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E-Book

Stationäre Eltern-Kind-Behandlung

Ein interdisziplinärer Leitfaden

VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl284 Seiten
ISBN9783170266018
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis52,99 EUR
In diesem Praxisleitfaden werden die häufigsten psychischen Erkrankungen, die bei Eltern auftreten können, erläutert. Etablierte Behandlungsprogramme mit unterschiedlichen Therapieansätzen werden aus multiprofessioneller Sicht dargestellt. Weitere Themenschwerpunkte bilden Interaktionsstörungen bei psychisch kranken Müttern sowie Besonderheiten der Psychopharmakotherapie in Schwangerschaft und Stillzeit. Neben den Auswirkungen der mütterlichen Erkrankung auf die Erziehungsfähigkeit werden auch verschiedene Netzwerke 'Früher Hilfen' und die Arbeit von Selbsthilfegruppen ausführlich behandelt. Der präventive Ansatz für das Kind wird aus kinder- und jugendpsychiatrischer Sicht verdeutlicht. ContentPLUS beinhaltet Arbeitsmaterialien zur 'Mütterlichen Kompetenzrunde der Asklepios Klinik für Psychische Gesundheit Langen', den Untersuchungskalender (U1-U11, J1) und Impfkalender.

Dr. Susanne Wortmann-Fleischer hat das Interaktionszentrierte Gruppentherapieprogramm für postpartale psychische Störungen verfasst. Dr. Regina von Einsiedel hat bei dem Neubau von zwei Abteilungspsychiatrien Mutter-Kind-Einheiten unter bautechnischen, ökonomischen und fachlichen Aspekten konzeptioniert. George Downing, Ph.D., unterrichtet Klinische Psychologie an der Universität Paris VIII.

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Leseprobe

2 Fachliche, wirtschaftliche und räumliche Kriterien einer stationären Mutter-Kind-Behandlung in Kliniken für Erwachsenenpsychiatrie


Regina von Einsiedel, Susanne Wortmann-Fleischer, George Downing und Wolfgang Jordan

Für Mutter-Kind-Behandlungen bestehen keine einheitlichen Standards. Deshalb ist dieser Beitrag auf die praktischen Gesichtspunkte einer Mutter-Kind-Einheit in psychiatrischen und psychosomatischen Kliniken ausgerichtet. Drei Sichtfelder werden fokussiert: das diagnostisch-fachliche, das wirtschaftliche und das räumliche Sichtfeld. Die diagnostischen und klinischen Aspekte werden erörtert und die postpartale schizophrene Psychose wird besonders gewichtet. Im Zuge der Gesundheitsreform werden Diagnostik und Dokumentation nicht zuletzt für die Finanzierung von Mutter-Kind-Behandlungen von zentraler Bedeutung. Bisher wurden Mutter-Kind-Behandlungen in der Psychiatrie Personalverordnung (PsychPV) nicht abgebildet und die Therapien von den Krankenkassen in der Regel nicht erstattet. Dies ändert sich für die psychiatrischen Fächer 2013 mit Einführung des neuen Entgeltsystems. In der Hoffnung, dass sich Mutter-Kind-Behandlungen zunehmend als Standardtherapien in psychiatrischen und psychosomatischen Kliniken etablieren, was dringend notwenig ist, wird auch Bezug auf die räumliche und personelle Ausstattung für die stationäre Mutter-Kind-Behandlung genommen.

2.1 »Von der Pike auf«: Diagnosestellung psychischer Störungen


Die deutsche Ärzteschaft ist Mitglied der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Seit 2000 wurde mit der WHO vereinbart, dass auch in Deutschland Diagnosen nach §§ 295 und 301 des Sozialgesetzbuchs (SGB), Internationale Klassifikation der Krankheiten, 10. Revision (ICD-10) V verschlüsselt werden. Dies gilt für die stationäre und ambulante Versorgung. Im Kapitel V (F) des ICD-10 sind »Psychische und Verhaltensstörungen« in Gruppen von F00 bis F99 gegliedert (Dilling et al. 2005).

In jüngerem bis mittlerem Erwachsenenalter kommen vor allem affektive Erkrankungen, und hier gehäuft die depressiven Störungen (F32. oder F33.) vor. Auch Schizophrenien (F2), Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen (F6), neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen oder Angst- und Zwangsstörungen (F4) und psychische sowie Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen (F1) treten auf (Berger 2009; Sadock et al. 2009).

In der Gruppe der »F50–F59: Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen und Faktoren« findet sich die Untergruppe »F53: Psychische oder Verhaltensstörungen im Wochenbett, anderenorts nicht klassifiziert«. Mütterliche Erkrankungen, die sich innerhalb von sechs Wochen nach der Geburt entwickeln, werden »mit zwei Codierungen der ICD-10« verschlüsselt, der »spezifischen psychischen Störung in Kombination mit der Codierung F53« (Dilling et al. 2005) (s. Abb. 1 und Tab. 1).

Abb. 1: Codiersystem nach ICD-10

Tab. 1: Klassifikation nach ICD-10

F53

Psychische oder Verhaltensstörungen im Wochenbett, anderenorts nicht klassifiziert

F53.0

Leichte psychische und Verhaltensstörungen im Wochenbett, anderenorts nicht klassifiziert, dazugehörig: postpartale Depression

F53.1

Schwere psychische und Verhaltensstörungen im Wochenbett, anderenorts nicht klassifiziert, dazugehörig: Puerperalpsychose

ICD-10 online (WHO-Version 2006)

Merke: Psychische und Verhaltensstörungen werden im Kapitel V (F) des ICD-10 in Diagnosegruppen von F00 bis F99 verschlüsselt. Beispielsweise werden postpartale Depressionen (F32.x) mit »ICD-10 F53.x: Psychische oder Verhaltensstörungen im Wochenbett, anderenorts nicht klassifiziert« doppelcodiert.

2.1.1 Fachliches Sichtfeld: Zwei ausgewählte Beispiele


Zwei Störungen werden im nachfolgenden Kapitel synoptisch erläutert: die Depression, weil sie oft vorkommt, und die schizophrene Psychose, weil sie wenig erforscht ist und in unserem eigenen Interessengebiet liegt.

Affektive Störungen

Affektive Störungen werden unterteilt in manische Episoden (F30), bipolare affektive Störungen (F31), depressive Episoden (F32), rezidivierende depressive Störung (F33) etc. (Dilling et al. 2005). Die häufigste affektive Störung ist die depressive Erkrankung, das Lebenszeitrisiko liegt unabhängig von einer Schwangerschaft oder Geburt bei ca. 10–20 % (Berger 2009; Sadock et al. 2009). Diese Prävalenzrate trifft auch für die Peripartalzeit zu (Campbell und Cohn 1991; Riecher-Rössler 1997).

Aus phänomenologischer Sicht wird in der ICD-10 der Grad der Depression durch die Anzahl der Haupt- und Nebensymptome, die Dauer der Erkrankung, die Anzahl der Episoden sowie zusätzliche psychotische oder somatische Symptome bestimmt (Dilling et al. 2005). Das psychopathologische Bild der »Mood Disorders«, wie die affektiven Störungen in dem Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-IV) (Saß et al. 2003) genannt werden, besteht aus psychischen und vegetativen Symptomen. Die Leitsymptome sind 1. eine depressive Stimmung, 2. der Verlust von Freude und Interesse (Anhedonie) und 3. eine Antriebsstörung. Es kommen Nebensymptome wie Konzentrations- und Gedächtnisstörungen, Denkverlangsamung, Gedankensperrung, Grübelneigung, Morgentief, Schlafstörungen, Appetitverlust, sozialer Rückzug etc. hinzu. Die Suizidrate ist sehr hoch. Zusammengefasst besteht das depressive Syndrom aus Beeinträchtigungen der Affektivität, des Antriebs, des formalen Denkens, des inhaltlichen Denkens, der Psychomotorik und Schlafstörungen. Auch Angstgefühle und leibliche Symptome kommen vor (Scharfetter 2002; Berger 2009). Die psychischen Symptome werden in der Klinik oder Praxis nach dem System der Arbeitsgemeinschaft für Methodik und Dokumentation in der Psychiatrie (AMDP) erhoben (Fähnrich und Stieglitz 2007). Dies ist ein störungsübergreifendes Manual für die Erfassung psychopathologischer Befunde durch eine Fremdbeurteilung.

Spezifisch für die Diagnostik der Depression sind Eigen- und Fremdbeurteilungsskalen entwickelt worden, die in Form von Fragebögen eingesetzt werden. Die bekanntesten Skalen sind das Beck-Depressions-Inventar (BDI) für die Selbstbeurteilung und die Hamilton-Depressionsskala (HAMD) für die Fremdbeurteilung. Spezifische Skalen für die postpartale Depression sind z. B. die Edinburgh Postnatal Depression Scale (EPDS) und der Postpartum Bonding Questionnaire (PBQ), ein Eltern-Kind-Beziehungsfragebogen (Brockington et al. 2001). Die Selbsthilfeorganisation Schatten & Licht e. V. hat auf ihrer Internetseite Selbstbeurteilungsfragebögen hinterlegt (www.schatten-und-licht.de/fragebogen_pp_erkrankung.html). Die Marcé-Checkliste wurde von Turmes et al. ins Deutsche übersetzt, sie dient u. a. der Datensammlung für die Auswertung von Mulitcenter-Studien und ist seit 2005 in der MKE Herten erfolgreich etabliert (Turmes, Vortrag Marcé-Gesellschaft, Dresden 2010).

Im Gegensatz zu anderen postpartalen Störungen ist die postpartale Depression (PPD) relativ gut erforscht (Tronick et al. 1997; Riecher-Rössler 1997; Reck et al. 2004, 2008). Erkrankt eine Mutter im Wochenbett an einer Depression, kommen neben den quälenden Symptomkomplexen Besonderheiten in Bezug auf den Säugling hinzu. Symptome wie Anhedonie, Antriebsstörung und eine depressive Stimmung wirken sich auch in der Interaktion zum Säugling aus und müssen »übersetzt« werden. So können mangelndes Einfühlungsvermögen, wenig Empathie und Passivität Zeichen einer Anhedonie sein, wenig Responsivität und ein geringes expressives mimisches Ausdrucksverhalten als Antriebsstörung interpretiert werden. Depressive Mütter zeigen weiterhin eine geringe Fähigkeit, kindliche Signale wahrzunehmen und reagieren mit Sorgen, Schuld- und Insuffizienzgefühlen gegenüber ihrem Kind (Tronick und Cohn 1989; Stern et al. 1998; Hornstein et al. 2005–2007; Reck et al. 2004, 2008; Wortmann-Fleischer et al. 2006). Diese Mängel führen zu einer gestörten Mutter-Kind-Interaktion. Defizite der Affektregulation sind Gegenstand von Forschungsstudien (Papoušek und Papoušek 1987, 1991, 1998, 2002; Stern et al. 1989; Tronick und Cohn 1989; Beebe et al. 1992, 1997; Teti und Gelfand 1997; Reck et al. 2001, 2004, 2008; Field 1988, 2000). Die Mutter-Kind-Interaktion stellt einen verbalen und nonverbalen sozio-emotionalen Lernprozess dar. Kinder depressiver Mütter können psychische Symptome wie kognitive, emotionale und Persönlichkeitsdefizite entwickeln (Ihle et al. 2004; Möhler et al. 2006).

Eine umfassende Diagnostik und eine suffiziente Mutter-Kind-Behandlung sind deshalb auch ein Präventionsfaktor für das Kind. Einerseits soll dabei die depressive Störung der Mutter spezifisch (pharmakologisch-)psychotherapeutisch behandelt und andererseits die differenzierte psychotherapeutische Intervention der gestörten Mutter-Kind-Interaktion in den Mittelpunkt der Behandlung gestellt werden. Bei der postpartalen Depression erfolgt die Behandlung daher idealerweise zweisträngig. Die ursächlichen Gründe der gestörten Mutter-Kind-Interaktion sind bisher nur teilweise erforscht (Laucht et al. 1994), und Vorschläge für standardisierte Behandlungskonzepte sind in der Entwicklung (Murray et al....

Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Deckblatt1
Titelseite4
Impressum5
Inhalt6
Geleitwort10
1 Historische Entwicklung und Bedarfssituation12
1.1 Historische Entwicklung12
1.2 Bedarfsanalyse und Ist-Soll-Abgleich21
1.3 Ausblick26
Literatur27
2 Fachliche, wirtschaftliche und räumliche Kriterien einer stationären Mutter-Kind-Behandlung in Kliniken für Erwachsenenpsychiatrie30
2.1 »Von der Pike auf«: Diagnosestellung psychischer Störungen30
2.2 Wer soll das bezahlen? Wie wird die Mutter-Kind-Behandlung finanziert?46
2.3 Aufbau von stationären Mutter-Kind-Einheiten47
Literatur47
3 Behandlungsprogramme50
3.1 Zum Einfluss der postpartalen Depressionen und Angststörungen auf die Affektregulation in der Mutter-Kind-Interaktion und Ansätze zu deren Behandlung (Heidelberger Therapiemodell)50
3.2 Elternteile mit Borderline-Persönlichkeitsstörung – Ein systemisch-familientherapeutisches Eltern-Kind-Behandlungsangebot59
3.3 Mutter-Kind-Behandlung unter bindungstheoretischer und psychoanalytischer Perspektive74
3.4 Ambulante und stationäre Mutter-Kind-Behandlung am Universitätsklinikum des Saarlandes86
3.5 Interaktionales Therapieprogramm für psychisch kranke Mütter95
3.6 Kinder als Angehörige psychisch kranker Eltern – Ein Interventionsprogramm zur Ressourcenförderung100
3.7 Mutter-und-Kind-Therapie im Rahmen der stationären Suchtentwöhnungsbehandlung119
4 Aufgaben des multiprofessionellen Teams135
4.1 Aufgaben des Pflegeteams beim Aufbau einer Mutter-Kind-Station in einer Psychiatrischen Klinik 134135
4.2 Soziale Arbeit in der klinischen Mutter-Kind-Behandlung139
4.3 Psychiatrische Ergotherapie in der stationären Mutter-Kind- Behandlung143
4.4 Mobiles Bezugspersonensystem und Mama-Care – Integratives Nachsorge- und Präventionsmodell für Frauen mit psychischen Problemen während der Peripartalzeit152
4.5 Körperorientierte Psychotherapie und Tanztherapie auf der Mutter-Kind-Einheit in Heidelberg158
4.6 Supervision im Rahmen der stationären Mutter-Kind-Behandlung163
5 Zur Rolle der männlichen Partner in der Behandlung peripartaler Störungen172
5.1 Partner psychisch erkrankter Mütter174
5.2 Eigene Untersuchungen175
Diskussion177
Literatur177
6 Einschätzung der Erziehungsfähigkeit in der frühen Kindheit bei psychischen Erkrankungen der Mütter in der Postpartalzeit179
6.1 Mutterschaft – Elternschaft179
6.2 Psychische Erkrankung, Kindeswohlgefährdung und Sorgerechtsentzug – Daten179
6.3 Stellenwert der Diagnose und kindliche Entwicklungsrisiken180
6.4 Einschätzung der Erziehungsfähigkeit bei psychisch kranken Müttern181
6.5 Bedingungen, Verfahren und Anhaltspunkte für eine Einschätzung der Erziehungsfähigkeit184
6.6 Einzelne Erkrankungen und Erziehungsfähigkeit189
Ausblick190
Literatur190
7 Netzwerke194
7.1 Vernetztes und koproduktives Vorgehen in den »Frühen Hilfen« am Beispiel der Anlaufstelle Frühe Hilfen der Stadt Mannheim: Chancen für psychisch kranke Eltern und deren Babys194
7.2 Frühe Hilfen beginnen im Kreißsaal: Vernetzung von Gesundheits- und Jugendhilfe im Modellprojekt »Guter Start ins Kinderleben« am Standort Ludwigshafen211
8 Die Bedeutung der Eltern-Kind-Behandlung aus kinder- und jugendpsychiatrischer Sicht218
8.1 Klinisches Bild218
8.2 Risikofaktoren219
8.3 Postpartum Depression und kindliche Entwicklung221
Literatur226
9 Eltern-Kind-Behandlung in der Gruppe – Erfahrungen mit zwei ambulanten Modellen230
9.1 Gruppe 1230
9.2 Gruppe 2232
9.3 Zusammenfassung und Fazit für die Praxis233
Literatur235
10 K(l)eine Psychopharmakotherapie in Schwangerschaft und Stillzeit – Ein Leitfaden zum rationalen Einsatz von Psychopharmaka und alternativen Behandlungsmethoden236
10.1 Allgemeine Überlegungen236
10.2 Substanzgruppen238
10.3 Alternative Behandlungsformen245
Zusammenfassung248
Literatur249
11 Die Arbeit von Selbsthilfegruppen als Ergänzung zur interdisziplinären Therapie peripartaler psychischer Erkrankungen252
11.1 Die peripartale Selbsthilfe in Deutschland252
11.2 Die Ergänzung der Mutter-Kind-Behandlung durch die Selbsthilfe252
11.3 Öffentlichkeitsarbeit253
11.4 Website253
11.5 Beratungsgespräche254
11.6 Angehörigen-Beratung255
11.7 Gruppentreffen255
11.8 Unterstützung der Forschung257
Fazit257
12 Mutter-Kind-Begleitung im stationären Jugendhilferahmen258
Einleitung258
12.1 Setting258
12.2 Historische Entwicklung der Einrichtung259
12.3 Pädagogisches Handeln263
12.4 Zusammenarbeit264
12.5 Vier Säulen264
12.6 Prävention und Kooperation zwischen Jugendhilfe und Erwachsenenpsychiatrie271
Ausblick273
Stichwortverzeichnis274
Verzeichnis der Autoren und Autorinnen282

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