Einführung
Ein Buchprojekt über die Vergewaltigung deutscher Frauen am Ende des Zweiten Weltkriegs und in der Besatzungszeit muss Vorurteile überwinden. Es ist, als wäre das Standbild einer einzigen Kameraeinstellung in unserem kollektiven Gedächtnis eingefroren: Es zeigt einen Russen mit asiatischen Gesichtszügen, der »Urri, Urri« brüllt, aber nicht nur die Uhr will, sondern gleich die ganze Frau. Das haben wir alle schon so im Fernsehen gesehen: blonde Frau, gespielt von Nina Hoss, in schauriger Trümmerkulisse, im Halbschatten lauernd der geifernde Mongole. Gibt es zu diesem Thema noch etwas Wichtiges zu sagen? Der Krieg ist schließlich lange vorbei, die Betroffenen sind sehr alt oder tot, und die Nachgeborenen finden die Kriegsgeschichten aus Hollywood oder Babelsberg im Zweifelsfall spannender. Und dann noch Vergewaltigung – ist das nicht ein Relikt, ein archaisches Verbrechen, das immer und überall gleich abläuft, ob damals in Deutschland oder heute im Irak, in Syrien oder im Südsudan? Das Thema bietet doch höchstens eine wohlfeile Projektionsfläche für ewige Moralisten und Nationalisten, die nicht lange überlegen müssen, um Gut und Böse zu unterscheiden. Die Bösen waren damals die Russen, heute sind es eben andere, auf jeden Fall wieder böse Männer.
Ich habe mich während der Arbeit an diesem Buch oft gefragt, warum die Kriegsvergewaltigung deutscher Frauen für mich heute noch ein Thema ist, siebzig Jahre danach. Die einfache, halbwahre Antwort darauf wäre, dass die Linse, durch die wir auf diese Zeit schauen, mal dringend geputzt werden muss. Wir Historiker nennen das vornehm »Forschungslücke«, wenn wir zu einem Thema sehr wenig zuverlässiges Wissen vorfinden. Doch ein buchhalterischer Vollständigkeitsanspruch der Geschichtswissenschaft ist letztlich kein ausreichendes Argument für mich. Es muss wichtigere Gründe dafür geben, in ein so finsteres Tal hinabzusteigen.
Ein solcher wichtiger Grund könnte ein Ideal von Diskursgerechtigkeit sein. Nach wie vor wird die Legitimität der Erinnerung an die Ereignisse nach dem Einmarsch der alliierten Truppen bezweifelt. Noch immer gibt es Stimmen, die sagen, die Auseinandersetzung mit dem Thema Massenvergewaltigung an Deutschen führe unweigerlich zum inneren Aufrechnen mit den Opfern deutscher Aggression und damit letztlich zur Relativierung des Holocaust.1 Andere bestreiten die Relevanz des Themas an sich, behaupten, die deutsche Gesellschaft bilde sich nur ein, dass sie einen blinden Fleck an dieser Stelle habe. Es handele sich dabei um ein Pseudo-Tabu, das immer wieder verletzt werde, damit es erneut aufgerichtet werden könne.2 Wieder andere misstrauen sogar der Glaubwürdigkeit der Opfer, wie zuletzt die Debatte um das Tagebuch der »Anonyma« mit dem Titel »Eine Frau in Berlin« gezeigt hat.3
Doch der wohl wichtigste Grund, diesem grundsätzlichen Misstrauen entgegenzutreten, ist für mich, dass ein erheblicher Teil der Betroffenen überhaupt nie als Opfer anerkannt worden ist. Nach meinen Berechnungen wurden mindestens 860000 Frauen (und auch etliche Männer) im Nachkrieg vergewaltigt. Mindestens 190000 davon, aber vielleicht auch mehr, erlebten die sexuelle Gewalttat durch einen amerikanischen Armeeangehörigen, andere durch britische, belgische oder französische Soldaten. Von diesen Opfern wurde nie gesprochen. Denn so wie die DDR die Untaten des »Großen Bruders« im Osten unter den Teppich kehrte, so verschwieg die westdeutsche Gesellschaft die Übergriffe der demokratischen Befreier. Den von Rotarmisten vergewaltigten Frauen wurde wenigstens eine, wenn auch ideologisch instrumentalisierende, Form der Anerkennung zuteil – sie wurden zu Belastungszeugen im Ost-West-Konflikt. Jene Frauen hingegen, die den GIs, Briten oder Franzosen anheimgefallen sind, wurden womöglich noch mit Verachtung gestraft. Unter dem Damoklesschwert des öffentlichen Urteils über »fraternisierende Frauen«, also Frauen, die sich angeblich für den »Feind« prostituierten und damit der eigenen Nation in den Rücken fielen, wurde es den Opfern »westlicher« sexueller Gewalt so gut wie unmöglich gemacht, für ihre Geschichten Gehör zu finden. Ähnliches galt für die Frauen in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) beziehungsweise DDR – auch ihnen wurde die Gewalterfahrung, wenn überhaupt davon gesprochen wurde, als eigene Charakterschwäche ausgelegt.
Bis heute gibt es nur zwei Aufarbeitungsversuche, denen es gelang, ein größeres Publikum zu erreichen: Das bereits erwähnte zeitgenössische Tagebuch von »Anonyma«, das im Jahr 2008 auch verfilmt wurde, sowie ein erster Problemaufriss der Feministin und Filmemacherin Helke Sander aus dem Jahr 1992. Beide Projekte hatten denselben Schauplatz – Berlin – und dieselben Täter – Rotarmisten. So verdienstvoll diese beiden Ansätze waren, haben sie zusätzlich dazu beigetragen, dass heute die meisten Deutschen glauben, die kriegsbedingte sexuelle Gewalt sei ein Problem der Sowjetsoldaten gewesen, während die anderen Alliierten eher vor liebestollen deutschen Frauen geschützt werden mussten. So haben Sander und »Anonyma«, aber auch der bekannte Publizist Erich Kuby mit seiner Serie über »Russen in Berlin«, die in den sechziger Jahren im »Spiegel« erschien, zur Verfestigung von Stereotypen beigetragen. Das Ergebnis: Ob und wie man sich an die Massenvergewaltigungen am Ende des Zweiten Weltkriegs erinnerte, wurde zur Rechts-Links-Frage: hier die rechten »Vertriebenenfunktionäre« und Revisionisten, die das Leid der Frauen mit angeblichen Träumen von Groß-Deutschland vermischten, dort die Linken, die das Ansehen der sowjetischen »Befreier« verteidigen wollen, indem sie die Vergewaltigungen der Sowjetarmee herunterspielten. Das ist bis heute das größte Vorurteil bei der Bearbeitung des Themas geblieben.
Doch Nichtbeachtung macht die damaligen Verbrechen nicht ungeschehen. Noch leben in den Alters- und Pflegeheimen Frauen (und wahrscheinlich auch Männer), die von schmerzhaften Erinnerungen heimgesucht werden. Ihnen genügt es, ein englisches Wort zu hören oder von einem Pfleger unsanft gewaschen zu werden, und das Erlebte kehrt zurück. Aus diesem Grund bereist etwa die Altenpflegerin und Traumatherapeutin Martina Böhmer schon seit Jahren die Republik und versucht, bei Mitarbeitern von Alten- und Pflegeheimen ein Bewusstsein dafür zu wecken, dass sie es bei ihrer täglichen Arbeit möglicherweise mit traumatisierten Opfern kriegsbedingter sexueller Gewalt zu tun haben.4
Auch wenn dieses Problem wohl schon bald nicht mehr existieren wird, weil die letzten Opfer der damaligen Gewalt gestorben sind, ist es dann damit aus der Welt? Psychologen stellen fest, dass die deutsche Vergangenheit über Generationen hinweg weiterwirkt. Das ist leicht fassbar bei jenen Frauen und Männern, die als Kinder Zeugen oder sogar das Produkt von Vergewaltigungen an ihren Müttern waren. Aber auch für deren Kinder ist es wichtig, das Ereignis und das weitere Schicksal der Betroffenen kennenzulernen und sich ein Bild davon zu machen, mit welchen Verwundungen viele angeblich so starke »Trümmerfrauen«, die heutigen Groß- und Urgroßmütter, aus dem Krieg kamen. Und es ist dringend notwendig, dass wir uns damit auseinandersetzen, mit welchen moralischen und geschlechterpolitischen Vorurteilen die Frauen damals konfrontiert waren. Ihnen wurde jede Anerkennung verweigert, nicht nur weil das, was ihnen widerfahren war, als beschämend galt, sondern auch, weil der weiblichen Sexualität grundsätzlich misstraut wurde. Der Vorwurf lautete, dass sie es wahrscheinlich schon irgendwie gewollt hatten.
Anfangs wurde wohl aus Schock, Sprachlosigkeit und Gefühlsmangel geschwiegen. Dann wurden andere Dinge wichtiger, allen voran der wirtschaftliche und soziale Wiederaufbau des Landes und die gleichzeitige Wiederaufrichtung des bürgerlich-patriarchalen Familienmodells. Dann mussten die eigenen leidvollen Erfahrungen hinter politisches Kalkül zurücktreten, hinter Opportunismus den Verbündeten gegenüber. Dann gab es die berechtigte Priorität, die Verbrechen der Deutschen aufzuarbeiten. Doch irgendwann gehen die Gründe für ein weiteres Ignorieren der Massenvergewaltigung aus.
Undurchsichtig ist bis heute das Dickicht aus Schweigen, gesellschaftlicher Vorwurfshaltung, moralischer Herablassung, politischer Instrumentalisierung, behördlicher Schikane, gönnerhafter Entschädigung, feministischer Parteilichkeit und nie erfolgter Anerkennung, durch die vergewaltigte Frauen (und Männer) nach der Tat selbst immer wieder verletzt, gedemütigt, ignoriert und belehrt wurden. Fachleute nennen diese grausame Erfahrung, als Opfer von Gewalt auch noch zum Opfer gesellschaftlicher Ausgrenzung zu werden, »sekundäre Viktimisierung«.
In welchem Ausmaß die vergewaltigten Frauen nach 1945 erneut zu Opfern gemacht wurden, von Ärzten, die willkürlich eine Abtreibung genehmigten oder verweigerten, von Sozialfürsorgern, die schwangere Opfer mit der Diagnose »Verwahrlosung« in Besserungsanstalten steckten, von Nachbarn, die sich selbstgerecht über den angeblich üblen Leumund der Frauen ausließen, und von gnadenlosen Juristen, die Ausgleichszahlungen abwiesen, weil sie den Aussagen der Frauen keinen Glauben schenkten, das zu zeigen ist ein weiteres Anliegen dieses Buches.
Um das Thema der Vergewaltigungen im Nachkrieg umfassend zu rekonstruieren, das heißt, allen Gegebenheiten innerhalb und außerhalb des Gebietes des Bundesrepublik und der DDR, den juristischen und administrativen Folgen in allen vier Besatzungszonen, der entsprechenden Kommunikation zwischen den alliierten Militärs und den deutschen...