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E-Book

Was hält Gesellschaften zusammen?

Der gefährdete Umgang mit Pluralität

VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl144 Seiten
ISBN9783170264182
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis23,99 EUR
Gesellschaften sind heute von funktionaler Ausdifferenzierung, Individualisierung und Pluralisierung gekennzeichnet. Dies lässt die Frage nach dem gesellschaftlichen Zusammenhalt virulent werden. Die Politik sucht nach Wegen, mit dieser Vielfalt umzugehen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken. Davon zeugen Debatten über Bildungspolitik, Sprachkurse und Leitkultur, Runde Tische oder Islamkonferenzen. Die Politische Philosophie hat in den vergangenen Jahrzehnten darauf aufmerksam gemacht, dass der Umgang mit Pluralität einer differenzierten und multiperspektivischen Diskussion im Lichte der vielfältigen Parameter von gesellschaftlicher Vielfalt bedarf. Was also hält Gesellschaften überhaupt (noch) zusammen? Und wie gelingt der Umgang mit legitimer Pluralität? Der Band versammelt Beiträge aus der Philosophie und aus den Sozial- und Kulturwissenschaften, die aus ihren jeweiligen Perspektiven Antwortvorschläge formulieren.

Prof. Dr. Michael Reder und Mara-Daria Cojocaru M.A. lehren an der Hochschule für Philosophie München. Hanna Pfeifer M.A. ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Magdeburg.

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Leseprobe

Inklusion, Exklusion, Zusammenhalt. Soziologische Perspektiven auf eine allzu erwartbare Diagnose


Armin Nassehi

Gesellschaftlichen Krisenerfahrungen wird fast automatisch mit dem Ruf nach gesellschaftlichem Zusammenhalt begegnet. Die Frage, was eine Gesellschaft zusammenhält, wird dann aktuell, wenn Krisenerfahrungen die Diagnose nahelegen, dass es mangelnder Zusammenhalt sei, der unter anderem zur Krise geführt habe. Ob es sich um Konjunkturkrisen und ihre Folgen auf dem Arbeitsmarkt handelt, um das Problem sozialer Ungleichheit und der Distribution von Gütern, Ressourcen und Lebenschancen, um wachsende Kriminalität, um Migrationsfolgen etc. – stets ist der öffentliche Diskurs davon geprägt, gesellschaftlichen Zusammenhalt zu fordern oder ihn verbessern zu wollen.

Überhaupt scheint eine Perspektive auf gelungene Vergesellschaftung stets auf Kohäsionskräfte zu verweisen, auf Bindungsenergien, die in der Lage sind, das Unterschiedliche so aufeinander zu beziehen, dass es in einem Ganzen aufgeht. Historisch ist der Gesellschaftsbegriff und mit ihm die Frage der Identität ganzer Gesellschaften deshalb nicht zufällig als Modernisierungsfolge entstanden – dort nämlich, wo es durch Komplexitätssteigerungen und Modernisierungserfahrungen immer weniger gelingen konnte, so etwas wie eine integrative Einheit des Ganzen voraussetzen zu können. Modernititätserfahrungen sind – gut hegelianisch gesprochen – Entzweiungserfahrungen, Differenzierungserfahrungen. In ihrer Folge ist es nur logisch, dass sich Selbstbeschreibungsformeln für Einheit interessieren. Hinzu kommt, dass sich gesellschaftliche Selbstbeschreibungen von der bloßen Konzentration auf Oberschichteninteraktion zu emanzipieren beginnen und neue Sprecher entstehen: auf der Ebene der Sozialdimension weitere Schichten mit Sprechanlässen, etwa das Bürgertum, später das Proletariat; auf der Ebene der Sachdimension die Konkurrenz politischer, ökonomischer, religiöser, wissenschaftlicher und ästhetischer Beschreibungen; auf der Ebene der Zeitdimension neue Zukunftserwartungen, die auf die Gestaltbarkeit der Gesellschaft reagieren und zwischen säkularisierten Utopien und technischer Planbarkeit oszillieren. Zugleich entstanden neue Orte für Sprecher – die Massenmedien nämlich, in denen zweierlei geschah. Sie sind der Ort, an dem die Einheit der Gesellschaft beschworen, gefordert und diskutiert werden kann und wurde. Sie sind aber zugleich der Ort, an dem diese Möglichkeit praktisch dementiert wurde und wird, weil es sich hierbei um eine geradezu gesellschaftsweit institutionalisierte Etablierung von Widerspruch und Nein-Stellungnahmen handelt.

Der systematische Ort, an dem sich die Einheit der Gesellschaft und ihr Zusammenhalt empirisch bewährt haben, ist die Nation des europäischen Typs seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts und der Suprematie politischer Selbstbeschreibungen, wie sie als Idee mit dem Augsburger Religionsfrieden vorbereitet wurde und mit der Friedenslösung von 1648 zum inzwischen fast weltweit klassischen Modell dessen werden sollte, was bis heute noch unter ‚Gesellschaft‘ verstanden wird: durch (nationale) Kultur geprägte, politisch geführte und repräsentierte, räumlich abgegrenzte und völkerrechtlich souveräne Einheiten, die auf diesem Globus im Plural vorkommen. Es dürfte nun deutlich sein, warum Zusammenhalt insbesondere dann gefordert wird, wenn es zu Krisen kommt: dann nämlich, wenn es zu kollektiv bindenden Entscheidungen kommen soll, mithin eine politische Perspektive eingenommen wird.

Mit dieser Einleitung ist die Tonart vielleicht schon vorgegeben, in der ich im Folgenden argumentieren möchte. Mich interessiert weder die politisch-strategische Idee von gesellschaftlichem Zusammenhalt (der zumeist so etwas wie Interessenausgleich mit Win-win-Folgen meint), noch interessiert mich die moralische Dimension gesellschaftlichen Zusammenhalts, den ich mir jenseits konkreter politischer Forderungen allenfalls als eine Art Minimalethik vorstellen kann, die auf die Integrität des Anderen als Alter Ego zielt und mit der Fragilität von Kommunikation als eher distanzierendem Medium des Zusammenhalts zu tun hätte. Was mich hier interessiert, ist die gesellschaftstheoretische Frage nach dem Umgang der modernen Gesellschaft mit ihrer eigenen Komplexität und Differenzierung und mit den Folgen für die Inklusion und Exklusion von Personen. Vor diesem Hintergrund stellt sich dann die Frage nach dem gesellschaftlichen Zusammenhalt womöglich ganz anders.

Zunächst werde ich kurz auf die gesellschaftstheoretische Frage der modernen Differenzierungsform eingehen (1), danach die Begriffe ‚Inklusion‘ und ‚Integration‘ (2) und dann die Begriffe ‚Inklusion‘ und ‚Exklusion‘ unterscheiden (3). Daraus werde ich am Ende einige Schlüsse für die Frage des Zusammenhalts der modernen Gesellschaft ziehen (4).

1 Funktionale Differenzierung der Gesellschaft


Die moderne Gesellschaft kann als ‚funktional differenzierte Gesellschaft‘ beschrieben werden, also als eine Gesellschaft, die sich primär in Funktionssysteme mit je eigenen Leitdifferenzen differenziert (zum Folgenden ausführlich: Nassehi 2011): Zahlen/Nicht-Zahlen in der Wirtschaft, Regierung/Opposition in der Politik, wahr/unwahr in der Wissenschaft, Recht/Unrecht im Recht usw. Die so ausdifferenzierten Teilsysteme erreichen ihre Leistungsfähigkeit vor allem dadurch, dass sie exklusiv und konkurrenzlos auf ihre Funktion beschränkt sind. Sie erhöhen ihre Kapazität der Bewältigung von Komplexität durch Limitierung von operativen Anschlüssen an andere Teilsysteme (vgl. Luhmann 1997: 743ff.). Sie können diese nur im Hinblick auf den eigenen Code beobachten und sehen deshalb je etwas eigenes, wenn sie die Welt beobachten: Wirtschaft sieht in der Welt nur ein Anlageobjekt zur Maximierung von Geldgewinn und zur Herstellung und Wiederherstellung von Zahlungsfähigkeit; Politik macht die Welt als ein widerständiges Objekt aus, das Entscheidungen und Steuerungskapazität einfordert und sich doch immer wieder der politischen Intention versperrt und in dem, wenn schon nicht die Welt gesteuert werden kann, zumindest die eigene Macht gesichert werden muss; Recht sieht einen Konflikt- und Geltungsbereich von Normen, deren Durchsetzung unter Einhaltung prozessualer Regeln gesichert werden muss; Wissenschaft stößt auf das Problem wahrer (und unwahrer) Beobachtungen, die der Gesellschaft zur Verfügung gestellt werden, aber dort offenbar ganz anders ankommen als sie „gemeint“ waren; Erziehung hat die Planung und Begleitung von Sozialisationsprozessen im Blick; Religion sieht immer noch Schöpfung im Ganzen, leidet aber laut an ihrem marginalisiertem Kommunikationsanteil an gesellschaftlicher Gesamtkommunikation, die im Hinblick auf Erlösungsversprechen als defizient erlebt wird.

Die moderne Gesellschaft zeichnet sich insbesondere dadurch aus, dass ihre innere, horizontale Differenzierungsform ein Zentrum ausschließt, von dem her die Einheit der Gesellschaft für alle verbindlich repräsentiert werden könnte. Die Moderne muss also mit der Kontingenz leben, dass teilsystemrelative Perspektiven zugleich unersetzbar und ersetzbar sind: Sie sind, was ihre Funktion angeht, unersetzbar. Es gibt keine Zahlungen außerhalb der Wirtschaft und keine wissenschaftliche Wahrheit außerhalb des Wissenschaftssystems. Es ist entscheidend, diese Teilsysteme nicht im Sinne der Summe von Handlungsträgern – Investoren/Kapitaleigner oder Wissenschaftler – oder als Organisationen – Betriebe/Konzerne oder Universitäten/Forschungsinstitute – zu verstehen. Die Unersetzbarkeit der Funktion erschließt sich erst, wenn man die Teilsysteme als Anschlusszusammenhänge von Kommunikationen denkt, die etwa den wirtschaftlichen oder wissenschaftlichen Code benutzen. Die Unersetzbarkeit der Perspektive resultiert aus der Unersetzbarkeit der jeweiligen Funktion.

Man kann sagen, dass die moderne Gesellschaft nach diesem Verständnis überhaupt nicht integrierbar ist, wenn man unter ‚Integration‘ einen Mechanismus der Einschränkung der Teile zugunsten eines Ganzen versteht. Dies war noch das Grundverständnis von Gesellschaft, wie es vor allem von Talcott Parsons geprägt wurde – ein System, in dem die Teile wohlkoordiniert und damit integriert sind. Wir haben es eher mit einem System zu tun, das sich nur punktuell, nur von unten, nur zeitweise integriert und ansonsten von hoher unkoordinierter Komplexität geprägt ist. Eben deshalb erlebt sich gesellschaftliche Moderne stets als krisenhaft (vgl. Nassehi 2012a).

2 Integration vs. Inklusion


In der Tradition von Parsons und im üblichen Sprachgebrauch wird die Teilhabe von Personen am sozialen Geschehen über die ‚Integrationsfunktion‘ vermittelt. Wie das soziale System durch die normative Bindung seiner Teile integriert wird, erfolgt die Integration von Persönlichkeitssystem und allgemeinem Handlungssystem über die Internalisierung der integrierenden Elemente des sozialen Systems (vgl. dazu Alexander 1983: 56; Parsons 1972: 12ff.). Ganz in der Tradition Durkheims stehend, wird in diesem Verständnis die solidarisierende Funktion der Integration darin gesehen, dass es zu einer Angleichung individueller Aspirationen und gesellschaftlicher Norm- und Wertvorstellungen kommt (so auch Münch 1991: 200ff.; Peters 1993: 92ff.). Verzichtet man aber aus theoretischen und empirischen Gründen auf die Vorstellung normativer Integration des sozialen Systems und sozialer Integration des Persönlichkeitssystems als struktureller Bedingung des Bestandes sozialer Systeme, so muss das Verhältnis von Individuum und sozialen Systemen theoretisch neu verortet werden.

Niklas Luhmann schlägt zur Beschreibung dieses Sachverhalts...

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