2 Spielvarianten
Wir hören nicht auf zu spielen,
weil wir älter werden,
sondern wir werden alt,
weil wir zu spielen aufhören.
Michael Pritschat
2.1 Einleitung
Das Berufsleben verlangt stets kognitive Kompetenzen, Pflichterfüllung und perfektes, verantwortliches Handeln. Die Vertikale mit der Dualität, dem Denkmuster der Gegensätzlichkeit, und die Ratio stehen im Vordergrund. Die emotionalen Wurzeln unseres Menschseins werden häufig verlassen, um gesellschaftskonform und angepasst zu sein.
Ja nicht auffallen, keine Grenzüberschreitungen wagen, nicht aus der Rolle fallen, sondern Gleichförmigkeit anstreben, so wie es sich gehört. Die absichtslose Muße, das zweckfreie Spiel, die Emotionalität werden vernachlässigt.
Menschen mit Demenz lieben oft Spiel, Lachen, Bewegung und erfreuen sich an Kindheitserinnerungen. Das Kurzzeitgedächtnis, die Krone verblasst, das Langzeitgedächtnis, also Stamm und Wurzeln, bleiben erhalten (siehe Abbildung).
Angesichts der Einschränkungen der kognitiven Leistungsfähigkeiten sind dem Menschen mit Demenz vertraute, nachvollziehbare und mit seinen Sinnen erfahrbare Angebote zu machen, durch die er sich an früher gemachte Gefühle erinnern kann. Das bewirkt Sicherheit und Stabilität. Fähigkeiten, Fertigkeiten, Talente und Neigungen, die oft unbewusst noch vorhanden sind und nie ganz verlernt werden, sind zu entdecken. Das Fördern der Ressourcen sowie die Kenntnis der Biografie sind Voraussetzungen für bereichernde Beziehungsangebote.
2.2 Ziele
• Spielend sich entdecken
• Geselligkeit und Teilhabe ermöglichen
• Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl stärken
• Toleranz, Akzeptanz einüben und Freude erleben
• Alte Spiele entdecken oder neue erfinden
2.3 Input
Ich spiele, also bin ich:
Da ist kein Nutzen drin und kein Gebrauchswert.
Ich spiele, also bin ich:
In meinen Regungen bin ich einfach da.
Das hat seinen Wert in sich.
Ich spiele, also bin ich:
Das ist ein Ausdruck unerschöpfter Freude
an der Schöpfung, in der ich inbegriffen bin.
Ich spiele, also bin ich:
Gespielen und nicht Gegenstände
sind mir die Menschen, Tiere, Pflanzen
und die Erde, aus der wir gebildet sind.
Ich spiele, also bin ich:
Mitspielend spiele ich nicht mit, was gespielt wird.
Ich spiele, also bin ich:
Ich setze mich aufs Spiel für das,
was auf dem Spiel steht.
Wolfgang Dietrich
Dieser Text von Wolfgang Dietrich mit der wiederkehrenden Aussage »Ich spiele, also bin ich« verdeutlicht, dass das Spiel einen wichtigen Beitrag zur Stärkung der Identität ist. Das Spiel ist eine Tätigkeit, die ohne bewussten Zweck zum Vergnügen, zur Entspannung, allein aus Freude an der Ausübung durchgeführt wird. Es ist eine Beschäftigung mit der in ihr selbst liegenden Zerstreuung, Erheiterung oder Anregung, die oft in Gemeinschaft mit anderen vorgenommen wird.
Ein Großteil der kognitiven Entwicklung und der motorischen Fähigkeiten bei Kindern findet durch das Spiel statt. Jedem Kind sind die Neugier und die Lust am Spiel angeboren. Das Spiel wird psychologisch als Haupttriebkraft der frühkindlichen Selbstfindung und späteren Sozialisation des Menschen angesehen. Menschen mit Demenz verfügen über spielerische Fähigkeiten und sind echt und spontan wie Kinder. Der Unterschied ist, dass bei Menschen mit Demenz Erziehung und Sozialisation der Vergangenheit angehören. Das ist bei der Auswahl von Spielen zu beachten. Auswahlkriterien sprechen die erfahrbaren Sinne an und unterstützen den Anschluss an die stabilisierenden Gefühle von früher im Jetzt zu finden.
Jeder Beitrag ist wichtig und wertvoll, denn er ist ein Ausdruck von einem einmaligen, wertvollen Menschen, unabhängig von seinem physischen, psychischen und sozialen Zustand oder seiner augenblicklichen Verfassung.
Wettkampfspiele sind ungeeignet. Menschen mit Demenz haben schon so viel verloren, dass sie sich als Sieger erleben wollen. Es gibt deshalb den 1., 2., 3. etc. Sieger. Jeder bekommt einen Trostpreis.
Das Glücksspiel galt im Mittelalter und auch während der Aufklärung als ein teuflisches Spiel, als Gotteslästerung, was heute nach wie vor in Redewendungen wie z. B. »Haus und Hof verspielen« zum Ausdruck kommen kann. Spielen am Sonntag kann deshalb verpönt sein. Solche Hinweise sind zu beachten, wenn Menschen keinen Zugang zum Spiel haben.
2.4 Praxisimpulse
Nicht nur Menschen mit Demenz freuen sich an Stimmungsmachern, wie z. B. Luftballons, Seifenblasen, Fingerspielen u. a. m. Unverzüglich kann sich eine fröhlichere, lebendige Stimmung entfalten. Springt der Funke nicht, ist eine Ablehnung zu spüren, ist dieser Hinweis notwendig: »Das gefällt Ihnen nicht? Entschuldigung, ich hatte den Schalk im Nacken.«
Gespräche aus der Kinderzeit sowie das Auffrischen von Erinnerungen beleben den Alltagstrott. Spielerisches Vorgehen erleichtert und macht schwierige Situationen erträglicher. Solche Maßnahmen sind kein »Kinderkram«, sondern fördern die Beweglichkeit, stärken die Identität und führen zur Entspannung. Ergänzungen von Sprichwörtern, die oft wiederholt werden können, stärken durch die Mitbeteiligung das Selbstwertgefühl.
Auch bei pflegerischen Tätigkeiten gibt es immer wieder Zeitfenster, die Leichtigkeit in der Arbeit ermöglichen. Wichtig ist es zu tun und nicht nur darüber zu sprechen. Was sich bewegt, bewegt!
Gekaufte Spiele sind nicht so wirkungsvoll wie selbst hergestellte. Letztere enthalten Geschichten und kommen von Herzen und gehen zu Herzen. Je einfacher und preisgünstiger das Material ist, desto wirkungsvoller ist zumeist das Miteinander.
Beispiele:
• Einen Ball in unterschiedlichen Ausführungen auf dem Tisch kullern zu lassen, fördert die Aufmerksamkeit. Ein Igel-Ball oder ein aus Zeitungspapier oder Stanniol hergestellter runder Gegenstand sowie andere leere Verpackungen sind besonders gut geeignet, weil sie nicht so schnell rollen. Kleinigkeiten beleben und gestalten ein wohltuendes Erleben.
• Eine selbst hergestellte Zeitungsrolle ist vielseitig einzusetzen als Fernrohr, Hörrohr, Flöte, Geige, Klarinette, Querflöte, Dirigentenstock … Mit ihr lässt sich fechten, stupsen, abklopfen, Rücken kratzen … Ein hineingestopftes Tuch in die Öffnung der Rolle ergibt rasch eine Fahne, Fackel u. a. m.
• Ein Phantasietier entsteht, wenn ein Papiertaschentuch, bei dem alle vier Ecken eingedreht werden, auf einen runden Gegenstand gesetzt wird, z. B. Kugel, Ball, Apfelsine. Das »Ungeheuer« wird angestoßen und kullert über den Tisch oder Boden. Die Reaktion der Anwesenden ist verblüffend.
• Das Spiel »6/4/2/ich bin dabei« ist ein beliebtes Würfelspiel. Bei gewürfelten geraden Zahlen wird eine Frage gezogen, die gegebenenfalls gemeinsam beantwortet wird. Bei ungeraden wird ein Vers eines gewünschten Liedes gesungen oder ein Sprichwort wird ergänzt oder eine Frage beantwortet. Solche Aktivitäten fördern Gespräche, dabei geht es nicht um richtig oder falsch, sondern um ein lustvolles, absichtsloses Miteinander.
Bei motorischen Einschränkungen bewährt sich der Einsatz eines Würfels aus Schaumgummi oder Würfeln im Schraubdeckelglas.
Menschen mit Demenz wollen häufig das Erhaltene, z. B. Würfel, behalten und nicht weitergeben. Deshalb erhält jeder Teilnehmer seinen eigenen Würfel. Erzieherische Anweisungen sind zu vermeiden.
• Wortspiele fördern die Kommunikation und sind gleichzeitig Gedächtnistraining. So kann z. B. der Begriff »Spiel« erweitert werden.
(Vgl. das Wortspiel zusammengestellt von einer über 80-jährigen Teilnehmerin des 1. Workshops auf S. 166.)
Weitere Ergänzungen zu Wortspielen: Tag …, Nacht …, Sonne …, Mond …, Sterne …, Schnee …, Regen …, u. a. m.
Mit...