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E-Book

Hilfen zur Erziehung

AutorOliver Hechler
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2011
Seitenanzahl152 Seiten
ISBN9783170228849
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
Neben der Schule ist die Kinder- und Jugendhilfe, und hier insbesondere die Hilfen zur Erziehung, der zentrale Tätigkeitsbereich professioneller Pädagogen. Die Hilfen zur Erziehung sind zwar vom Gesetzgeber formaljuristisch geregelt, stellen aber die in dem Bereich tätigen Pädagogen vor die Aufgabe, den gesetzlich vorgegebenen Rahmen fachlich auszukleiden. Hier setzt das Buch an. Es liefert eine praxisorientierte Einführung in die Hilfen zur Erziehung aus pädagogischer Sicht. Es stellt dazu die unterschiedlichen Hilfen zur Erziehung auf eine pädagogische Basis und gibt Auskunft über die sinnvolle Ausgestaltung und Umsetzung der jeweiligen Hilfe. Die Darstellung wird mit Beispielen aus der Praxis der erzieherischen Hilfen veranschaulicht.

Dr. Oliver Hechler ist Akademischer Rat am Lehrstuhl für Pädagogik bei Lernbeeinträchtigungen der Julius-Maximilians-Universität Würzburg.

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„Hilfen zur Erziehung“


Eine Annäherung an das Praxisfeld „Hilfen zur Erziehung“ geschieht zunächst durch einen kurzen Blick auf die Geschichte der Erziehungshilfe. Hieran schließen Überlegungen zu den Adressaten der erzieherischen Hilfen an, um dann die zentralen Begrifflichkeiten in den Fokus zu nehmen, die letztendlich die Bezugspunkte für die konkreten „Hilfen zur Erziehung“ abgeben.

2.1 Zur Geschichte der Erziehungshilfen


Die Geschichte der „Hilfen zur Erziehung“ ist auf der einen Seite nicht leicht zu rekonstruieren, weil es immer auch um die Entwicklungs- und Theoriegeschichte einzelner „Hilfen zur Erziehung“ geht. So weisen beispielsweise die Erziehungsberatung (Hundsalz, 1995) und die Soziale Gruppenarbeit (Konopka, 1969) eigenständige Traditionslinien auf, die im Grunde auch eine eigene Geschichtsschreibung nötig machen. Darüber hinaus, und das darf bis heute nicht vergessen werden, ist die Geschichte der erzieherischen Hilfen immer auch eine sozialpolitische Geschichte und weist auf das in der betreffenden Epoche maßgebliche politische Klima hin.

Auf der anderen Seite aber lassen sich grob Entwicklungsphasen der erzieherischen Hilfen identifizieren, die einen Überblick ermöglichen. Im Grunde lässt sich mit Hinblick auf Deutschland die Zeit zwischen 1878 und 1922 als „Gründerzeit der Jugendhilfe“ (Trede, 2009, S. 26, kursiv nicht im Original) auffassen. In dieser Zeit entwickelte sich eine erste systematisch zu nennende öffentliche Fürsorgeerziehung, die allerdings eher den Auftrag hatte, den immer mehr aufkommenden Typ des proletarischen Jugendlichen unter Kontrolle zu halten. Diese Form der Fürsorge richtete ihr Augenmerk auf die entwicklungspsychologisch und pädagogisch-erzieherisch relevante Zeit der Adoleszenz, die ihrerseits in das damalige gesellschaftliche Vakuum zwischen Schule und Militärdienst fiel. Um die pubertär-adoleszente Dynamik kontrollieren zu können, hatte die Fürsorgeerziehung entsprechend auch einen fast ausschließlichen Zwangscharakter und war mit einer totalen Institution (Goffmann, 1973) vergleichbar. Gleichwohl darf aber auch nicht unerwähnt bleiben, dass in diese Zeit auch die Entstehung erster Jugendämter fiel und damit eine Verberuflichung der Jugendfürsorgetätigkeit einsetzte. Diese Entwicklung fand dann mit der Etablierung des Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes 1922 einen ersten vorläufigen Abschluss. Der sich an diese Zeit anschließende Nationalsozialismus setzte dann allen aufkommenden emanzipatorischen öffentlich-erzieherischen Hilfen – wie etwa die Erziehungsberatung – ein deutliches Ende. Nicht mehr Aufklärung, Unterstützung und Hilfe waren die Leitkategorien erzieherischer Hilfen, sondern vielmehr die Selektion und Differenzierung der Kinder und Jugendlichen in erziehbar, schwer erziehbar und unerziehbar. Für die Sonderpädagogik galt entsprechend die Differenzierung in bildbare und unbildbare Menschen. In der auf den Nationalsozialismus folgenden so genannten restaurativen Phase knüpften die „Hilfen zur Erziehung“ aus Mangel an Alternativen sowohl an das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz als auch an die damit verbundenen traditionellen Formen der Anstaltserziehung an. Erst das Aufkommen der Kinderdorfbewegung (vgl. Honsal, 2009) in den 1950er Jahren und die Konzeptualisierung und Gründung heilpädagogischer Heime (vgl. Möckel, 2007) ungefähr zur gleichen Zeit führten zu einer einsetzenden Professionalisierung, die, ausgelöst durch die Heimkampagne im Sommer und Herbst 1969, letztendlich einen tief greifenden Reformprozess in Gang setzte. Als Meilenstein dieser Entwicklung kann der Zwischenbericht der Kommission Heimerziehung aus dem Jahr 1977 gewertet werden. Hierin wird schon das Programm einer modernen Jugendhilfe grundgelegt. Ihre Entfaltung und Umsetzung fand diese Programmatik allerdings erst 1991, als das bis heute gültige Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG, SGB VIII) in Kraft trat und damit auch das Jugendwohlfahrtsgesetz von 1922 in der Fassung von 1966 ablöste. Seit 1991 wurde das KJHG um das Gesetz zur Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe (Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetz KICK) im Jahre 2005 erweitert. Diese Erweiterung erlangt deswegen große Bedeutung, weil hierin der Schutzauftrag der Kinder- und Jugendhilfe und dessen Konkretisierung im Fall einer Kindeswohlgefährdung (vgl. § 8a KJHG) unmissverständlich als Aufgabe und Pflicht der Kinder- und Jugendhilfe klargestellt werden.

Und seit dem Inkrafttreten des KJHG’s sind erzieherische Hilfen als mehr oder weniger intensive Beratungs-, Betreuungs- und Hilfsangebote für junge Menschen und deren Familien zu verstehen (vgl. §§ 27–35 SGB VIII), auf die ein Rechtsanspruch von Seiten der Personensorgeberechtigten dann besteht, wenn „eine dem Wohl des Kindes oder Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist und die Hilfe für seine Entwicklung geeignet und notwendig ist“ (§ 27 Abs. 1 SGB VIII).

2.2 Adressaten der Erziehungshilfe


„Insgesamt unterscheiden sich die Familien der Kinder/Jugendlichen in Erziehungshilfen – das belegen sowohl Jugendhilfestatistik wie auch alle empirischen Studien – deutlich von der ‚Normalbevölkerung‘“ (Trede, 2009, S. 31). Das heißt, die Familien, die Adressaten der „Hilfen zur Erziehung“ sind, können als mehrfach belastete Familien (Wnuk-Gette & Wnuk, 2002) aufgefasst werden. Familien also, bei denen ungünstige sozioökonomische und bio-psycho-soziale Faktoren zusammenwirken. Auf den Punkt gebracht heißt dies: Je höher der Grad der Belastung der familialen Verhältnisse und der sozialen Benachteiligung und je niedriger das Maß an Bewältigungsressourcen, desto häufiger werden die Kinder aus diesen Familien Adressaten erzieherischer Hilfen (Ellinger, 2011), die dazu noch eine sehr hohe Eingrifforientierung und Intensität aufweisen.

Was die Altersverteilung der Kinder anbelangt, so kann festgehalten werden, dass jüngere Kinder weniger deutlich im Rahmen der Erziehungshilfe auftreten – und wenn, dann eher im Bereich der Erziehungsberatung oder der Sozialpädagogischen Familienhilfe – als ältere Kinder und Jugendliche. Und auch hinsichtlich der Geschlechterverteilung fällt auf, dass zum Beispiel deutlich mehr männliche Kinder und Jugendliche eine stationäre Hilfe zur Erziehung erhalten als weibliche Jugendliche (Trede, 2009).

Gleichwohl muss festgehalten werden, dass nicht jedes Familienproblem und/oder jede individuelle Problemlage eines männlichen Jugendlichen aus sozioökonomisch und/oder psychosozial belasteten Familienverhältnissen dazu führt, „Hilfen zur Erziehung“ in Anspruch zu nehmen oder diese staatlich durchgesetzt werden müssen. Es ist vielmehr das Zusammenwirken unterschiedlicher Stressoren mit den vorhandenen Ressourcen, das darüber im Einzelfall entscheidet, ob sich familiale, partnerschaftliche und individuelle Verfasstheiten auf der einen Seite und sozioökonomische Bedingungen auf der anderen Seite zu einer akuten oder permanenten Gefährdung des Kindeswohls auswachsen. Erst mit diesem Verständnis wird es möglich, auch Familien zu erfassen, die nicht unbedingt im landläufigen Sinne als Multiproblemfamilien zu erkennen sind, sich vielmehr durch ein hohes sozioökonomisches und bildungsbürgerliches Niveau auszeichnen und trotzdem Erziehungsverhältnisse realisieren, die dem Wohl des Kindes oder der Kinder abträglich sind und so Spielarten einer so genannten Wohlstandsverwahrlosung entstehen (Zöllner, 1997).

In allen Fällen stellt sich aber der mit dem Kind oder der Familie beschäftigten Fachperson die Frage, wie sich die Kindeswohlgefährdung im jeweiligen Einzelfall konkret zeigt und mit welchen erzieherischen Hilfen hierauf bezogen angemessen geantwortet werden kann.

2.3 Kindeswohl, Kindeswohlgefährdung, erzieherischer Bedarf und Hilfeplan als zentrale Begriffe der Erziehungshilfe


Erzieherische Hilfen im Kontext des KJHG’s bedürfen also neben der gesetzlichen Grundlage einer begründeten einzelfallbezogenen Ausgestaltung.

In diesem Zusammenhang sind die Begriffe „Kindeswohl“, „Kindeswohlgefährdung“ „erzieherischer Bedarf“ und „Hilfeplan“ als zentral und als handlungsleitend anzusehen. Denn erst, wenn eine dem Kindeswohl nicht zuträgliche Erziehung vorliegt, haben die Personensorgeberechtigten einen Rechtsanspruch auf Inanspruchnahme erzieherischer Hilfe. Und folgt man Artikel 6 Absatz 2 des Grundgesetzes, in dem es heißt: „Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft“, dann wird hier unmissverständlich deutlich, dass auch erzieherische Hilfen gegen den Willen der Eltern durchgesetzt werden können und zwar dann, wenn die Eltern ihrer Pflicht zur Erziehung und Pflege der Kinder nicht oder nur ungenügend nachkommen, so dass eine Gefährdung des Kindeswohls festgestellt werden kann.

Wie aber sind nun genau Kindeswohl und Kindeswohlgefährdung auf der einen Seite und erzieherischer Bedarf und Hilfeplan auf der anderen Seite zu verstehen? Bei den nachfolgenden Definitionsversuchen gilt: Die im KJHG verwendeten Begriffe – und das darf nicht vergessen werden – sind vordringlich zunächst juristische Begriffe. Und sie können dementsprechend ihrem Wesen nach nie völlig bestimmt sein, weil sie sowohl auf das Allgemeine als auch auf das Besondere Bezug nehmen müssen.

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