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E-Book

Der Islam

Geschichte und Gegenwart

AutorHeinz Halm
VerlagVerlag C.H.Beck
Erscheinungsjahr2014
ReiheBeck'sche Reihe 2145
Seitenanzahl112 Seiten
ISBN9783406633966
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Mehr als 1,5Milliarden Menschen - fast ein Viertel der Erdbevölkerung - bekennen sich zum Islam; mehr als vier Millionen Muslime leben in Deutschland. Der Islam ist allerdings kein uniformes Gebilde. Im Laufe seiner langen Geschichte hat er eine große Vielfalt von religiösen Richtungen, kultischen Praktiken und regionalen Sonderformen entwickelt. Der vorliegende Band schildert in knapper Zusammenfassung die grundlegenden historischen Entwicklungen des Islam, erklärt die zentralen Begriffe seiner Lehre und zeigt, wie der Islam der Gegenwart im Alltag funktioniert.

Heinz Halm war bis 2007 Professor für islamische Geschichte an der Universität Tübingen. Bei C.H.Beck erschienen von ihm außerdem «Kalifen und Assassinen. Ägypten und der Vordere Orient zur Zeit der ersten Kreuzzüge» (2014) sowie in der Reihe C.H.Beck Wissen «Die Araber» (3. Auflage 2010) und «Die Schiiten» (2005).

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Leseprobe

Zweiter Teil
Der Islam im Alltag


Das Fehlen des islamischen Staates und einer islamischen «Kirche»


Zu den wesentlichen Kennzeichen des heutigen Islam gehören die beiden Tatsachen, dass es den islamischen Staat nicht mehr gibt (von einzelnen Versuchen, einen solchen wiederzuerrichten, abgesehen) und dass es eine umfassende Organisation der islamischen Glaubensgemeinschaft – also so etwas wie eine islamische «Kirche» – nie gegeben hat. Die in Europa weitverbreitete Vorstellung (oder Befürchtung), hinter den mannigfachen islamischen Aktivitäten in aller Welt stehe eine mächtige Organisation, die alles nach einem zentralen Willen und in eine bestimmte Richtung lenke, ist unzutreffend.

Der Islam ist zusammen mit einem Staat entstanden, dem arabischen Kalifat, und hat sich durch die imperiale Expansion dieses Staates über weite Teile der Alten Welt ausgebreitet. Die Träger und Lenker dieses Staates waren von Anfang an Muslime. Der Islam musste sich also nicht – wie das Christentum – erst gegen den Staat durchsetzen, in dem er entstanden ist, und konnte sich – zumindest in den Anfängen – durchaus als mit ihm identisch fühlen. Diese Sicherheit wurde brüchig, als das Kalifat im 8. Jahrhundert von den Rändern her abzubröckeln begann, als selbstständige Staaten entstanden und Kriege zwischen islamischen Mächten so selbstverständlich wurden wie die zwischen christlichen Reichen. Im ersten Teil dieses Buches wurde darauf hingewiesen, dass staatliche und religiöse Interessen auch in der islamischen Welt durchaus divergieren konnten und können und dass weite Bereiche des staatlichen und sozialen Lebens die gewissermaßen weltliche Domäne des Herrschers blieben. Der vielzitierte Slogan «Der Islam ist eine Religion und ein Staat» (al-Islâm dîn wa-daula) ist also ein ideologisches Postulat, aber keine Beschreibung der historischen Wirklichkeit. Dennoch waren die vormodernen Staaten der islamischen Welt in dem Sinne islamisch, dass der Islam die herrschende Religion und die Muslime die rechtlich privilegierte Bevölkerungsgruppe darstellten, während die Nichtmuslime als dhimmîs zwar den Schutz des islamischen Staates – einschließlich Religionsfreiheit – genossen, ansonsten aber eindeutig Untertanen zweiter Klasse waren.

Der schwindende islamische Charakter des Staates lässt sich am besten am Beispiel des Osmanischen Reiches demonstrieren, dessen Herrscher, der Sultan, ja zugleich den Titel des Kalifen, also des «Nachfolgers» des Propheten Mohammed, führte. Schon in der Reformurkunde von 1839, dem von Sultan Abdülmecid proklamierten Chatt-i Scherîf von Gülhane, wurde allen Untertanen, gleich welcher Religion, das volle Bürgerrecht garantiert. Die folgende Reformepoche der Tanzîmât setzte einen großen Teil der verkündeten Prinzipien in die Tat um: 1856 eröffnete ein neuer Erlass des Sultans auch den Nichtmuslimen den Weg zu allen Zivilämtern sowie zum Militärdienst; bisher war der Dienst mit der Waffe ein Privileg der Muslime gewesen. Moderne Gesetze nach europäischem Vorbild setzten weite Gebiete der traditionellen scharî‛a außer Kraft; die Einführung eines modernen Schul- und Universitätswesens brach das Bildungsmonopol der Religionsgelehrten. Zwar war in der 1876 geschaffenen Verfassung des Osmanischen Reiches der Islam noch als Staatsreligion verankert und der Sultan als Kalif bestätigt, doch waren die Angehörigen aller Religionen rechtlich gleichgestellt. Das Regime der Jungtürken (1909–1918) und danach die von Kemal Atatürk geschaffene Republik führten die Reformen zu Ende: 1924 schaffte die türkische Nationalversammlung das Kalifat ab, 1928 verlor der Islam seine Rolle als Staatsreligion und 1937 wurde das Prinzip des Laizismus in der Verfassung verankert. In anderen Ländern der islamischen Welt wurden ähnliche Prozesse entweder durch einheimische Potentaten wie Reza Schah in Iran (1925–1941), durch die Kolonialmächte oder durch nachkoloniale revolutionäre Regime (Algerien, Libyen, Ägypten, Syrien, Irak, Südjemen) vorangetrieben. In der arabischen Welt setzte sich bis Ende der sechziger Jahre ein sozialistisch gefärbter arabischer Nationalismus als herrschende politische Ideologie durch und drängte den Islam völlig in den Hintergrund.

Dieser Prozess der Entislamisierung und Säkularisierung des Staates ist in den einzelnen National- und Territorialstaaten Nordafrikas und des Nahen Ostens unterschiedlich weit fortgeschritten. In einigen Ländern ist er auch – aufgrund jüngster ideologischer Entwicklungen – rückläufig, doch wird er sich auf die Dauer wohl kaum zurückdrehen lassen.

Das zweite Kennzeichen des modernen Islam, die fehlende umfassende Organisation in einer islamischen «Kirche», hat sich beim Verschwinden des islamischen Staates keineswegs als gravierender Mangel erwiesen. Wer in christlichen Traditionen aufgewachsen ist, kann sich eine weltumspannende Glaubensgemeinschaft ohne eine umfassende Organisationsform gar nicht vorstellen. Der Islam hat sich aber tatsächlich ohne eine solche kirchenähnliche Organisation auch da behaupten können, wo er nicht den Schutz und die Fürsorge islamischer Herrscher genoss. Der Grund dafür sind eine sehr präzise ausformulierte, nahezu anderthalb Jahrtausende alte religiöse Tradition und vor allem die Existenz eines Berufsstandes, der diese Tradition wahrt und dafür Sorge trägt, dass sie im Alltag der Muslime verankert bleibt.

Im Folgenden sollen nun zunächst die Grundpflichten des Muslims betrachtet werden, die wegen ihres hohen Alters allen Muslimen – unabhängig von ihrem Bekenntnis – gemeinsam sind, auch wenn in Einzelheiten Unterschiede der Interpretation oder der Praxis bei den verschiedenen muslimischen Gruppierungen auftreten können. Bei Gruppierungen, die zwar historisch aus dem Islam hervorgegangen sind, sich aber von diesen religiösen Grundprinzipien und zentralen Riten gelöst haben, kann man darüber streiten – und streitet man darüber –, ob sie noch als Muslime bezeichnet werden können.

Die fünf Säulen (arkân) des Islam


1. Das Glaubensbekenntnis

Die fünf Grundpflichten des Islam werden als seine «Säulen» (arkân, Sing. rukn) bezeichnet. Die erste davon ist das Glaubensbekenntnis, das «Zeugnis» (schahâda): «Ich bezeuge, dass es keine Gottheit außer Gott gibt und dass Mohammed der Gesandte Gottes ist». Mit dieser zweiteiligen Formel bekennt sich der Muslim zum absoluten Monotheismus und zur prophetischen Sendung Mohammeds. Damit wird zugleich der von Mohammed hinterlassene Koran als offenbartes Wort Gottes anerkannt.

Gott heißt arabisch Allâh (kontrahiert aus al-ilâh, «die Gottheit»). Es handelt sich also nicht um einen Eigennamen (wie Zeus oder Shiva), sondern um ein Appellativ (wie Deus/Dieu) und ist daher mit Gott zu übersetzen. Der absolute Monotheismus ist im Koran verankert; als schwere Sünde erscheint dort jeder Versuch, Gott jemanden an die Seite zu stellen. Das «Beigesellen» (schirk) ist die Sünde schlechthin; der «Beigeseller» (muschrik), also der Polytheist, der schlimmste Sünder. Das Manifest des Monotheismus ist die Sure 112:

Im Namen des barmherzigen und gnädigen Gottes! Sag: Er ist Gott, ein Einziger, Gott durch und durch. Er hat weder gezeugt, noch ist er gezeugt worden. Und keiner ist ihm ebenbürtig.

Die Sure hat eine deutlich gegen das Christentum gerichtete Spitze: Gott hat keinen Sohn, und er ist auch kein Sohn. Das christliche Trinitätsdogma ist für den Muslim unannehmbar; Jesus ist ein von Gott gesandter Prophet, aber nicht Gottes Sohn.

Die prophetische Sendung Mohammeds, die der zweite Teil des Glaubensbekenntnisses bezeugt, gilt dem Muslim als die letzte und endgültige Offenbarung Gottes; danach kommt nur noch das Jüngste Gericht, dessen Stunde im Koran in zahlreichen Passagen beschworen wird. Mohammed heißt daher auch «das Siegel der Propheten» (châtam an-nabiyyîn): Seine Sendung schließt die Reihe der von Gott gesandten Propheten ab, die von Adam über Noah und Abraham und die Erzväter, Moses, zahlreiche alttestamentliche Gestalten, darunter David und Salomon, bis zu Jesus reicht. Die früheren Gottgesandten genießen große Verehrung; Abraham etwa gilt als Erbauer der Ka‛ba in Mekka, und sein Grab in Hebron wird auch von den Muslimen verehrt.

Der Übertritt zum Islam ist ein formloser Akt; das Aussprechen des Glaubensbekenntnisses in ehrlicher Absicht (niyya) genügt. Als Muslim gilt, wer sich wie ein Muslim verhält. Allerdings gilt der Abfall (irtidâd) vom Islam zu einer anderen Religion als nicht zulässig. Nach dem traditionellen religiösen Recht ist der Abtrünnige (murtadd), wenn er Ermahnungen zur Rückkehr unzugänglich bleibt, dem Tod verfallen. Diese traditionelle Vorstellung kollidiert mit dem modernen Grundsatz der Religionsfreiheit, der in vielen nahöstlichen Staaten in die Verfassung aufgenommen ist. Die Forderung nach Wiedereinführung der Todesstrafe für Renegaten ist...

Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Cover1
Titel3
Impressum4
Inhalt5
Erster Teil: Die historischen Grundlagen des Islam7
Islam und Muslime7
Monotheismus (tauhîd)8
Prophetie (nubûwa)10
Der Koran (al-Qur?ân)13
Die Biographie (sîra) des Propheten16
Die Aussiedlung (hidschra)18
Die Gemeinde (umma)20
Das Kalifat (chilâfa)21
Die Eroberungen (futûh)24
Die Abbasiden-Kalifen von Bagdad32
Die Anfänge der Theologie (kalâm)35
Die Prophetentradition (hadîth)39
Die Rechtsgelehrsamkeit (fiqh)43
Die Schiiten46
Weltliche Herrschaft: Das Sultanat50
Die Mystik (tasauwuf)52
Die islamische Welt in der Neuzeit54
Zweiter Teil: Der Islam imAlltag58
Das Fehlen des islamischen Staates und einer islamischen «Kirche»58
Die fünf Säulen (arkân) des Islam61
1. Das Glaubensbekenntnis61
2. Das Ritualgebet und die Moschee62
3. Das Ramadân-Fasten66
4. Die Armensteuer68
5. Die Pilgerfahrt71
Das Gesetz (scharî?a)75
Die Gelehrten (al-?ulamâ)77
Das Gutachten (fatwâ)80
Die rechtliche Stellung der Frau81
Islam und Islamismus84
Dschihâd und Märtyrertum88
Der Islam in der Diaspora – «Globale Muftis» und internationale Netzwerke89
Der Islam in Deutschland94
Anhang98
Zeittafel98
Literaturhinweise101
Hinweise zur Aussprache103
Register104
Islamische Strömungen111

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