2. Theologische Orientierungen
Inklusion ist für die Theologie durch die UN-Behindertenrechtskonvention eine Herausforderung von außen und zugleich ihr eigenes Thema. Eine umfassende Theologie der Inklusion liegt bisher noch nicht vor. Vor diesem Hintergrund können die folgenden theologischen Erwägungen der Inklusionsdebatte nur eine Anregung für die vertiefte Auseinandersetzung sein. Ähnlich wie z. B. im Hinblick auf die feministische Theologie, die zu einer erweiterten Leseperspektive der Heiligen Schrift führte, wird es auch hier darum gehen, vertraute Texte neu wahrzunehmen und sie im Hinblick auf Inklusion zu bedenken. Ob sich am Ende aus einer Theologie der Inklusion eine inklusive Theologie entwickelt, bleibt abzuwarten. Jedenfalls ist es eine anspruchsvolle Aufgabe, Theologie in allen Teilgebieten inklusiv zu denken. Da Inklusion sich unteilbar auf alle Lebensbereiche bezieht, ist die Theologie in ihrer Gesamtheit herausgefordert. Angesichts der vielen Dimensionen der Inklusion kann keine Teildisziplin ein Monopol beanspruchen oder sich dieser Herausforderung entziehen.
Eine nicht nur akademische Debatte unter Theologen
Karl Barth und Heinrich Vogel traten in der Diskussion um das Rätsel des Leidens, das die schwerbehinderte Tochter Vogels zu tragen hatte, aus dem akademischen Raum heraus. Vogel vertrat die Hoffnung, seine Tochter werde im Reich Gottes keine Behinderung mehr haben. Für Barth klang das so, als habe Gott einen Fehler gemacht, den er später korrigieren müsste. Er hielt Vogel entgegen: »Ist es nicht eine viel schönere und kräftigere Hoffnung, dass dort das offenbar wird, was wir jetzt so gar nicht verstehen – nämlich, dass dieses Leben nicht vergeblich war, weil Gott nicht umsonst zu ihm gesprochen hat: Gerade dich habe ich geliebt!?«14
2.1 Gottebenbildlichkeit und menschliche Würde
Der wichtigste theologische Bezugspunkt der Inklusionsdebatte ist die Gottebenbildlichkeit des Menschen (1 Mose 1,26f.). Jeder Mensch ist von Gott, so wie er ist, nach seinem Bild geschaffen. Dies begründet seine unantastbare Würde. Sie ist eine unverfügbare und unverlierbare Gabe Gottes, nicht abhängig von Eigenschaften oder Lebensbedingungen. Die Würde des Menschen muss nicht erleistet oder verdient werden. Sie ist ein Geschenk.
Gottebenbildlichkeit ist ein Beziehungsbegriff. Es gehört zur Würde der Menschen, dass sie auf Beziehung und Gemeinschaft zu Gott und untereinander angelegt und angewiesen sind. Aus der voraussetzungslosen Liebe Gottes kann sich das Leben in aller Vielfalt gestalten, immer in der Spannung zwischen Angewiesenheit und Selbstbestimmtheit bzw. Fürsorge und Autonomie.
Die Bibel denkt nicht in Kategorien des »Wesens« und der »Substanz« wie die griechische Philosophie, sondern in der Kategorie der »Beziehung« zwischen Gott und den Menschen. Kein Mensch muss eine bestimmte Eigenschaft haben, um seine Gottebenbildlichkeit nachweisen zu können. Und keine Eigenschaft kann ihn von der Zugehörigkeit zum Menschsein oder von der Teilhabe an menschlichen Gemeinschaften ausschließen! Es genügt einzig, Mensch zu sein. Im Gedanken der Gottebenbildlichkeit des Menschen steckt zugleich die theologische Begründung für die Gleichheit des Menschen in allen seinen Unterschiedlichkeiten. Da der Mensch als Bild Gottes geschaffen ist, sind Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit gleich, im Sinne von gleich wertvoll.
2.2 Die Vielfalt der Schöpfung
Ausgangspunkt vieler Begründungen der Inklusion ist der Heterogenitätsbegriff. Dabei wird Verschiedenheit gleichberechtigt und nebengeordnet gekennzeichnet oder zeitlich im Blick auf die Biographie eines Menschen gedeutet oder in der Wahrnehmung von Differenz stets nur als Konstrukt von außen verstanden. Heterogenität kann deshalb als »Zusammenhang von Verschiedenheit, Veränderlichkeit und Unbestimmtheit«15 verstanden werden.
Die unverfügbare Gottebenbildlichkeit schützt den Menschen vor jeder Form der Festlegung durch Definition, Diagnose oder Zuschreibung. Bilder beweglich zu halten und vielfältige Interpretationen zuzulassen, das ist das Thema des biblischen Bilderverbotes (2 Mose 20,4). Denn die biblische Tradition gibt auf die Frage nach dem Wesen des Menschen die paradoxe Auskunft, dass Menschen sich von dem, nach dessen Bild sie geschaffen sind, kein Bildnis machen sollen. Sie sollen also – wie außer ihnen nur Gott selbst – bilderlos existieren, ohne Menschenbild. Das Bilderverbot schützt Menschen vor einer Festlegung auf eine lebensferne Definition des »Normalen«, wie sie sich in Erwartungen an Gesundheit, Können und Intellekt, in Zeugnissen und Zertifikaten, aber auch in unseren Schönheitsidealen zeigt. Es befreit damit zur Freude an der Vielfalt. Alle Versuche, ein sogenanntes christliches Menschenbild zu definieren, d. h. die Gottebenbildlichkeit jenseits ihres Relationsgehaltes inhaltlich festzulegen, laufen deshalb ins Leere.
Schöpfungstheologisch betrachtet, ist es normal, verschieden zu sein. Im ersten biblischen Schöpfungsbericht sind Menschen dem Bilde Gottes gemäß als Mann und Frau geschaffen (1 Mose 1,26f.). Zu Gottes Schöpfungshandeln gehört von Anfang an das Unterscheiden (Verse 2.5.6.18). Sein Schöpfungshandeln schafft erst die Ausdifferenzierung von Wirklichkeit. Auch in der Pflanzen- und Tierwelt schafft er »jedes nach seiner Art«. Wenn Gott nun den Menschen nach seinem Bild als Mann und Frau vielfältig geschaffen hat, liegt menschliche Vielfalt schon im Bild Gottes begründet, das heißt in Gott selbst. Die innere Unterschiedlichkeit Gottes kommt dabei auch im trinitarischen Gottesverständnis als Vater, Sohn und Heiliger Geist zum Ausdruck. Er ist Vielfalt und Einheit zugleich. »Gott ist die bunte Vielfalt für mich«, so beschreibt ein Mann mit einer geistigen Behinderung sein Gottesverständnis. »Dieser Gott schafft Menschen vielfältig nach seinem Bild. Die Verschiedenheit des Menschen ist von Anfang an gottgewollt und gottgemäß.« Dies schließt auch jede Form der Behinderung ein. Zu meinen, Gott nehme zwar Menschen, nicht aber ihre Behinderung an, würde einen wesentlichen Teil der Persönlichkeit abspalten und die unteilbare Würde verletzen. Kein Mensch ist eine Schöpfungspanne Gottes. Denn schöpfungstheologisch normal ist, als Mensch verschieden zu sein. Gottes Herzensurteil für die Vielfalt der Schöpfung und des Menschen ist »sehr gut« (1 Mose 1,31). Nicht im Sinne einer Perfektion seines Wesens, sondern im Sinne eines eindeutigen »Ja« zum ganzen Menschen und zur ganzen Schöpfung, einschließlich aller Besonderheiten. Gottes vorbehaltloses Beziehungs-Ja der Liebe zu jedem Menschen ist der theologische Schlüssel zur Inklusion. Sie zeigt sich von Anfang an in seinem vielfältigen Schöpfungshandeln.
Ulf Liedke beschreibt Behinderung dementsprechend als »Gegebenheit«16. Diese kann von Betroffenen als gute Gabe wie als leidvolle Zumutung erlebt oder auch ganz ohne solche Zuschreibungen als ein bloßer Lebensbestandteil wahrgenommen werden. Eine generelle Beurteilung von Behinderung kann nicht Anspruch einer theologischen Anthropologie sein. Der Begriff »Gegebenheit« impliziert einen Geber, der »Quelle des Lebens« (Ps 36,10) ist. Ihm verdanken Menschen Ressourcen und Begrenzungen, ihre Entwicklungsmöglichkeiten und die Erfahrung, dass menschliches Leben stets bruchstückhaft ist. Menschliche Allmachtsphantasien zerbrechen darüber und können dem Vertrauen ins Dasein Platz machen, dass alle Menschen von Gott angenommen, begabt und gesegnet sind.
Die vielfältige Wahrnehmung von Mensch, Schöpfung und Gott spiegelt sich auch in den verschiedenen Glaubenserfahrungen und Deutungen unterschiedlicher biblischer Bücher und Evangelien wider. In den letzten Jahren sind zunehmend neuere theologische Ansätze aus der Perspektive von Menschen mit Behinderungen entstanden. Sie bewegen sich häufig im Zusammenhang der Befreiungstheologie und machen aus der Sicht von Betroffenen bisher verborgene Dimensionen biblischer Texte kenntlich. Sie legen offen, wenn theologische Bezugssysteme Menschen mit Behinderungen stigmatisieren und isolieren. Zugleich entfalten sie die emanzipatorische Wirkung der christlich-jüdischen Tradition und ihrer Symbole. Mit Blick auf das Bilderverbot (2 Mose 20,4) wird gefordert, vom Mythos körperlicher oder geistiger Perfektion abzurücken. Eine kontextuelle Christologie befreit zur Begegnung mit dem »behinderten Gott« (N. L. Eiesland), der die soziale Ordnung »durcheinanderbringt«, damit Erneuerung möglich wird. Denn der Glaube entfaltet die Kraft, Kirche und Gesellschaft zu verändern. Ulrich Bach weist darauf hin, dass Hilfebedürftigkeit, Defizite und Unvollkommenheit zum Menschsein gehören: »Boden unter den Füßen hat keiner«; jeder und jede ist auf Ergänzung angewiesen. Auch Jesus war hilfebedürftig. Jesus lässt sich auf die Rolle des Opfers fixieren – ein Nichts, ein Verlierer nach den Maßstäben der Welt. Gleichwohl geht vom Kreuz die befreiende Frohbotschaft aus: Gottes Ja gilt jedem Menschen unabhängig von seinen individuellen Begrenzungen! Denn ohne die Schwächsten ist weder die Kirche noch die Gesellschaft, in der wir leben, ganz.17
2.3 Gott handelt inklusiv
Im Zusammenhang der Lebenslagen von Menschen mit Behinderungen, aber auch der Erfahrung von Krankheit, Armut und Ausgrenzung wird häufig früher oder später die Frage gestellt, warum ein guter Gott das Leiden zulasse. Die Theodizeefrage führt allerdings zu keiner zufriedenstellenden Antwort. Denn offenbar ist auch die Grenzhaftigkeit18 des Menschen und die Vielfältigkeit des Leidens...