2 Zur Einführung: Der Angeklagte in Konstanz
Am 28. November 1415 erhielt Magister Jan Hus, der sich seit mehr als drei Wochen in der Konzilsstadt Konstanz befand, in seinem Quartier Besuch. Es kamen die Bischöfe von Trient und Augsburg als Gesandte des Kardinalkollegs, begleitet vom Konstanzer Bürgermeister und anderen Personen. Ritter Johann von Chlum, der treue Begleiter und Beschützer des Magisters, empfang sie argwöhnisch. Er erinnerte die Besucher daran, dass Hus unter dem Schutz König Sigismunds nach Konstanz gekommen sei, und warnte sie, nichts gegen den Willen des Königs zu unternehmen. Nachdem die Prälaten ihre Absicht kundgetan hatten, stand Jan Hus vom Tisch auf und enthüllte den Bischöfen, die ihn zuvor noch nicht gekannt hatten, seine Identität. »Ich bin nicht hierher nur zu den Kardinälen gekommen«, sprach er,
»und es war niemals mein Wunsch, mit ihnen getrennt zu sprechen, sondern ich bin zum ganzen Konzil gekommen und möchte dort sagen, was Gott mir eingegeben und wonach man mich fragen wird. Trotzdem bin ich auf Verlangen der Herren Kardinäle hin bereit, sofort zu ihnen zu kommen, und wenn man mich etwas fragen wird, hoffe ich lieber den Tod zu wählen, ehe ich eine aus der Schrift oder sonst mir bekannte Wahrheit ableugne.«
Dieses Bekenntnis sollte Hus in Konstanz noch öfters ablegen und es schließlich auch in die Tat umzusetzen.
Hus folgte also den beiden Bischöfen in den Palast des Papstes. Dort wurde er von den Kardinälen zur Rede gestellt:
»Magister Johannes, man redet Vieles und Merkwürdiges von euch, dass ihr zahlreiche Irrtümer festgehalten und im Königreich Böhmen ausgesät habt.«
Hus antwortete in demselben Sinn wie seinen früheren Besuchern:
»Eure Vaterliebe wisse, dass ich, bevor ich einen Irrtum festhalten wollte, lieber sterben möchte. Und seht, ich bin freiwillig hierher gekommen zu diesem heiligen Konzil.«
Nach dem Gespräch bewachte man Hus bis zum späten Abend. In der Nacht wurde er ins Haus des Kantors des Konstanzer Münsters gebracht, wo er eine Woche lang gefangen gehalten wurde. Danach wurde er im Dominikanerkloster am Ufer des Bodensees eingekerkert. Nach der Flucht von Papst Johannes XXIII. vom Konzil lieferte man Hus am 24. März 1415 dem Konstanzer Bischof aus, der ihn dann in der Burg Gottlieben am Seerhein in Haft hielt. Von dort wurde er Anfang Juni wieder in die Stadt zum Verhör gebracht und bis zu seiner Verurteilung und Hinrichtung im Gefängnis des Minoritenkonventes festgehalten.
Ritter Johann von Chlum beschwerte sich noch am Tag von Hus’ Verhaftung bei Papst Johannes XXIII. Später legte er wiederholt bei dem da noch anwesenden Papst sowie bei den Kardinälen Protest ein, jedoch vergeblich. Auch seine öffentliche Erklärung, die er an den Toren des Münsters und anderer Konstanzer Kirchen bekannt machte, half nichts. Der Ritter gab darin allen bekannt,
»dass Magister Johannes Hus, Bakkalar der heiligen Theologie, unter dem Geleitbrief und dem Schutz des durchlauchtigsten Fürsten und Herrn, des Herrn Sigismund […] nach Konstanz kam, um jedem, der es verlangt, in einer öffentlichen Audienz über seinen Glauben vollgültige Rechenschaft abzulegen. Dieser oben genannte Magister Johannes wurde in dieser Reichsstadt unter dem Geleitbrief meines genannten Herrn, des römischen und ungarischen Königs, in Gewahrsam genommen und wird noch festgehalten.«1
Johann von Chlum bezeichnete hier Hus mit dem formal höchsten Titel, den er besaß, nämlich den eines Bakkalaureus der Theologie. Was er nicht sagte, war, dass Hus immer noch Rektor der Bethlehemskapelle in Prag war und sich als solcher ein außerordentliches Ansehen als Prediger erworben hatte. Hus’ Inhaftierung in Konstanz markierte eindeutig seinen Sturz und besiegelte den Weg zum tragischen Ende. Noch sieben Jahre zuvor hatte er sich der Unterstützung des königlichen Hofes und der Freundschaft des Prager Erzbischofs erfreut. Er hatte sich damals schon Gedanken gemacht, wie man das durch das päpstliche Schisma und den unwürdigen Lebenswandel der Kleriker angeschlagenes Ansehen der Kirche wiederherstellen könne – genau wie die meisten Konzilsväter in Konstanz übrigens auch. Wie sie kritisierte er die Missstände des kirchlichen Lebens und verlangte nach Besserung. Warum also resultierten seine Vorstellungen von notwendigen Reformen in einen so heftigen Gegensatz zum Reformismus der Mehrheit der katholischen Theologen, so dass diese ihn sogar in den Feuertod schickten?
Diese zentrale Frage ist nicht einfach zu beantworten. Hus war in Konstanz mit einer Reihe von Anschuldigungen konfrontiert. Die Anklagen gegen ihn sammelte man bereits seit 1408. Geben aber diese Anklagen allein eine Antwort darauf, wie es dazu kam, dass Hus auf dem Scheiterhaufen endete? Genügt es, die Antwort nur in dem Wortlaut des Urteils zu suchen? Die folgenden Kapitel werden sich mit der Entstehungsgeschichte dieses Urteils beschäftigen. Aus der Sicht eines Historikers sind die Prozessakten nicht der einzige Schlüssel zu dieser Frage. Es gilt weitere Quellen heranzuziehen, die Zeugnis über Ursachen und Gründe der Verurteilung ablegen können, welche uns die Richter nicht verraten haben, welche ihnen zum Teil vielleicht auch gar nicht bekannt waren. Was irritierte die kirchlichen Behörden und weltlichen Machthaber so heftig, was fanden die Konzilsväter an Jan Hus so gefährlich, dass sie ihn liquidierten? Dem Sturz eines angesehenen Predigers und Universitätsgelehrten des späten Mittelalters gerecht zu werden heißt zugleich, etwas über die damalige Gesellschaft, ihr Weltbild, ihre inneren Spannungen und Vorurteile zu erfahren.
Dieses Buch befasst sich mit Jan Hus als einem aussagekräftigen Beispiel einer spätmittelalterlichen Karriere im Schnittpunkt von zeitgenössischen Konflikten. Es erscheint angebracht, bereits an dieser Stelle klar zu machen, was dieses Buch beabsichtigt und was es nicht leisten kann. Erstens bietet das Buch keine Abhandlung über das reichhaltige Nachleben von Jan Hus. Er war eine zentrale Bezugsfigur des utraquistischen Sonderweges im 15. Jahrhundert. Er war der negative Held der barocken Legende, der Makel an Böhmens Rechtgläubigkeit. Im 19. Jahrhundert diente er als ein Integrationssymbol der tschechischnationalen Emanzipationsbewegung. Nicht viel später wurde er in den Darstellungen linksorientierter Historiker zum Vorkämpfer der sozialen Gerechtigkeit. Schließlich ist er für evangelische Kirchen, nicht nur in Böhmen, ein wichtiger Vorläufer (oder auch Mitgestalter) der Reformation. Keinem dieser Aspekte wird im Folgenden ausführliche Aufmerksamkeit gewidmet. Nicht, weil es unwichtig oder uninteressant wäre. In einer der letzten Hus-Monographien wird dem Nachleben gut 40 Prozent des Textes gewidmet.2 Schon daraus ist ersichtlich, dass das Andenken an Hus, sein Nachleben, ein eigenständiges Forschungsfeld bildet, das man in diesem Buch nur im entsprechenden Kontext einbeziehen kann.
Wenn im abschließenden Kapitel das Verhältnis zwischen Jan Hus und der deutschen Reformation erörtert wird, dann geschieht es nicht darum, den böhmischen Reformer als Vorläufer Martin Luthers zu stilisieren. Die im letzten Kapitel gestellte These lautet vielmehr, dass mit dem Hussitentum, also bereits im 15. Jahrhundert, die Reformationsgeschichte beginnt. Anhand des Vergleiches mit der »klassischen« Reformation soll die Bedeutung von Hus für die Entwicklung der böhmischen Gesellschaft des 15. Jahrhunderts beurteilt werden. Allerdings standen damals mehrere Wege offen. Wenn sich die utraquistische Landeskirche der böhmischen Hussiten zu einer Spielart der Reformationskirchen entwickelte, bedeutet das keineswegs, dass Hus selbst diesen Weg einschlagen wollte. Ich gehe aber davon aus, dass für Jan Hus und seine Anhänger der Bruch mit der römischen Kirche unvermeidbar, ja Teil ihres Reformverständnisses war. Es sind diese Ansätze, die zu einer Herausbildung der hussitischen Interessengruppe und zu ihrer Abgrenzung von der Mehrheitskirche führte, was im Folgenden eingehend untersucht werden soll.
Die Darstellung konzentriert sich somit auf die Gestalt des Jan Hus in seiner Zeit. Seine Persönlichkeit verdankt sich in gleicher Weise den Verhältnissen des luxemburgischen Böhmens wie auch dem weiteren Kontext der abendländischen Kirche der Schismazeit. Der Schlüssel zum Verständnis von Hus wird im synchronen Vergleich mit anderen Persönlichkeiten des kirchlichen und universitären Lebens des frühen 15. Jahrhunderts aufgezeigt. Statt eine separate Einführung in die Geschichte und Kultur des Spätmittelalters an den Beginn unseres Buches zu stellen, soll der breitere Kontext in jedem einzelnen Kapitel berücksichtigt werden, wo dies...