wichtigkeit, Mannigfaltigkeit und Menge der Rechtsverhandlungen jeglicher Art, so daß zu der gelehrten Bildung, die jeder durch eigenen Fleiß gewonnen hatte, häufige Uebung hinzutrat, welche die Vorschriften aller Lehrmeister übertrifft. Es waren auch diesen Bestrebungen die größten Belohnungen, sowie auch jetzt noch, in Beziehung auf Einfluß, Macht und Würde ausgesetzt. Die geistigen Anlagen unserer Landsleute aber zeichnen sich, wie wir aus vielen Umständen schließen können, sehr vor denen der übrigen Menschen unter allen Völkern aus. Erwägt man diese Gründe, wen dürfte es nicht mit Recht befremden, daß sich in der ganzen Geschichte aller Lebensalter, Zeiten und Staaten eine so geringe Anzahl von Rednern findet? Aber freilich ist es ein schwierigeres Werk, als die Menschen wähnen, und aus dem gemeinsamen Zusammenwirken mehrerer Wissenschaften und Bestrebungen hervorgegangen.
V. 16. Denn bei der großen...