1. Einleitung
Kein Zweifel: die Pädagogik ist eine Wachstumsindustrie. Die Nachfrage nach allgemeinen und speziellen Erziehungsleistungen nimmt zu, und entsprechend vermehren und verzweigen sich die Angebote der unterschiedlichsten Art. Sie reichen von der Betreuung kleiner Kinder über Schulen aller Grade bis zur Unterweisung und Beratung von Erwachsenen, sozusagen Erziehung von der Wiege bis zur Bahre, auch wenn vielfach der Ausdruck »Erziehung« vermieden und von »Bildung« oder »Coaching«, von Information, Lernangeboten und individuellen Trainingsprogrammen die Rede ist. Woran das liegt, ist nicht schwer zu erkennen. Der Lernbedarf ist geradezu explodiert als Folge dessen, was man zusammenfassend als die Modernisierung so gut wie aller Lebensverhältnisse bezeichnen kann. Sie ist ja auch kein einmaliger, eindeutig datierbarer Vorgang, sondern längst zu einem Dauerzustand geworden. Und das bedeutet: Wir lernen nicht mehr aus.
In der Tat ist das Lernen längst nicht mehr in das Belieben der Einzelnen gestellt. Es gibt weit reichende Lernpflichten und zunehmend unumgängliche Lernerfordernisse, ohne die die durchschnittliche Lebensführung nicht mehr vorstellbar ist. Das hat zur Folge, dass selbst die elementaren Aufgaben des Erziehens nicht mehr den Eltern überlassen bleiben. Vor allem eine Neuerung unterscheidet die alte, vormoderne Erziehung grundlegend von der neuen Erziehung: Alle müssen zur Schule, und es empfiehlt sich, die Schule ernst zu nehmen, um nicht die Anschlusschancen für geeignete und zufrieden stellende Positionen in der Erwachsenenwelt zu verpassen. Die Abnahme dessen, was wir gleichsam natürlich und en passant lernen, nimmt zu.
Also brauchen wir Kindergärtnerinnen und Lehrer, Trainer, Logopäden und Berater, Erwachsenenbildner und Sozialpädagogen, die das Erziehen in irgend einer ihrer Formen zu ihrem Berufsthema machen und dazu mehr wissen und können sollten, als ihnen die durchschnittliche Lebenserfahrung zuspielt. Wie von selbst ergibt sich daraus: auch die Erzieherinnen und Erzieher von Beruf müssen ausgebildet und vorsorglich geprüft werden. Sie brauchen ihrerseits Ausbilder und Fachleute, Lehr- und Studiengänge mit einführenden Anweisungen, Lernprogrammen und Lehrbüchern. Es bedarf keiner besonderen Einsicht, um sich von dem verzweigten Apparat von Ausbildungseinrichtungen zu überzeugen, und auch keines besonderen Scharfblicks, um zu erkennen, dass die Treppe des Lernens und Lehrens immer weiter in die Höhe geführt worden ist, so dass am Ende die Pädagogik sich darstellt wie eine alte Stadt mit traditionsgeprägten Bauwerken, auch mit mancherlei historisch anmutenden Fassaden, hinter denen inzwischen moderne Büros eingezogen sind, und vor allem: mit neuen Anbauten, Umbauten und gänzlich traditionslosen Neubauvierteln.
So unterschiedlich die Nachfrage nach pädagogischen Leistungen und Hilfen, so verschieden sind auch die Angebote und die Texte, die über die Einzelpraxen berichten: Programme und Ankündigungen, Übersichten und Analysen, für jeden Abnehmer etwas und natürlich auch die wissenschaftliche Literatur. Monopole oder Alleinvertretungsansprüche gibt es auf diesem Markt nicht. In den Regalen pädagogischer Fachliteratur findet sich die Handreichung für ratlose Eltern neben der Studie über die moderne Jugendkultur, der Unterrichtsleitfaden für Lehranfänger neben den Ergebnisberichten der Schulforschung, Erbauungs- und Erlebnisschriften ebenso wie die Katastrophenberichte von der Erziehungsfront neben gelehrten Studien zur Geschichte von Bildung und Unterricht. Das Stichwort für diesen Betrieb lautet: Professionalisierung der Erziehung, ein soziologisch matter Ausdruck für die Vielfalt und Lebendigkeit dessen, was sich dahinter alles verbirgt.
Damit nicht genug. Nachdem das Erziehen nun einmal seit gut 200 Jahren zum Beruf geworden ist, hat sich ein entsprechender Apparat zur Ausbildung, Betreuung und Verwaltung des pädagogischen Personals herausgebildet, mit dem Ergebnis, dass Pädagogik sich auch als akademische Disziplin im Wissenschaftsbetrieb etabliert hat. Dabei kann es nicht ausbleiben, dass eben diese neuen Verhältnisse selber wieder zum Thema gemacht und wissenschaftsgerecht untersucht werden. Welches Wissen soll den künftigen Berufserziehern vermittelt werden und wie kann man ihnen beibringen, wie man anderen etwas beibringt? Angesichts der Vielfalt und Verschiedenartigkeit der pädagogischen Praxen und der Ausbildungsgänge von Pädagogen erscheint es inzwischen vielen angebracht, von ihrer eigenen Tätigkeit nicht mehr als Pädagogik, sondern als Erziehungswissenschaft und neuerdings von den Erziehungswissenschaften im Plural zu sprechen. Erziehungswissenschaftler beobachten das Erziehen und teilen ihre Ergebnisse zu freier Nutzung mit, ohne sich selber als pädagogisch in dem Sinne zu verstehen, dass sie bestimmte Erziehungswirkungen erreichen wollen. Insofern ähneln die modernen Erziehungswissenschaftler den Generälen und Managern von heute: Sie ziehen nicht mehr selber in den Krieg und arbeiten auch nicht an der Werkbank, sondern sie dirigieren aus den Führungsetagen das, was andere zu tun haben oder tun sollten.
Vollends die Vertreter der Allgemeinen Pädagogik oder besser gleich: der Systematischen Erziehungswissenschaft sind vor den Unbilden der Erziehung gleich doppelt geschützt. Sie sind nicht nur nicht in pädagogische Handlungen verstrickt, sie beobachten mittlerweile und in vielen Fällen nicht einmal die Erziehung, das geschieht in der Schul- und Sozialpädagogik, in der Berufspädagogik und bei den Erwachsenenbildnern und wird aktuell von der expandierenden, so genannten Bildungsforschung übernommen. Stattdessen beobachten und untersuchen sie, wie diese ihr Erziehungsfeld beobachten. Ob das für die Pädagogik eine günstige Entwicklung ist, lasse ich hier dahingestellt. Auf jeden Fall kann man sehen, dass im Zuge der Modernisierung und Ausdifferenzierung des Erziehungsgeschehens auch ein Revier für wissenschaftstheoretische Exerzitien entstanden ist. Es gibt inzwischen einen eigenen Adressatenkreis für das Nachdenken über das Erziehungsdenken, nicht ohne Folgen für die Themenwahl und den Stil, in dem die Sache der Pädagogik heute artikuliert wird.
In der hier vorgelegten Reihe der Schlüsselwerke findet sich etwas von dem Weg, den das Thema der Erziehung in den letzten zwei Jahrhunderten genommen hat. Die Fragen der unmittelbaren Erziehung sind Zug um Zug hinter allgemeineren Gesichtspunkten zurückgetreten und das Bewusstsein für die disziplinspezifischen Probleme hat zugenommen. Es zeigt sich aber auch, dass bei allen Theorie- und Reflexionsgewinnen es zuletzt eben doch das Verständnis der bleibenden Probleme des Lernens und des Erziehens ist, wodurch ein Werk verdient, als Schlüsselwerk der Pädagogik angesehen zu werden. So schätzenswert ein elaboriertes Reflexionsniveau auch sein mag, was am Ende interessiert, sind die Antworten auf die Frage, welche Unterschiede und welche Gewinne sich daraus für das pädagogische Handeln ergeben. Das ist zumindest ein Gesichtspunkt für die Auswahl der Einzelwerke, die hier vorgestellt werden. Doch wird der kundige Leser manches vermissen, was zum etablierten Bücherschatz des fachbewussten Pädagogen gehört, und sich auch über einiges wundern, was inzwischen in der Brunnentiefe des Vergessens verschwunden schien. Vor allem dürfte als Mangel angesehen werden, dass es vornehmlich Autoren der deutschsprachigen Pädagogik sind, die berücksichtigt werden, und von den nichtdeutschen Autoren eben nur solche, die auch hierzulande rezipiert worden sind. Das passt nicht zur heute erwünschten Internationalität der pädagogischen Forschung, in der sich ja auch eine Tendenz zur globalen Planung und Steuerung von Erziehungsprozessen ausdrückt.
Dieser Mangel ist nicht zu leugnen. Zur Rechtfertigung fällt dem Verfasser, außer dem Eingeständnis seiner eigenen Grenzen, nur ein, dass er sich als Leser nicht die anonyme Schar der Pädagogikinteressenten weltweit vorstellt, auch nicht die international über Kongresse vernetzte scientific community; er denkt vielmehr an diejenigen, die sich mit den Erziehungsfragen in unseren Verhältnissen vertraut machen wollen. Er schreibt nicht für Leser in North Dakota oder New York City, nicht einmal für Kollegen in Italien, der Türkei oder Japan. So interessant und aufschlussreich es wäre, den Kontexten einer globalen Pädagogik nachzugehen, es bleibt daran zu erinnern, dass für die Erziehung gilt, was einmal von Tip O’Neill, dem langjährigen Präsidenten des amerikanischen Repräsentantenhauses, für die Politik treffend formuliert worden ist: All politics is local. Man sollte gewiss auch global denken und sich in der Welt umsehen und umhören, doch wie gelernt und erzogen wird, gehört zuerst und wesentlich zu den nächstliegenden Aufgaben, wie sie sich aus den besonderen kulturellen, sozialen und politischen Umständen ergeben. Auch bleibt zu bedenken, dass eine Erziehungswissenschaft, die das übergeht, was Justus Möser einmal die »Lokalvernunft« genannt hat, und sich rückhaltlos dem Geschäft der Standardisierung zur Verfügung stellt, als ob es lebenswichtig sei, dass die Kinder in Südkorea, auf den Malediven und in Mecklenburg-Vorpommern nach den selben Curricula unterrichtet werden – dass eine solche Erziehungswissenschaft die affektiven Grundlagen schwächt, ohne die die Erziehung selber noch schwieriger wird, als sie ohnehin schon ist.
Was die Gesichtspunkte angeht, unter denen die einzelnen Werke erörtert werden, so ist das Nötige in der Einleitung zum 1. Band gesagt worden und braucht hier nicht wiederholt zu werden. Mit einer Einschränkung vielleicht und einem Unterschied, der sich auf die Entstehungszeit und damit auf die...