Einführung
Bedauert mein Schicksal nicht. Ich habe eingewilligt,
mich zu überleben, um eurem Ruhm zu dienen.
Ich will die großen Taten aufschreiben, die wir zusammen vollbracht haben.1
MIT DIESEN ERGREIFENDEN WORTEN verabschiedete sich Napoleon am 20. April 1814 in Fontainebleau von den Veteranen seiner Kaiserlichen Garde und trat dann die Reise in die Verbannung nach Elba an. Er hielt das Versprechen jenes Tages: Seine letzten fünf Lebensjahre widmete er seinen Memoiren und legte mit ihnen das Fundament seiner Legende. Was Napoleon begann, setzten zahllose Schriftsteller und Historiker fort. Nicht immer dienten sie dabei »seinem Ruhm«; viele kritisierten ihn sogar erbittert. Und doch ist er bis heute eine der am intensivsten studierten Figuren der Weltgeschichte; seit seinem Tod sind über Napoleon mehr als 200000 Bücher erschienen.2
Mit der Zeit verschoben sich in diesen Werken die Akzente. Zu Beginn übten Napoleons herausragende Persönlichkeit und seine eindrucksvolle Laufbahn auf die Geschichtswissenschaftler besondere Faszination aus. Bedeutende Biographien erschienen, so die von Georges Lefebvre, Jean Tulard, John Holland Rose und August Fournier, auf die fraglos weitere folgen werden.3 Napoleons militärische Glanzleistungen, ein Kernstück seiner Legende, hielten von jeher einen eigenen Forschungszweig am Laufen. Und doch weitete sich das Blickfeld der Wissenschaft zusehends auch für die größeren Veränderungen, die seine Herrschaft in Frankreich und seinem Kaiserreich jenseits der französischen Grenzen bewirkte. 1982 veröffentlichte Jean Tulard eine wegweisende Studie zu Napoleons Reich, auf die dann im vergangenen Jahrzehnt Thierry Lentz’ vierbändiges Werk Nouvelle histoire du Premier Empire folgte. Jacques-Olivier Boudon lotete quer durch Europa die Auswirkungen der napoleonischen Religionspolitik aus. Alan Forrest erforschte die Lasten der Konskription. Michael Broers analysierte den napoleonischen Kulturimperialismus. Und Charles Esdaile betrachtete Napoleons Kriege unter einem ungewohnt breiten internationalen Blickwinkel.4
Doch trotz der Vielzahl der Veröffentlichungen wurden einige zentrale Aspekte der Geschichte Napoleons, insbesondere sein Untergang, bis heute vernachlässigt. Dies erklärt sich weitgehend aus den Perspektiven. Napoleons endgültige Niederlage 1815 bei Waterloo fiel so spektakulär aus, dass die Öffentlichkeit sie als den entscheidenden Moment seines Untergangs wahrnahm. In Großbritannien erhielt sie deswegen besondere Bedeutung, weil Napoleon mit Wellington von einem britischen General geschlagen wurde. Dieser Sieg wurde zu einem Kernstück der Nationalgeschichte und des Nationalstolzes der Briten.
In Wahrheit trügt dieser Blick auf Waterloo. Der Napoleon dieser Schlacht war kein anerkanntes Staatsoberhaupt mehr, sondern ein Abenteurer, den die übrigen europäischen Mächte zum Gesetzlosen gestempelt hatten. Schon einmal zur Abdankung gezwungen, war sein erster Sturz im Vorjahr der entscheidende gewesen, der ihm Thron und Legitimität gekostet hatte. Seine Rückkehr nach Frankreich 1815 war nur ein letzter verzweifelter und zum Scheitern verurteilter Versuch gewesen, seine Geschicke noch einmal zu wenden.
In den Auseinandersetzungen 1813 und 1814 – in Bautzen, Dresden, Leipzig, Laon und während der Einnahme von Paris – stand Napoleon einer Allianz der Russen, Österreicher und Preußen gegenüber. Obwohl sich auf den Schlachtfeldern dieser Jahre Napoleons Schicksal entschied, gibt es bisher nur wenige Werke, die sich detailliert mit diesem Zeitraum auseinandersetzen.5
Der Krieg jener Jahre erzählt nicht nur eine weitgehend unbekannte Geschichte, sondern wirft eine zentrale Frage auf. Mehrmals in dieser Zeit erhielt Napoleon von seinen Gegnern Angebote zu einem Friedenskompromiss, versäumte es aber regelmäßig, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Überging er sie, weil sie ganz offenbar unseriös waren und es sich nicht lohnte, ihnen nachzugehen? Oder handelte es sich tatsächlich um ernsthafte Offerten, die Napoleon rein aus Arroganz und Sturheit zurückwies? Egal wie die Antwort ausfällt, sie wirkt sich auf jeden Fall bedeutend auf eine Bewertung der napoleonischen Kriege aus. Sollten Napoleons Feinde mit ihren Angeboten ein Täuschungsmanöver betrieben haben, so war der Krieg ein unausweichlicher Konflikt, der mit dem unumschränkten Sieg der einen und der vernichtenden Niederlage der anderen Seite enden musste. Sollten sie aufrichtig gewesen sein, hätten Frankreich und seine Gegner ein Friedensabkommen zustande bringen können. Dann wäre Napoleon für die Fortsetzung des Krieges allein verantwortlich gewesen.
Die Frage nach den Friedensangeboten versucht dieses Buch zu beantworten und greift dazu auf wichtiges neues Archivmaterial zurück, von dem einiges erstaunlicherweise deshalb nie ausgewertet wurde, weil zu Napoleon so viel bereits veröffentlicht worden war. Nachdem im Jahrhundert nach seinem Tod die Memoiren und vieles aus dem Nachlass der Personen, die ihn gekannt hatten, erschienen waren, herrschte der Eindruck, die Archive hätten zu diesem Thema längst alles Interessante preisgegeben. Aber dies ist gerade nicht der Fall. Die beiden besten Gegenbeispiele sind die Nachlässe Caulaincourts, Napoleons Außenminister 1813/1814, und Metternichs, seines österreichischen Gegenspielers und des Chefdiplomaten der antifranzösischen Koalition. Caulaincourts Memoiren erschienen 1933, allerdings ohne ein umfangreiches Material an autobiographischen Mitteilungen, darunter einen mehrere Hundert Seiten umfassenden Korpus zum Feldzug von 1813 sowie einige wichtige Briefe, die heute im Nationalarchiv in Paris verwahrt werden. Metternichs Nachlass erschien in den 1880er-Jahren in acht Bänden, allerdings nur mit einer kleinen Auswahl aus dem gewaltigen Material, das heute im tschechischen Nationalarchiv Prag liegt: Diese Acta Clementina wurden erst vor kurzem ordnungsgemäß katalogisiert. Aus beiden Quellen stammt einiges von dem bisher unbekannten wichtigen Material, das in diesem Buch verarbeitet wurde.
Die Nachlässe Caulaincourts und Metternichs liegen beide in öffentlichen Archiven. Manches Quellenmaterial – wie viel lässt sich unmöglich abschätzen – befindet sich noch in privater Hand. Zu einer dieser Quellen erhielt ich glücklicherweise Zugang: zum Nachlass Carl Clam-Martinics, Adjutant des Feldmarschalls Schwarzenberg, der 1813 und 1814 Oberbefehlshaber der verbündeten Streitkräfte und später Präsident des österreichischen Hofkriegsrats war. Diese Schriftstücke enthalten wichtige und strittige Beobachtungen zum Feldzug von 1813 sowie eine bemerkenswerte Beschreibung Napoleons, den Clam-Martinic auf dessen Reise nach Elba begleitete.
Obwohl bei Napoleons Untergang die militärischen und diplomatischen Ereignisse die Schlüsselrolle spielten, versuche ich zudem, die Hoffnungen und Ängste seiner gewöhnlichen Untertanen zu beleuchten. Wie zahlreiche autokratisch regierende Führungsfiguren beobachtete auch Napoleon obsessiv die öffentliche Meinung. »Nichts ändert sich schneller«, bemerkte er einst, »aber sie lügt nie.« Belegt wird diese Überzeugung des Kaisers durch die bemerkenswerte Serie der Monatsberichte zur »öffentlichen Moral«, die er ab Oktober 1812 von den Präfekten aller französischen Départements einforderte. Diese liegen inzwischen ebenfalls im französischen Nationalarchiv, allerdings noch immer ohne eine systematische Auswertung. Selbst wenn den Départements ohne Zweifel daran gelegen war, sich beim Kaiser beliebt zu machen, zeichnen ihre Berichte doch ein vielsagendes Bild von den Einstellungen des einfachen französischen Volkes gegenüber dem Krieg, unter dessen Lasten es zu leiden hatte. Sie bringen zudem Licht in eine wichtige politische und psychologische Frage. Napoleon behauptete stets, die Franzosen würden ihn stürzen, sollte er keinen ruhmreichen Frieden schließen, und wies mit diesem Argument einen Friedenskompromiss zurück. Anhand der Monatsberichte versuche ich zu eruieren, ob Napoleons Wahrnehmung auf Fakten beruhte oder ob sie eine Täuschung war.
Abschied Napoleons von seiner Garde in Fontainebleau,
20. April 1814
© AKG Images, Berlin: (Horace Vernet, 1824; N. N.)
Zahlreiche Historiker brachten ein ganzes Arbeitsleben mit dem Versuch zu, eine so vielschichtige und brillante Persönlichkeit wie die Napoleons zu enträtseln. Während aus ihren Bemühungen häufig eine Biographie hervorging, deckt dieses Buch nur einen kurzen Zeitabschnitt in Napoleons Leben ab. Aber gerade bei einem großen Mann eröffnet der Augenblick seines Untergangs einen besonderen Einblick in seinen Charakter, in seine Antriebe und in die Gründe seines Scheiterns. Deshalb habe ich mich mit diesen drei Jahren beschäftigt.
1 A. J. F. Fain, Manuscrit de 1814, Paris 1830, S. 406, zitiert nach Ulrich Friedrich Müller (Hg.), Französische Reden von Mirabeau bis de Gaulle, München 1980, S. 50f.
2 Encyclopaedia Britannica.
3 G. Lefebvre, Napoléon, Paris 1935 (dt.: Napoleon, hrsg. von Peter Schöttler. Mit einem Nachw. von Daniel Schönpflug, autoris. Übers. a. d. Frz. von Peter Schöttler, Stuttgart 2003); J. Tulard, Napoléon: le mythe du sauveur, Paris 1977 (dt.: Napoleon oder der Mythos des Retters. Eine Biographie, a. d. Frz. von Caroline Vollmann, Frankfurt a. M., Berlin und Wien 1982); J. Holland Rose, The life of...