1 Willensfreiheit, eine Illusion?
Eine alte und neue Kontroverse – die Frage nach der Verantwortlichkeit
Auch delinquentes menschliches Verhalten zu verstehen und zu erklären, ist eine wichtige Aufgabe psychologischer Diagnostik und Begutachtung. Die Frage nach seiner Zurechenbarkeit hat sich mit der grundlegenden Kontroverse auseinanderzusetzen, ob menschliches Verhalten einem freien Willen unterliegt oder determiniert ist. Mit dem zum Teil rasanten Fortschreiten naturwissenschaftlicher Erkenntnisse werden bekannte naturphilosophische Grundauffassungen neu diskutiert, infrage gestellt oder erfahren Unterstützung. So haben auch neurowissenschaftliche, speziell neurobiologische Befunde der Hirnforschung die Diskussion um Determinismus und Indeterminismus wiederbelebt. Determinismus beschreibt die naturphilosophische Grundauffassung oder Lehre, dass alle Vorgänge in der Welt ursächlich bestimmt sind. Nichts an Geschehen ist zufällig, es ist vielmehr notwendige Wirkung bestimmter Ursachen. Auf menschliches Verhalten übertragen sind es anlage- oder umweltbedingte (genetische, biologische, erlebnisbedingte) Faktoren, durch die das Verhalten festgelegt ist. Der Determinismus lässt der Spontaneität des Menschen keinen Raum. Verhalten und der Wille dazu sind determiniert, d. h. auch der Willensakt unterliegt äußeren oder inneren Ursachen. (Willens-)Freiheit und sittliche Verantwortlichkeit sind danach nicht möglich, sie werden geleugnet (ethischer Determinismus). Im Gegensatz dazu hat aus der Sicht des ethischen Indeterminismus der freie Wille zwar seinen Raum, unterliegt aber eher dem Zufall. Der handelnde Mensch verhielte sich danach wie ein Zufallsgenerator.
Wie kommen Hirnforscher dazu, Freiheit und freie Willensentscheidung zur Disposition zu stellen oder gar zu leugnen, sie als Illusion zu bezeichnen? Wie kommt es zu dieser neuerlichen, jetzt neurophilosophischen Diskussion, in der ein „neuronaler Determinismus“ (Schnädelbach, 2004) vertreten wird mit allen Konsequenzen für Verbindlichkeiten von Moral und Schuld, sodass Michel Friedman in Bearbeitung seines Promotionsthemas „Konsequenzen der neurobiologischen Forschung für den Schuldbegriff des Strafrechts“ vermutlich eher in provokanter Weise die Forderung aufstellt: „Wir müssen den Schuldparagrafen des Strafrechts überdenken“ (Bender, 2006).
Zweifellos hat die Hirnforschung seit den 1990er Jahren geradezu revolutionäre Fortschritte zu verzeichnen, nicht zuletzt durch die Bereitstellung neuer technischer Möglichkeiten bildgebender Verfahren wie Positronen-Emissions-Tomographie (PET) und funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT), die über die Elektroenzephalographie (EEG) hinausgehend eine genaue Lokalisierung von Aktivitäten im gesamten menschlichen Gehirn möglich machen. Wir wissen heute sehr viel mehr über Funktionen des Gehirns als noch vor zehn Jahren. Nicht wenige Fragen, denen sich die Hirnforschung zuwendet, berühren auch die Interessen anderer Wissenschaften, z. B. der Neuro-Psychologie, die sich bislang eher mit den Folgen von Hirnschädigungen auf das menschliche Verhalten befasste. Man erhofft sich jetzt u. a. Klärungen oder zumindest Fortschritte im Verständnis menschlicher Ich- und Bewusstseinszustände. Man möchte mehr über Wahrnehmungsvorgänge und Handlungsplanungen wissen, wo und wie im Gehirn Emotionen und Affekte entstehen, wie Gedächtnis repräsentiert ist. Der Hirnforscher Gerhard Roth (2001a, b) stellt u. a. Fragen nach neurobiologischen Grundlagen psychischer Erkrankungen und deren therapeutischer Beeinflussbarkeit. In einem Brückenschlag von Hirnforschung und der Freudschen Psychoanalyse sucht Roth nach möglichen neurobiologischen Entsprechungen des sogenannten Unbewussten, er fragt, welche möglichen Faktoren das Ich determinieren, ob das Ich oder eher das Unbewusste das menschliche Erleben und Handeln bestimmt. Roth (2001b) spricht davon, dass Resultate und Einsichten der Hirnforschung „die Lehre Freuds in einigen wichtigen Punkten zu bestätigen scheinen“, u.a. darin, dass das unbewusste Erfahrungsgedächtnis unser Handeln stärker bestimme als das bewusste Ich. Nach Roth (2006) finden folgende drei Grundannahmen Freuds eine späte neurobiologische Unterstützung:
- „Das Unbewusste kontrolliert das Bewusstsein stärker als umgekehrt.“
- „Das Unbewusste oder ‚Es‘ entsteht vor dem Bewusstsein; es legt sehr früh die Grundstrukturen des Psychischen und des bewussten Erlebens, des ‚Ich‘ fest.“
- „Das Ich hat keine oder nur geringe Einsicht in die unbewussten Determinanten des Erlebens und Handelns.“
Es fällt auf, dass in der Hirnforschung der Begriff des Unbewussten uneinheitlich verwendet wird. So werden z.B. die aufeinander abgestimmten Bewegungs- und Handlungsabläufe eines routinierten Autofahrers oder auch Bergsteigers der Instanz des Unbewussten oder des Unterbewussten zugeordnet. Eigentlich handelt es sich um ein ehemals bewusst eingeübtes und schließlich automatisiertes oder teilautomatisiertes Geschehen. Auch das im Millisekundenbereich liegende Vorbereitungsintervall einer nach Reizexposition bewussten Wahrnehmung oder Handlung dem Unbewussten zuzuordnen, erscheint problematisch. Es mehren sich deshalb Stimmen, die eine Aufwertung der Psychoanalyse jedenfalls durch die Hirnforschung sehr kritisch sehen, ihr auch keinen Erkenntniswert in der Aufklärung des Unbewussten zusprechen. So äußert der Psychoanalytiker Tilmann Habermas (2006, S. 40): „In letzter Zeit sprechen manche … von einer Renaissance der Psychoanalyse durch die Ergebnisse der Hirnforschung, da diese endlich die von der Psychoanalyse behaupteten unbewussten psychischen Prozesse belegt habe. Dabei hat die Beobachtung, dass im Gehirn bestimmte Areale besser durchblutet werden, kurz bevor die Person eine Entscheidung trifft, einen Gedanken hegt oder etwas fühlt, nichts mit Freuds Begriff des Unbewussten zu tun, in dem ein Gedanke im Unbewussten eine Dynamik entfaltet, weil er verdrängt wurde. Die Zukunft der Erforschung des Unbewussten liegt nicht im Gehirn ….“
Was hat das Ganze mit der Frage zu tun, ob es den freien Willen gibt oder nicht? Nach der Befundlage neurobiologischer Experimente ist in der Tat davon auszugehen, dass unsere subjektiven Erfahrungen, unsere Wahrnehmungen, unser Denken, Fühlen, unsere Willensakte durch ihnen unmittelbar vorausgehende, ca. 300–500 Millisekunden beanspruchende zerebrale Verarbeitungsprozesse vorbereitet werden. Das heißt, das subjektive Erleben tritt mit der genannten zeitlichen Verzögerung ein, es „hinkt den verursachenden Hirnprozessen um einige hundert Millisekunden hinterher“ (Grawe, 2004, S. 122). Einzelne Hirnforscher sehen genau hierin einen Beleg für die alleinige biologische Begründung menschlichen Verhaltens und die Unterstützung der These seiner Vorherbestimmtheit, wodurch die Beteiligung eines freien Willens als verhaltensbestimmende Einflussgröße auszuschließen sei (Soma-Psyche-Kontroverse). Sie gehen davon aus, dass wir nicht entscheiden, sondern unser Gehirn jeweils schon entschieden hat, bevor wir den subjektiven Eindruck haben, eine Handlungsentscheidung zu treffen. Heißt dies in der Konsequenz – wie die beiden Wissenschaftsjournalisten Siefer und Weber (2006) unter Bezug auf Wolfgang Prinz nahelegen – wir tun nicht, was wir wollen, sondern wir wollen, was wir tun? Dieser Gedanke provoziert, er erschüttert vielleicht auch unsere Sicht auf uns selbst. Grawe (2004, S. 44) stellt folgende Fragen in den Raum: „Können wir keinen noch so geheimen Gedanken denken, keine freie Willensentscheidung treffen, ohne dass diese durch ein spezifisches Muster neuronaler Erregungen in unserem Gehirn hervorgebracht würden?“ „Sollte Willensstärke nur auf der Übertragungsbereitschaft von Synapsen beruhen?“ Und er gibt gleich eine Antwort: „Das ist starker Tobak, den die Neurowissenschaften uns da zumuten.“ Nehmen wir ein alltägliches Beispiel: Wenn ich mich entscheide, zu Hause zu bleiben und mein Wohnzimmer zu renovieren, statt mich mit einem Freund zu treffen, was ich viel lieber täte, tue ich dies dann nur deshalb, weil im Frontalhirn entsprechende neuronale Gegebenheiten entstanden sind? Sicher nicht! Die Antworten der Neurowissenschaftler in diesem Kontext sind zu simpel, um einen komplexen Entscheidungsvorgang zu erklären. Menschliches Erleben und Verhalten ist zu vielschichtig, als dass es nur annähernd durch neurowissenschaftliche Beobachtungen des Gehirns mittels bildgebender Verfahren erklärt werden könnte. Das Gefühl der Freude z.B. ist mehr und etwas anderes als die Summe der daran beteiligten aktivierten Hirnareale. Es existiert keine Erklärung, wie aus physikalischen Ereignissen in den Nervenzellen emotionale oder geistige Erlebnisse entstehen. Die menschliche Person und ihre Identität lassen sich erst recht nicht neurowissenschaftlich verorten und beschreiben.1 Im Übrigen kann die heutige Neurowissenschaft der Komplexität des Gehirns nicht im Geringsten entsprechen. „Auch wenn das Gehirn deterministisch funktioniert, ist es in seiner Komplexität niemals vollständig beschreib- und verstehbar“ (Rösler, 2004, S. 32).2
Kommen wir zurück auf die hirnbiologischen Experimente, die in den Ergebnissen zeigen, dass unserem Handeln im Millisekundenbereich anzusiedelnde zerebrale Verarbeitungsprozesse vorausgehen. Es mag verunsichern, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass die das Handeln, Denken, Fühlen vorbereitenden Hirnprozesse unbemerkt, unbewusst ablaufen und wir darüber auch keine Kontrolle haben. Nichtsdestoweniger gehören diese zerebralen Verarbeitungsprozesse dem jeweils denkenden oder handelnden Menschen an, niemandem sonst! Auch...