Einführung
Freiwilligenarbeit und somit das Freiwillige Engagement gewinnt mit der Diskussion um die zukünftige Gestaltung und Neuorientierung des Sozial- und Gesundheitssystems an Bedeutung. Aus sehr unterschiedlichen Blickwinkeln wird die Gemeinschaft auf ihre Solidarstrukturen hin geprüft und hinterfragt, inwieweit sie in Zukunft den Herausforderungen des demografischen und sozialen Wandels gewachsen sein wird. Dabei erhält die Frage nach der Versorgungssicherheit alter, pflegebedürftiger wie auch behinderter Menschen in diesem System höchste Priorität.
Die Bereitstellung notwendiger Ressourcen zur Sicherung der Pflege und Betreuung wird daher eine der wichtigsten und anspruchsvollsten Zukunftsaufgaben darstellen.
Es ist zu erwarten, dass die Zahl Pflegebedürftiger in den kommenden Jahren und Jahrzehnten demografisch bedingt erheblich zunehmen wird. Obwohl die Pflegeversicherung weiterhin auf die familiale Unterstützung pflegebedürftiger Menschen setzt, wird schon heute klar, dass diese Aufgabe zukünftig nur schwer in dem derzeitigen Ausmaß allein von Familienangehörigen zu bewältigen sein wird. Verschiedene Einflussfaktoren begrenzen die häuslichen Pflegeressourcen.
Zuvorderst ist die Pflegebereitschaft innerhalb der Familien und Partnerschaften zu nennen. Wie wird sich die Versorgung Pflegebedürftiger, auch im Hinblick auf die Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und Pflege, gestalten? Werden weiterhin genügend häusliche Ressourcen verfügbar sein?
Anforderungen an das Versorgungssystem
Die Pflege- und Betreuungsleistungen für schwer- und schwerstpflegebedürftige Menschen stellen hohe fachliche Anforderungen und erfordern einen erheblichen zeitlichen Pflegeeinsatz. Insbesondere Pflegebedürftige mit einer demenziellen Erkrankung führen die Hauptpflegeperson bald an die Grenzen ihrer Kräfte.
Welche formellen und insbesondere informellen Unterstützungssysteme sind entwickelbar und in der Lage verlässlich Versorgungsaufgaben zu sichern?
Eine weitere Anforderung an das soziale und gesundheitliche Versorgungssystem resultiert aus dem wachsenden Anteil alleinstehender pflegebedürftiger Personen, die in großstädtischen Ballungsgebieten und deren Randlagen bereits zwei von drei Personen in der Altersgruppe der über 80-Jährigen ausmachen. Bei ihnen ist eine Versorgung über grundpflegerische Leistungen hinaus erforderlich. Bisher sind Hilfestrukturen oder -kulturen nicht erkennbar, die den Personenkreis Alleinstehender mit Hilfebedarf ausreichend absichern.
Nicht nur der häusliche Pflegebereich, sondern auch die institutionelle Pflege ist auf die Solidarität externer Helfer angewiesen. Die Mitwirkung von Angehörigen, Laienhelfern und Ehrenamtlichen wird zunehmend gesucht werden müssen, zumal die bisherige Ausrichtung der Pflege auf verrichtungsbezogene Tätigkeiten eine Lücke in der psychosozialen und emotionalen Betreuung hinterlässt, die vom professionellen Pflegepersonal nur schwer geschlossen werden kann.
Schon heute werden im Zuge des konzeptionellen Wandels mit der Einführung kleiner Wohneinheiten, personenzentrierter Versorgungsstrukturen und der Betonung des „Wohncharakters“ externe Betreuungskräfte auf ehrenamtlicher Basis eingebunden. Die Mithilfe freiwillig Engagierter soll eine neue Verantwortungskultur eröffnen. Hierin ist auch eine höhere Bewertung der Laienhilfe zu erkennen. Damit ist nicht ein Rückzug aus der professionellen Pflegearbeit gemeint, sondern die notwendige Ergänzung verrichtungsbezogener Pflegeleistungen, da zwar psychosoziale Betreuung propagiert wird, aber in den Leistungskatalogen ambulanter Vergütungskriterien bisher nicht enthalten ist. Nicht zuletzt wird mit dem Einsatz unbezahlter Kräfte in der Betreuung ein wirtschaftlicher Nutzen erzielt, ohne den häufig keine ausreichende kostendeckende Versorgung möglich wäre.
Mit dem demografischen Wandel kommen somit Gestaltungsaufgaben auf das Gemeinwesen zu, die als Ziel die Stärkung der privaten Hilfenetzwerke, insbesondere durch eine kommunale Alterssozialpolitik, haben. Gestaltungsaufgaben erwachsen jedoch nicht allein aus den individuellen Anforderungen in bestimmten Lebenslagen, zusätzlich sind Anpassungsprozesse auf nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen zu vollziehen. Die Ausdifferenzierung der Lebensphasen bezieht auch die Lebensphase des höheren Erwachsenenalters und somit thematisch immer neue Bevölkerungsgruppen ein. Damit werden nicht Ressourcenmängel, sondern auch Ressourcenüberschüsse in der Zielgruppe Alter thematisiert.
Der demografische Wandel fördert gewissermaßen zwei Seiten ein und derselben Medaille. Er fordert nicht nur neue Formen der Fürsorge, sondern bringt zugleich die Kräfte hervor, die diesen Wandel mit gestalten sollen. Letztere bilden den Kern aktiven gestalterischen Mitwirkens in Form Freiwilligen Engagements, um den es in diesem Band vorrangig gehen soll.
Freiwilligenarbeit/Freiwilliges Engagement
Das Freiwillige Engagement wird als gesellschaftliche Ressource angesehen, um die Betreuung hilfe- und pflegebedürftiger Menschen zu stärken. Freiwilliges Engagement in Form von Ehrenamt und Selbsthilfe kann helfen, Ausgrenzungen und soziale Isolation pflegebedürftiger Menschen zu vermeiden. Es ist in ein Konzept sozialer Interaktion und Kommunikation eingebunden. Mit dem sich aufbauenden Kommunikationssystem wird die Welt des Bekannten und Vertrauten erhalten und Wissen verbreitet, das wiederum handlungsleitend sein kann. Der Einsatz von Laienhelfern kann somit auch als Lernmodell angesehen werden, in dem die eine oder auch beide Seiten im Kommunikationsprozess durch „Empowerment-Erfahrung“ gestärkt werden kann.
Unter dem Aspekt des Netzwerk-Ansatzes wird mit der Verfügbarkeit ehrenamtlicher Helfer das persönliche Netzwerk des Pflegebedürftigen wie auch das des Helfers erweitert. Gerade bei hochaltrigen wie auch bei behinderten Menschen im Alter können die sich verringernden sozialen Beziehungen kompensiert werden.
Eine weitere Frage stellt sich bezüglich der zukünftig benötigten Helfer: Werden genügend Personen verfügbar und auch motiviert sein, Pflege und Betreuung zu übernehmen, auch für Personen außerhalb ihres persönlichen Netzwerkes? Zukünftig muss von einem erheblichen Fachkräftemangel ausgegangen werden.
Die Darstellung in diesem Band geht von einem Modell des Freiwilligen Engagements als Interaktionssystem aus, das zur Sicherung der Kommunikation und des Alltagslebens bei eingeschränkter Selbstständigkeit (Pflegebedürftigkeit) beiträgt. Die Einschätzung des Bedarfs, der Bereitschaft und der Förderung sozialen Freiwilligen Engagements wird im Hinblick auf seine Einordnung in ein Gesamtsystem helfen, Qualität, Grenzen und Risiken der Freiwilligenarbeit in Form von Laienhilfe im Pflegebereich zu erkennen.
In einen erweiterten Bezugsrahmen der Betrachtung des Freiwilligen Engagements als Bestandteil des sozialen Sicherungssystems sollen folgende Aspekte einbezogen werden:
- Das Freiwillige Engagement im Pflegebereich kann das soziale Netzwerk der Hilfebedürftigen wie auch das eigene soziale Netz der Helfer erweitern.
- Freiwilliges Engagement stellt ein Lernfeld dar. Es ist handlungsbezogen und insofern lebensweltorientiert. In der Interaktion wird erfahren, dass sich Hilfesuchende und Helfer als Teil eines gemeinsamen Prozesses anerkennen, in dem die Rollen als Helfender und als Hilfesuchender weitgehend aufgehoben werden.
- Freiwilliges Engagement stärkt die Verantwortungskultur innerhalb der Gesellschaft. Es gründet auf Solidarität.
- Freiwilliges Engagement vermittelt Kompetenz durch Interaktion.
- Mit Freiwilligem Engagement wird das System der Subsidiarität gestärkt. Es stützt den Vorrang der selbstbestimmten Lebensgestaltung vor überformenden Eingriffen durch Institutionen.
- Das Freiwillige Engagement erweitert den durch das SGB XI auf verrichtungsbezogene Tätigkeiten eingegrenzten Pflegebegriff auf kommunikative, emotionale und sozialpsychische Handlungsebenen. Es leistet einen Vorgriff auf den zu erwartenden veränderten Pflegebegriff.
- Freiwilliges Engagement im stationären wie auch im ambulanten Versorgungsbereich schafft neue Formen gemeinschaftlichen Miteinanders. Diese Formen brauchen jeweils eine eigene Struktur und eine gemeinsame Kultur.
Vornehmlich sind Menschen im höheren Alter von Pflegebedürftigkeit betroffen, denn Hochaltrigkeit gilt als gesundheitliches Risiko. Die Altersgruppe der über 80-Jährigen stellt etwa die Hälfte aller pflegebedürftigen Personen. Freiwilligenarbeit in der Pflege spricht jedoch nicht nur die Hilfebedürftigen selbst, sondern auch deren Angehörige an, soweit sie als Hauptpflegepersonen einbezogen sind. In nicht wenigen Fällen bilden sie eine eigene Gruppe mit Hilfebedarf.
Eine weitere Personengruppe mit Unterstützungsbedarf sind Menschen mit einer spezifischen Behinderung, psychisch Kranke und Demenzkranke, deren Zahl zukünftig erheblich steigen wird.
Alleinstehende Menschen im Alter, Pflegebedürftige wie auch behinderte Menschen laufen Gefahr, ausgegrenzt zu werden. Dies gilt es zu vermeiden und ihre Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu fördern, mit dem Ziel, die Lebensqualität der Betroffenen zu verbessern und ihre Würde zu bewahren.
Von der Sicherung der Leistungen pflegender Angehöriger sowie ergänzend hierzu der Gewinnung von externen freiwillig ehrenamtlichen wie auch professionellen Hilfen wird es abhängen, ob...