Edgar Forster
Barbara Rendtorff
Einleitung: Jungenpädagogik im Widerstreit
Die derzeitige Debatte über Jungen und ihre Probleme ist gekennzeichnet von einer dramatisierenden, alarmierenden Tonlage und vor allem von starken Vereinfachungen, die die Komplexität der Problematik eher verdecken als sie aufzuklären helfen.
Die Vermischung von berechtigten Sachargumenten und misogynen Affekten schiebt zudem die These der „Umkehr“ geschlechtlicher Machtverhältnisse in den Vordergrund. Sie lässt die (relativ) gewachsene Stärke von Frauen und Mädchen als Bedrohung für Männer und Männlichkeit erscheinen, sodass die Separation der Geschlechter und die Entwicklung von Sonder-Pädagogiken für Jungen als zeitgemäße logische Konsequenz erscheinen müssen – der populärpädagogische Markt reagiert darauf bereits mit einer Fülle von spezifischen Angeboten.
Die in diesem Band vorgelegten Aufsätze wollen sich dieser Tendenz der Vereinfachung, Dramatisierung und Ideologisierung nicht anschließen, sondern einen Schritt zurücktreten und die Sachlage differenziert in den Blick nehmen. An dieser Stelle seien einleitend einige Überlegungen skizziert, die in den nachfolgenden Aufsätzen auf die eine oder andere Weise aufgegriffen und diskutiert werden.
1 Kurze Bestandsaufnahme: Fakten und Mythen
Es sind vor allem zwei Aspekte, die die Interpretation aktueller Daten erschweren – einmal die Konzentration der Betrachtung auf den Leistungsaspekt, den Output, und zweitens wird jetzt offensichtlich, wie wenig die Pädagogik über Jungen und Männer weiß. Der erste Aspekt führt vor allem dazu, dass die Fakten wegen der Verkürzung des Blicks unterkomplex interpretiert werden, weil durch die Konzentration auf messbaren Erfolg die Komplexität der Probleme auf dem Weg dorthin übersehen wird. Der zweite Aspekt trägt ebenfalls zur Unterkomplexität der Debatte bei, weil unbegriffene und unhinterfragte Denkgewöhnungen und -begrenzungen die Sicht auf die Thematik einfärben. Beide Aspekte führen dazu, dass Fakten und Daten in einer „Gender-only“-Perspektive vereindeutigend unter dem Blickwinkel des Vergleichs mit „den“ Mädchen interpretiert werden, wobei aufschlussreiche Differenzierungen innerhalb der Geschlechtergruppen außer Acht gelassen werden. Hierzu einige Beispiele:
Ein wichtiger Anlass für die These der Benachteiligung von Jungen ist ihre geringere Partizipation an gymnasialer Bildung. Diese ist jedoch nicht (nur) ein Effekt von Dropout, sondern tritt im deutschen Schulwesen schon mit der fünften Klasse auf, obgleich Schulvergleichsuntersuchungen für die Grundschule keine dramatischen Leistungsunterschiede feststellen. Für die Schulübergangsempfehlung nach der Grundschule werden vor allem die Deutsch- und Mathematiknoten herangezogen – doch über 40 % der Kinder bewegen sich mit ihren Noten in einem Mittelfeld, in dem Empfehlungen für alle Schulformen möglich sind und auch ausgesprochen werden. Ganz offensichtlich gehen also (vermutlich weitgehend unbewusst) schulfremde Faktoren in die Einschätzung der Lehrkräfte mit ein, für welche Schulform ein Kind „geeignet“ sei. Das „den“ Mädchen attestierte schuladäquatere Verhalten wird hier sicherlich eine Rolle spielen, während den Jungen nur eine geringere Anpassungs- und Anstrengungsbereitschaft zugeschrieben wird. „Bereitschaft“ ist nun aber, psychologisch wie pädagogisch besehen, keineswegs dasselbe wie „Fähigkeit“ oder „Potenzial“, verweist also weder auf Leistungsfähigkeit noch auf mangelnde schulische Förderung, sondern auf die Frage, warum sich viele Jungen die Angebote der Schule und ihre Forderungen nicht zu eigen machen können. Die Vorstellung, dass es „uncool“ sei, etwas für die Schule zu tun, ist kein reines Jungenphänomen, ist aber bei männlichen Jugendlichen besonders verbreitet, und diese Distanz zur Schule hindert sie nicht zuletzt daran, ihre Neugier zu erhalten sowie ihre Anstrengungsbereitschaft und Lust an intellektueller Betätigung zu entwickeln.
Allerdings ist der leistungsbezogene Gender Gap nach allem, was wir wissen, eigentlich ein schichtspezifischer Effekt, der gehäuft bei Jungen aus bildungsfernen Elternhäusern auftritt. Die erwähnte „Gender-only“-Perspektive verzerrt auch hier das Bild und lässt den Eindruck entstehen, dass sich alle Jungen und alle Mädchen nach demselben Muster entwickeln und verhalten würden. Dazu kommt, dass die englische Schulforschung mit ihren Vergleichsdaten zeigen kann, dass die Mädchen in ihren Leistungen kontinuierlich besser werden, die Jungen jedoch das gleiche Niveau beibehalten, sodass der Eindruck entsteht, sie würden schlechter werden (vgl. dazu den Beitrag von Michael Kimmel in diesem Band). Es finden sich folglich auch mehr Mädchen in der Gruppe der „Overachiever“, deren Leistungen die Erwartung der Lehrkräfte übertreffen, während mehr Jungen als „Underachiever“ auffallen – sie bleiben also hinter den in sie gesetzten Erwartungen und vermutlich auch hinter ihren Möglichkeiten zurück. Auch dieser Effekt ist wenig aufgeklärt.
Der Befund „Weniger Jungen bekommen eine Gymnasialempfehlung“ führt uns also bei differenzierter Betrachtung schnell weg von der Frage nach der Leistungsfähigkeit zu der Frage, wie das männliche Selbstbild der Jugendlichen beschaffen ist und welche Faktoren darauf Einfluss nehmen (vgl. dazu auch die Beiträge von Rolf Pohl und Michael May in diesem Band).
Entsprechend müssen auch andere Daten betrachtet werden. Aus dem Heilmittelbericht 2010 der AOK geht beispielsweise hervor, dass fast jeder vierte bei der AOK versicherte sechsjährige Junge logopädische Leistungen verordnet bekommt, jedoch nur 16 % der Mädchen. Das naheliegende Fazit „Jungen brauchen mehr Unterstützung als Mädchen“ kann jedoch auch hier vereindeutigend sein. So wissen wir beispielsweise, dass Eltern und Erzieher/innen es bei Mädchen eher tolerieren (oder es als Teil des Normalitätsspektrums ansehen), wenn sie still, zaghaft oder ängstlich sind – hier spielt die Auswirkung traditioneller Weiblichkeitsbilder eine Rolle sowie die lange Gewöhnung daran, die intellektuelle Leistungsfähigkeit von Mädchen tendenziell zu unterschätzen. In diesem Fall würde die Differenz zwischen Jungen und Mädchen möglicherweise größer erscheinen als sie faktisch ist. Andererseits könnte der Befund ein Hinweis darauf sein, dass Eltern (oder Erzieher/innen) unterschiedliche Arten der Gesprächsführung praktizieren, die Beziehungsdimensionen von Sprache und Sprechen unterschiedlich nutzen oder betonen, verschiedene Arten von Sprachanlässen aufsuchen usw. – auf diesen Zusammenhang deutet auch die Tatsache hin, dass die bei PISA getesteten 15-jährigen Jungen mehr Probleme bei der Sinnentnahme aus narrativen Texten hatten als beim Verständnis von Sachtexten und Anweisungen. In diesem Fall könnten die im Heilmittelbericht aufgezeigten Unterschiede also auf unterschiedliche Praxen von Eltern und betreuenden Erwachsenen hinweisen und auf die Tendenz, Normalitätserwartungen geschlechtstypisch zu färben. Die routinemäßig auf Leistungsaspekte und Benachteiligung verkürzende Interpretation greift also auf jeden Fall zu kurz, wenn nicht auch Interpretationen auf anderer Ebene in die Analyse der Sachlage eingehen.
Zur Normalitätserwartung an Männer gehören an prominenter Stelle die Überlegenheit und die Gewöhnung an kompetitive Wahrnehmungsstrukturen und konkurrenzbetontes Handeln. In der Shell-Jugendstudie 2006 wird gezeigt, dass Wettbewerb keine selbstverständliche Grundlage für Lebensentwürfe darstellt, sondern ein geschlechtsspezifisch bedeutsames Modell ist, nach der vor allem Männer ihr Leben organisieren. Das Gefälle zwischen Werthaltungen von Mädchen und Jungen nimmt gegenüber der Untersuchung von 2002 noch zu. Hier liegt sicher auch ein Grund dafür, warum die Jungen-Debatte zu diesem Zeitpunkt auftritt – in einem historischen Moment also, an dem Frauen und Mädchen aufgeholt haben und der Vorsprung der Männer in Fragen der Intellektualität, der Verdienstmöglichkeiten oder der politischen Einflussnahme ein wenig geschrumpft und nicht mehr ganz so fraglos ist wie früher. Das eigentlich die Öffentlichkeit Beunruhigende ist doch, dass die Jungen nicht besser als die Mädchen sind (was zu erwarten wäre), und die Reaktionen fallen vermutlich deshalb so heftig aus, weil diese selbstverständliche Erwartung durchkreuzt und damit das gewohnte Bild der Geschlechterverhältnisse erschüttert wurde. Und hier rächt es sich nun, dass die Wissenschaften so wenig über Männer und Männlichkeiten wissen. Weil über so lange Jahrhunderte das Männliche mit dem Allgemeinen (und mit Normalität) gleichgesetzt wurde, ist Männlichkeit als strukturierende Kategorie und sind Männer als Geschlechtswesen erst sehr spät und nur am Rande in den Blick der Wissenschaften geraten. Das hat viele wissenschaftliche Probleme verursacht (wie routinemäßige Kategorienfehler; vgl. dazu auch den Beitrag von Sigrid Schmitz in diesem Band) und zu einer Verarmung der Vorstellung von Männlichkeiten geführt, die insbesondere für Jungen und heranwachsende männliche Jugendliche fatal ist. Die scharfe Trennung zwischen „richtigen Männern“ und solchen, die als „abweichende“, marginalisierte Individuen eben keine „richtigen Männer“ sind, hat es dann obsolet erscheinen lassen, diese Normalitätsvorstellungen und Normativitätsforderungen genauer zu analysieren.
2 Unterscheidungswünsche und Unterschiedsbehauptungen
Woher kommt die aktuelle Tendenz, Unterschiede zwischen den Geschlechtern stärker als in den letzten dreißig...