2 Verschiedene Formen der Gewalttätigkeit[7]
Wenn sich dieses Buch auch hauptsächlich mit den bösartigen Formen der Destruktivität befasst, möchte ich doch zunächst einige andere Formen der Gewalttätigkeit behandeln. Ich habe nicht etwa vor, sie erschöpfend zu erörtern, ich glaube jedoch, dass die Beschäftigung mit weniger pathologischen Manifestationen der Gewalttätigkeit zu einem besseren Verständnis der schwer pathologischen und bösartigen Formen der Destruktivität verhelfen kann. Die Unterscheidung zwischen den verschiedenen Typen der Gewalttätigkeit basiert auf dem Unterschied zwischen ihren jeweiligen unbewussten Motivationen, denn nur wenn wir die unbewusste Dynamik des Verhaltens verstehen, können wir auch das Verhalten selbst, seine Wurzeln, seinen Verlauf und die Energie, mit der es geladen ist, begreifen.[8]
Die normalste und am wenigsten pathologische Form ist die spielerische Gewalttätigkeit. Wir finden sie dort, wo man sich ihrer bedient, um Geschicklichkeit vor Augen zu führen und nicht um Zerstörung anzurichten, dort wo sie nicht von Hass oder Destruktivität motiviert ist. Für diese spielerische Gewalttätigkeit lassen sich Beispiele vieler Art anführen, von den Kriegsspielen primitiver Stämme bis zur Kunst des Schwertkampfes im Zen-Buddhismus: Bei all diesen Kampfspielen geht es nicht darum, den Gegner zu töten; selbst wenn dieser dabei zu Tode kommt, so ist es sozusagen sein Fehler, weil er „an der falschen Stelle gestanden hat“. Natürlich beziehen wir uns nur auf den idealen Typ solcher Spiele, wenn wir behaupten, dass bei der spielerischen Gewalttätigkeit ein Zerstörungswille nicht vorhanden sei. In Wirklichkeit dürfte man häufig unbewusste Aggression und Destruktivität hinter den explizit festgelegten Spielregeln finden. Aber selbst dann ist die Hauptmotivation, dass man seine Geschicklichkeit zeigt, und nicht, dass man etwas zerstören will.
Von weit größerer praktischer Bedeutung als die spielerische Gewalttätigkeit ist die reaktive Gewalttätigkeit. Darunter verstehe ich die Gewalttätigkeit, die bei der [II-170] Verteidigung des Lebens, der Freiheit, der Würde oder auch des eigenen oder fremden Eigentums in Erscheinung tritt. Sie wurzelt in der Angst und ist aus eben diesem Grund vermutlich die häufigste Form der Gewalttätigkeit; diese Angst kann real oder eingebildet, bewusst oder unbewusst sein. Dieser Typ der Gewalttätigkeit steht im Dienste des Lebens und nicht des Todes; sein Ziel ist Erhaltung und nicht Zerstörung. Er entspringt nicht ausschließlich irrationalen Leidenschaften, sondern bis zu einem gewissen Grad vernünftiger Berechnung, weshalb dabei Zweck und Mittel auch einigermaßen zueinander im Verhältnis stehen. Man hat eingewandt, von einer höheren geistigen Warte aus gesehen sei das Töten – selbst zum Zweck der Selbstverteidigung – niemals moralisch gerechtfertigt. Aber die meisten, die diese Überzeugung vertreten, räumen ein, dass die Anwendung von Gewalt zur Verteidigung des Lebens ihrem Wesen nach doch etwas anderes ist als die Gewalttätigkeit, die der Zerstörung um ihrer selbst willen dient.
Sehr oft beruht das Gefühl bedroht zu sein und die daraus resultierende reaktive Gewalttätigkeit nicht auf realen Gegebenheiten, sondern auf einer Manipulation des Denkens; politische und religiöse Führer reden ihren Anhängern ein, sie seien von einem Feind bedroht, und erregen auf diese Weise die subjektive Reaktion reaktiver Feindseligkeit. Daher ist auch die Unterscheidung zwischen gerechten und ungerechtfertigten Kriegen, die von kapitalistischen und kommunistischen Regierungen genauso vertreten wird wie von der römisch-katholischen Kirche, höchst fragwürdig, da gewöhnlich jede Partei es fertigbringt, ihre Position als Verteidigung gegen einen Angriff hinzustellen.[9] Es hat kaum einen Angriffskrieg gegeben, den man nicht als Verteidigungskrieg hinstellen konnte. Die Frage, wer mit Recht von sich sagen konnte, dass er sich verteidigte, wird gewöhnlich von den Siegern entschieden und manchmal erst viel später von objektiveren Historikern. Die Tendenz, jeden Krieg als Verteidigungskrieg hinzustellen, zeigt zweierlei: Erstens lässt sich die Mehrheit der Menschen, wenigstens in den meisten zivilisierten Ländern, nicht dazu bewegen zu töten und zu sterben, wenn man sie nicht vorher davon überzeugt hat, dass sie es tun, um ihr Leben und ihre Freiheit zu verteidigen; zweitens zeigt es, dass es nicht schwer ist, Millionen von Menschen einzureden, sie seien in Gefahr angegriffen zu werden und müssten sich daher verteidigen. Diese Beeinflussbarkeit beruht in erster Linie auf einem Mangel an unabhängigem Denken und Fühlen und auf der emotionalen Abhängigkeit der allermeisten Menschen von ihren politischen Führern. Falls diese Abhängigkeit vorhanden ist, wird so gut wie alles, was mit Nachdruck und Überzeugungskraft vorgebracht wird, für bare Münze genommen. Die psychologischen Folgen sind natürlich die gleichen, ob es sich um eine angebliche oder um eine wirkliche Bedrohung handelt. Die Menschen fühlen sich bedroht und sind bereit, zu ihrer Verteidigung zu töten und zu zerstören. Den gleichen Mechanismus finden wir beim paranoiden Verfolgungswahn, nur handelt es sich da nicht um eine Gruppe, sondern [II-171] um einen einzelnen. Aber in beiden Fällen fühlt sich der Betreffende subjektiv bedroht und reagiert aggressiv. Ein anderer Typ der reaktiven Gewalttätigkeit ist jene, die durch Frustration erzeugt wird. Aggressives Verhalten findet sich bei Tieren, Kindern und Erwachsenen, wenn bei ihnen ein Wunsch oder ein Bedürfnis unbefriedigt bleibt (vgl. J. Dollard et al., 1939). Ein solches aggressives Verhalten stellt einen, wenn auch oft vergeblichen, Versuch dar, sich das, was einem vorenthalten wird, mit Gewalt zu verschaffen. Es handelt sich dabei zweifellos um eine Aggression im Dienst des Lebens und nicht um der Zerstörung willen. Da die Frustration von Bedürfnissen und Wünschen bis zum heutigen Tag in den meisten Gesellschaften eine allgemeine Erscheinung war und ist, besteht kein Grund, sich darüber zu wundern, dass Gewalttätigkeit und Aggression ständig entstehen und sich äußern.
Mit der aus Frustration resultierenden Aggression verwandt ist die aus Neid und Eifersucht entstehende Feindseligkeit. Sowohl Eifersucht als auch Neid sind eine spezielle Art der Frustration. Sie gehen darauf zurück, dass B etwas besitzt, was A gern haben möchte, oder dass B von einer Person geliebt wird, deren Liebe A begehrt. In A erwacht dann Hass und Feindseligkeit gegen B, der das bekommt, was A haben möchte und nicht haben kann. Neid und Eifersucht sind Frustrationen, die dadurch noch verschärft werden, dass A nicht nur das, was er sich wünscht, nicht bekommt, sondern auch, dass jemand anderes statt seiner in den Genuss kommt. Die Geschichte von dem ohne eigene Schuld ungeliebten Kain, der seinen bevorzugten Bruder erschlägt, und die Geschichte von Joseph und seinen Brüdern sind klassische Beispiele für Eifersucht und Neid. Das psychoanalytische Schrifttum enthält eine Fülle von klinischen Daten über diese Phänomene.
Ein weiterer Typ, der zwar mit der reaktiven Gewalttätigkeit verwandt, aber dem Pathologischen bereits um einen Schritt näher ist, ist die rachsüchtige Gewalttätigkeit. Bei der reaktiven Gewalttätigkeit geht es darum, eine drohende Schädigung zu verhüten, weshalb diese Art der biologischen Funktion des Überlebens dient. Bei der rachsüchtigen Gewalttätigkeit dagegen ist die Schädigung bereits geschehen, sodass die Gewaltanwendung nicht mehr die Funktion der Verteidigung besitzt. Sie hat die irrationale Funktion, auf magische Art das, was in der Realität geschehen ist, wieder ungeschehen zu machen. Wir finden die rachsüchtige Gewalttätigkeit sowohl bei Einzelpersonen wie auch bei primitiven und zivilisierten Gruppen. Analysieren wir den irrationalen Charakter dieses Typs von Gewalttätigkeit, so können wir noch einen Schritt weitergehen. Das Rachemotiv steht im umgekehrten Verhältnis zur Stärke und Produktivität einer Gruppe oder eines Individuums. Der Schwächling und der Krüppel besitzt keine andere Möglichkeit, seine zerstörte Selbstachtung wiederherzustellen, als nach der lex talionis („Auge um Auge, Zahn um Zahn“) Rache zu nehmen. Dagegen hat der produktiv lebende Mensch dieses Bedürfnis nicht oder nur kaum. Selbst wenn er verletzt, beleidigt oder verwundet wurde, vergisst er eben durch die Produktivität seines Lebens das, was ihm in der Vergangenheit angetan wurde. Seine Fähigkeit, etwas zu schaffen, erweist sich als stärker als sein Verlangen nach Rache. Die Richtigkeit dieser Analyse lässt sich beim Einzelnen wie auch auf gesellschaftlicher Ebene leicht mit empirischen Daten belegen. Aus dem psychoanalytischen Material geht hervor, dass der reife, produktive Mensch weniger von der [II-172] Rachsucht motiviert ist als der Neurotiker, dem es schwerfällt, ein ausgefülltes, unabhängiges Leben zu führen, und der oft dazu neigt, seine gesamte Existenz um seiner Rache willen aufs Spiel zu setzen. Bei schweren psychischen Erkrankungen wird die Rache zum beherrschenden Lebenszweck, da ohne diese Rache nicht nur die Selbstachtung, sondern auch das Selbstgefühl und das Identitätserleben zusammenzubrechen drohen. Ebenso ist festzustellen, dass in den rückständigen Gruppen (im ökonomischen oder kulturellen und emotionalen Bereich) das Rachegefühl (zum Beispiel für eine nationale Niederlage) am stärksten zu sein scheint. So ist das Kleinbürgertum, dem es bei den Industrievölkern am schlechtesten geht, in vielen Ländern der Hauptherd der Rachegefühle, wie es ja auch der Hauptherd der rassistischen und nationalistischen...