2 Diagnostik, Differenzialdiagnostik, Ausschluss von Pseudotherapieresistenz
Tom Bschor
Synopsis
- Bevor eine therapieresistente Depression diagnostiziert wird, muss sichergestellt sein, dass die Erkrankung nicht aufgrund anderer, unerkannter Gründe auf die Behandlung nicht anspricht. Ist dies der Fall, spricht man von »Pseudotherapieresistenz«.
- Bei den auszuschließenden Ursachen für schlechte Behandelbarkeit ist insbesondere zu denken an:
- diagnostische Irrtümer (Fehldiagnose einer anderen psychiatrischen Erkrankung als Depression oder Fehldiagnose einer somatischen Erkrankung als Depression),
- unerkannte Komorbidität (unerkannte psychiatrische oder somatische Komorbidität, die die Depression aufrechterhält),
- pharmakogene Verursachung der Depression,
- nicht adäquat durchgeführte antidepressive Behandlung (z. B. zu kurz, ungeeignete Dosis, ungeeignetes Therapieverfahren),
- Non-Compliance des Patienten,
- psychosoziale Faktoren, die die Depression verursachen oder aufrechterhalten,
- einen zu hohen sekundären Krankheitsgewinn des Patienten.
- Ein systematisches Vorgehen in der Diagnostik bietet die größte Sicherheit, Pseudotherapieresistenz zu erkennen. Hierzu ist es sinnvoll, den diagnostischen Prozess in zwei Stufen durchzuführen:
- Basisdiagnostik vor Beginn der ersten Behandlung,
- erweiterte Diagnostik nach dem Feststellen von Therapieresistenz, d. h. nach zwei erfolglosen Behandlungsversuchen.
- Psychiatrische Differenzialdiagnosen, die als Depression verkannt werden können, sind insbesondere Suchterkrankungen, (beginnende) Demenzen, posttraumatische Belastungsstörung, Schizophrenie (insbesondere schleichende Verläufe und schizophrene Residualzustände) sowie schizoaffektive Erkrankungen und Somatisierungsstörung.
- Die häufigsten komorbiden psychiatrischen Erkrankungen sind Angst-, Abhängigkeits- und somatoforme Erkrankungen sowie Persönlichkeits- und Essstörungen. Sie führen in der Regel zu einer Verschlechterung von Prognose und Behandelbarkeit.
Einleitung
Spricht eine Depression auf eine Behandlung nicht an, so ist »Therapieresistenz« im Sinne der Definition in Kapitel 1 nicht die einzige mögliche Erklärung dafür. Abzugrenzen ist hier die sogenannte Pseudotherapieresistenz. Die Ursachen von Pseudotherapieresistenz zu erkennen, ist von großer Relevanz, weil sich hieraus alternative Therapiekonzepte ableiten. Hierbei ist insbesondere an die im Folgenden aufgeführten möglichen Ursachen von Pseudotherapieresistenz zu denken.
Mögliche Ursachen von Pseudotherapieresistenz:
- Diagnostische Probleme
- 1.1 Fehldiagnose einer anderen psychiatrischen Erkrankung als Depression
- 1.2 Unerkannte psychiatrische Komorbidität, die die Depression aufrechterhält
- 1.3 Fehldiagnose einer somatischen Erkrankung als Depression
- 1.4 Unerkannte somatische Komorbidität, die die Depression aufrechterhält
- 1.5 Pharmakogen verursachte Depression
- Inadäquat durchgeführte antidepressive Behandlung (z. B. zu kurz, ungeeignete Dosis, ungeeignetes Therapieverfahren)
- Non-Compliance des Patienten
- (Unerkannte) psychosoziale Faktoren, die die Depression verursachen oder aufrechterhalten
- Hoher sekundärer Krankheitsgewinn des Patienten
Nur ein sorgfältiges, nach sinnvollen Kriterien durchgeführtes diagnostisches Vorgehen kann den Anteil von Pseudotherapieresistenzen an den behandlungsresistenten Verläufen reduzieren. Hierbei ist es im klinischen Alltag im Sinne eines rationalen und rationellen Vorgehens sinnvoll, die Diagnostik in zwei Stufen durchzuführen (s. Abb. 2.1):
- Basisdiagnostik im Rahmen der Diagnosestellung »Depression«, d. h. vor Beginn einer antidepressiven Therapie,
- erweiterte Diagnostik, wenn sich der Behandlungsverlauf als therapieresistent erweist. Der geeignete Zeitpunkt dafür ist z. B. nach zwei erfolglosen, aber adäquat durchgeführten Behandlungsversuchen.
Abb. 2.1: Diagnostikstufen im Rahmen eines gestuften Behandlungsvorgehens
1 Diagnosestellung
Ein depressives Syndrom kann nach sorgfältiger psychopathologischer Befunderhebung diagnostiziert werden. Erst die differenzierte Verlaufserhebung im Rahmen der Eigen- und Fremdanamnese gestattet eine erste Einschätzung, ob das depressive Syndrom im Rahmen einer eigenständigen affektiven Erkrankung zu verstehen ist. Bevor die Diagnose einer solchen Erkrankung gestellt werden kann, muss durch geeignete Diagnostik ausgeschlossen sein, dass das depressive Syndrom im Rahmen einer anderen psychiatrischen oder somatischen Erkrankung auftritt. Ist dies ausreichend gesichert, gestattet die Anamnese die Differenzialdiagnose zwischen den verschiedenen affektiven Erkrankungen, insbesondere:
- (major) depressive Einzelepisode
- (unipolar) rezidivierende Depression
- Depression im Rahmen einer bipolar affektiven Erkrankung (bipolare Depression)
- Dysthymie
- depressive Anpassungsstörung
1.1 Psychiatrische Differenzialdiagnosen
Folgende psychiatrische Erkrankungen gehen häufig mit einem depressiven Syndrom oder zumindest mit depressiven Symptomen einher. In der psychiatrischen Untersuchung und Anamneseerhebung sollte ihnen daher besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden:
- Suchterkrankungen
- hirnorganische Erkrankungen, z. B. (beginnende) Demenzen
- posttraumatische Belastungsstörung
- Schizophrenie, insbesondere schleichende Verläufe wie bei der Schizophrenia simplex und schizophrene Residualzustände sowie schizoaffektive Erkrankungen
- Somatisierungsstörung
Neben der systematischen Exploration können Blut-, Atem- und Urinanalysen auf Alkohol, Medikamente mit Abhängigkeitspotenzial und Drogen sowie typische Laborveränderungen Hinweise auf eine Abhängigkeitserkrankung liefern.
Die gezielte Untersuchung kognitiver Funktionen, z. B. Alt- und Neugedächtnis, Merkfähigkeit, Orientierung, Konzentration und Abstraktionsvermögen, liefert im Rahmen der psychopathologischen Befunderhebung Anhaltspunkte für eine mögliche hirnorganische Erkrankung, denen dann durch gezielte testpsychologische und apparative Diagnostik weiter nachzugehen ist. Eher für eine depressive Pseudodemenz als für eine beginnende Demenz sprechen u. a.:
- eine Aggravierungsneigung und Selbstvorstellung des Patienten bezüglich der kognitiven Defizite (Demenz: Dissimulation und Vorstellung durch die Angehörigen),
- gleichermaßen beklagte Defizite in Kurz- und Langzeitgedächtnis (beginnende Demenz: überwiegend Kurzzeitgedächtnisstörungen),
- plötzlicher Beginn der kognitiven Defizite (Demenz: schleichend) und
- eine eher unmotiviert oder wenig kooperativ erscheinende Auskunftsverweigerung (»Ich weiß nicht«; Demenz: Versuch, die vorhandenen Defizite wortreich zu überspielen).
Die posttraumatische Belastungsstörung grenzt sich von depressiven Erkrankungen zum einen durch den Beginn nach einem traumatischen Ereignis mit schwerer außergewöhnlicher Bedrohung oder von katastrophenartigem Ausmaß und zum anderen durch spezifische Symptome wie Nachhallerinnerungen, Vermeiden aller an die auslösende Situation erinnernder Stimuli, allgemein erhöhter Schreckhaftigkeit, Albträume und das anhaltende Gefühl emotionaler Abgestumpftheit ab.
Diese differenzialdiagnostische Klärung muss bereits im Rahmen der Basisdiagnostik erfolgen. Da die diagnostische Einschätzung auch bei gründlicher Untersuchung schwierig sein kann und damit teilweise vorläufig bleiben muss, sollte im Rahmen eines systematisierten Vorgehens die Differenzialdiagnostik im Rahmen der erweiterten Diagnostik nach therapieresistentem Verlauf wiederholt werden. Sinnvoll ist dies insbesondere bei progredienten Erkrankungen wie den Demenzen, deren Diagnose mit Fortschreiten der Erkrankung einfacher wird, oder bei Krankheiten, deren Symptome von vielen Patienten erst nach der Entwicklung eines gefestigten Vertrauensverhältnisses zum Behandler berichtet werden (z. B. Abhängigkeitserkrankungen oder posttraumatische Belastungsstörungen).
1.2 Psychiatrische Komorbidität
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