Menschenrechte und die Religion/en1
Harry Noormann
Zwischen dem Starken und Schwachen
ist es die Freiheit, die unterdrückt, und es ist
das Gesetz, was befreit.
Jean Baptiste Henri Lacordaire
1 Problemanzeigen
Als in Ruanda 1994 innerhalb von 100 Tagen nahezu 1 Million Menschen der Tutsi-Minderheit auf bestialische Weise vor den Augen der Weltöffentlichkeit von den herrschenden Hutu umgebracht wurde, geschah dies in einem Land, das gemeinhin als die am stärksten christianisierte Region Afrikas gilt: 2/3 Drittel der Bevölkerung waren seinerzeit katholisch. Katholische Hutu massakrierten katholische Tutsi. Erdrückende Zeugnisse dokumentieren, dass führende Persönlichkeiten der Religion der Nächstenliebe kräftig Öl ins Feuer des Hasses und der Gewaltexzesse gegossen haben. Der ethnische Genozid war getränkt auch mit religiösem Eifer; umso erstaunlicher der Schleier der Unwissenheit und des Schweigens über die Rolle der kleinen, 10 %igen Minderheit der Muslime im Land. Wer hat von der „Sensibilisierungskampagne“ an muslimischen Schulen gegen die Gewalteskalation erfahren, die unter Berufung auf den Koran das Tötungsverbot und die islamischen Werte der Gleichheit aller ungeachtet ihrer Religion oder Ethnie eingeschärft hat? Das Eintreten muslimischer Autoritäten und Gemeinschaften für das Lebensrecht aller, für aktive Gewaltlosigkeit und für den Schutz von Verfolgten hat vielen Bedrohten das Leben gerettet und ein mutiges Zeugnis religiös motivierter Menschlichkeit hinterlassen2 – gleichermaßen verstörend für das stereotype Bild „des“ Islam und „des“ Christentums in der medialen Öffentlichkeit.
Das Beispiel zeigt auf drastische Weise die Fahrlässigkeit der Redeweise über das vermeintliche Verhältnis dieser oder jener Religion zur Menschenrechtsbewegung, wie sie der Titel auch dieses Beitrags suggeriert. Andererseits wird niemand der ganz allgemeinen Behauptung widersprechen wollen, dass eine kannibalistische Religion es schwerer hat, einen Zugang zur Idee der Menschenwürde zu finden als jene, deren Schriften die Gläubigen auf die Heiligkeit allen Lebens verpflichtet. Die methodologische Aporie ist unauflösbar, aber heuristisch zu wenden: Die abstrakte Rede von „der“ Religion arbeitet mit vorläufigen Annahmen, die offen bleiben müssen für widersprechende Phänomene und umgekehrt.
Für die großen Religionen stellt die Menschenrechtstradition eine vierfache Herausforderung dar. Zum einen haben die begründungsoffenen und säkularen Prinzipien der Menschenrechtskonventionen eine normativ-ethische und rechtliche Dynamik entfaltet, deren Zustimmungsfähigkeit weiter reicht als die der einzelnen Religionen – so wenig wie Staaten können sich Religionen ihnen entziehen. Sie müssen ihnen ihre – wenn auch kritische – Referenz erweisen. Seit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) 1948, über die Menschenrechtspakte von 1966 (in Kraft seit 1976) bis zur „dritten Generation der Menschenrechte“ (Wien 1993) und der UN-Milleniumserklärung im Jahre 2000 haben sich die Menschenrechte (MR) zum normativen Horizont für die „menschliche Entwicklung“ (UNPD) im weltweiten Maßstab entwickelt.3 Trotz massiver Kritik und Vorbehalte haben sie eine transkulturelle und transnationale Revolution in der Völkergemeinschaft bewirkt, deren moralische Autorität von eklatanten Missachtungen der Menschenrechte immer wieder schwer beschädigt, aber nicht widerlegt worden ist und wird.
Zweitens werden die Religionen durch den Menschenrechtskodex an ihrem Beitrag zur gesellschaftlichen Humanisierung behaftet. Es ist an ihnen, Ängste zu widerlegen, die mit der „Wiederkehr der Religion“ in der politischen Arena vielfach verbunden sind. Die MR fordern drittens dazu heraus, den interreligiösen Dialog auf ethische Schlüsselprobleme auszurichten. Dieser „Dialog der Lebens“ für die Verwirklichung der MR bildet gleichsam ein tertium comparationis, das die Gemeinsamkeiten für ein globales menschenrechtliches Ethos leichter zu erkennen geben kann als schwer überbrückbare Differenzen in den fundamentalen theologischen und weltanschaulichen Überzeugungen.
Ein besonders diffiziles Problem stellt die prinzipielle Ambivalenz von religiöser Weltdeutung und Lebensführung gegenüber den Menschenrechten dar. Religion ist mehr als Ethik. Religionen versprechen auf je eigene Weise, dass Menschsein und menschliche Würde nicht in der Verfügbarkeit über Menschenrechte aufgeht. Abgesehen vom basalen Recht auf Leben behaupten sie: Menschenrechte zu haben, entscheidet letztendlich nicht darüber, Mensch zu sein. Andererseits gibt es keine Religion ohne Ethik. Religionen müssen daher ihr Konzept von „Heil“ oder „Erlösung“ ins Verhältnis setzen zum Stellenwert menschenrechtlicher Forderungen.
Der folgende Beitrag diskutiert daher zunächst den auf den ersten Blick überraschenden Sachverhalt, dass die christlichen Kirchen erst in der Mitte des letzten Jahrhunderts ihre entschiedene Gegnerschaft gegenüber dem Menschenrechtsethos aufgeben haben und einen radikalen Kurswechsel einleiten konnten. Diesem ersten, ökumenisch inspirierten Transformations-prozess folgte in den 1990er Jahren ein zweiter mit der Herausforderung, christliche Perspektiven im globalen Diskurs um die Verwirklichung von Menschenrechten auf Augenhöhe und in der Polyphonie religiöser Traditionen und Lebenspraxen zu entwickeln. Dieser historische Exkurs soll Einsichten vermitteln, die vorsichtige Analogien für historische Transformationsprozesse in anderen Religionen zulassen - namentlich in Richtung Islam, der sich in der Unterscheidung und Anerkennung von (säkularem) Recht und religiöser Wahrheit schwer tut.
Den Verdiensten und Grenzen des „Projektes Weltethos“, das als eine frühzeitige und weltweit beachtete interreligiöse Reaktion auf weltgesellschaft-liche Verflechtungen interpretiert werden kann, wird in einem zweiten Abschnitt nachgegangen.
Gegenüber der Dialogstrategie eines universalistischen, ethischen Minimalkonsenses zwischen den Religionen wird in Anknüpfung an Lessings Nathan abschließend die These begründet, dass ein authentischer und konstruktiver Beitrag der Religionen zur Dynamik der Menschenrechte aus ihren eigenen, kontextspezifischen Leidens-, Unrechts- und Befreiungserfahrungen gewonnen werden muss.
2 Die menschenrechtliche Konversion der christlichen Kirchen – 170 Jahre Ringen mit den freiheitlichen Prinzipien der Moderne
Die Kirchen der evangelischen Ökumene und die römisch-katholische Kirche – voran ihre großen Hilfswerke – verstehen sich heute als entschiedene, weltweit operierende Anwälte der Menschenrechte.4 Die Nähe zwischen der christlichen Botschaft von der Gleichheit aller Menschengeschöpfe als Ebenbilder Gottes und der unveräußerlichen Würde des Menschen erscheint so selbstverständlich, dass die Feststellung verblüffen und irritieren muss, die Kirchen hierzulande hätten erst in den 1960er und 1970er Jahren des letzten Jh.s ihren Frieden mit den Menschenrechten gemacht. Eine lehramtlich verbindliche, positive Aufnahme haben die Menschenrechtserklärungen auf katholischer Seite (nach Vorarbeiten von Papst Johannes XXIII. in seiner Enzyklika „Pacem in terris“ von 1963) durch die Dekrete des 2. Vatikanischen Konzils 1965 erfahren. Die Erklärung Dignitas humanae personae bekennt sich erstmals zur Religionsfreiheit in Respekt vor der Würde des Menschen, die auch eine demokratische Ordnung für die aktive Beteiligung des Einzelnen am Gemeinwesen verlange.5 Die Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“ über die Kirche in der modernen Welt bezieht sich ebenfalls positiv auf elementare MR.
Auf evangelischer Seite ist die Menschenrechtsdebatte vom Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK) angestoßen worden.6 Die Gründungsversammlung des ÖRK bekannte sich 1948 in Amsterdam unter dem Eindruck der schrecklichen jüngsten Vergangenheit nachdrücklich dazu, die Wahrung der Menschenrechte unter internationalen Schutz zu stellen und hielt dafür, über eine unverbindliche Charta hinaus die Annahme eines internationalen Gesetzes anzustreben, „das die Anerkennung und Durchsetzung aller wesentlichen Freiheiten, der persönlichen, politischen oder sozialen, im nationalen und internationalen Rahmen vorsieht“ (Die erste Vollversammlung, 1948, S. 128f; 139f; die Diskussion darüber wurde 1974 auf der Konsultation des ÖRK über die Frage der Menschenrechte in St. Pölten fortgesetzt.) Die EKD hat die Menschenrechtsfrage in einer offiziellen Stellungnahme erst 1975 aufgegriffen.7
Wie lässt sich verständlich machen, dass die Kirchen nahezu 170 Jahre gebraucht haben, um die Menschenrechtstradition als ihre genuin eigene Sache anzunehmen? Und wie steht es um die Polemik des Philosophen Herbert Schnädelbach, die Aufklärung habe „die Idee des nichtrelativen Naturrechts gegen den erbitterten Widerstand der Amtskirche beider Konfessionen durchsetzen“ müssen und der sich gegen das „gern geglaubte Märchen“ zur Wehr setzt, die Prinzipien von Menschenwürde und Menschenrechten hätten christliche Wurzeln?8
Historische und sachliche Argumente sind zu unterscheiden. Was den historischen Entstehungszusammenhang angeht, wird das Urteil des evangelischen Sozialethikers Martin Honecker von den meisten Theologen unwidersprochen bleiben: „Die Menschenrechte im heutigen Verständnis sind keine Errungenschaft des Christentums, sondern Ergebnis der Freiheits-, Liberalisierungs- und Demokratisierungsbewegung der...