Ein Paukenschlag – Der Tote am Bodensee
Der Tote am Bodensee. Kein Tatort-Krimi, sondern der überraschende Abgang eines Mannes, der in vielen Dingen größer als groß und für Millionen seiner Fans der Allergrößte war. Udo Jürgens. Eine Legende, die unsterblich schien, die die Fortsetzung seiner Tournee im Februar 2015 kaum erwarten konnte, sackt beim Sonntagsspaziergang an der Uferpromenade von Gottlieben zusammen. Er ist achtzig. Sein Freund, Chauffeur und Drummer Billy Todzo reißt beim nahen Gemeindehaus den öffentlichen Defibrillator aus der Verankerung, das Gerät versetzt dem Zusammengebrochenen Stromstöße, der Krankenwagen rast mit dem Sterbenden in die Klinik, zwei Stunden kämpfen die Ärzte vergeblich gegen den Tod. »Um 16.25 Uhr«, so berichtet Bild, »versammelt sich ein kleiner geschockter Kreis Freunde um das Totenbett.« Pepe Lienhard, sein Vertrauter und Bandleader, erzählt: »Udo lag ganz friedlich da, die Arme über die Brust gefaltet. Es sah aus, als würde er schlafen. Ich dachte, er würde jeden Moment die Augen aufschlagen, aber das tat er natürlich nicht. Ich konnte einfach nicht begreifen, dass er tot war.«
Der Tote vom Bodensee. Ist das ein Zeichen, dass dieses für viele Menschen einzigartige Musikgenie, der rastlose Jäger der Zweisamkeit, der ewige Zweifler an sich und der Menschheit und dem Gott, den er nicht fand, weil er ihn nie suchte – dass also dieser Über-Udo ausgerechnet an dem See das Ufer verließ, den drei Länder für sich beanspruchen? Österreich, da war er geboren, Deutschland, da wurde er Gigant, Schweiz, da fand er seine letzte Liebe. Sein Tod kam schnell und schmerzlos, sagen die Menschen, die ihn lieben. Wenigstens das.
An diesem Sonntag, kurz nach 17 Uhr, überlegen meine Frau Martina und ich, wo wir in Schwabing essen sollen. Sie schlägt Thai vor, ich italienisch. Wir einigen uns auf österreichische Küche. Die Waldfee in der Occamstraße. Wiener Schnitzel, Backhendl-Salat, einen Schoppen Riesling. Mein Handy ploppt. Breaking News. Erst n-tv, dann Bild. Oder umgekehrt. Die Meldung ist kurz und schrecklich: Udo Jürgens ist tot. Ich rufe meine Kollegin Patricia Riekel an, die BUNTE-Chefin. Sie weiß auch schon Bescheid. Sie ist bewegt, wie alle Kollegen, die in der folgenden Nacht Abschied nehmen von »Deutschlands größter Showlegende.« Sie sagt: »Wir treffen uns in der Redaktion, bin auf dem Weg.«
Die Rechnung bitte! Doch kein Kaiserschmarren?, fragt der Waldfee-Wirt, der wie Udo aus Kärnten stammt. Er kann nicht fassen, was ich ihm sage. Er ist bestürzt. Erzählt, dass vor ein paar Wochen Freunde von ihm nach einem Udo-Konzert in sein Schwabinger Gasthaus eingekehrt sind. Den ganzen Abend hätten sie geschwärmt. Diese Power mit achtzig! Auch ihre Kinder, die Justin-Bieber-Miley-Cyrus-Generation, hätten sich anstecken lassen von dem Mann, der ihr Urgroßvater sein könnte.
Ich bringe meine Frau nach Hause. Wir schweigen ein paar Sekunden. Dann summt sie unseren Lieblings-Udo-Hit »Ich war noch niemals in New York«. Ich summe mit. Passanten gucken uns schräg an. Sie wissen es noch nicht. Wir streifen das Haus, wo früher der Kunstsammler Cornelius Gurlitt wohnte, nicht einsam in seiner verschrobenen Welt, weil die Bilder, die ihm genommen wurden, seine Freunde waren. Ob auch er wohl ein Udo-Jürgens-Fan war? Oder auch nicht? Ein kruder Gedanke. So ist das wohl, wenn man die Realität verdrängen will.
Ich bin dann als Erster in der Redaktion – der kürzeste Weg. Was soll ich schreiben über den Mann, den ich kennenlernte, als ich fünfundzwanzig Jahre alt war und er zehn Jahre älter? Das BUNTE-Team trifft in der Redaktion ein. Eine lange Nacht, um ein Denkmal zu ehren. Ich beschließe, meinen Abschied vor allem, aber nicht nur, dem Womanizer zu widmen, mit einem Satz, den mir der Unersättliche immer wieder gesagt hat: »Allen Frauen bin ich sehr dankbar. Sie haben mir einen Teil meiner Einsamkeit genommen.«
19 Uhr ist es nun, und ich denke, dass ich zwei wichtige Frauen in seinem Leben anrufen sollte. Zuerst wähle ich die Handynummer von Corinna, Udos zweiter Ehefrau. Sie war sechzehn, als sie sich in Udo verliebte. Sie trennte sich nach zwölf Jahren von ihm, weil er sie nicht heiraten wollte. Sie ließ sich von einem anderen Mann verwöhnen. Udo, der mit Niederlagen schlecht umgehen konnte, kämpfte um sie. Heimliche Hochzeit in New York, nicht einmal seine Kinder hatte er eingeweiht. Corinna reagiert gefasst, als ich ihr kondoliere. Und dann erzählt sie: »Es war ein gnädiger Tod. Oft hat Udo mir gesagt, dass er keine Angst vor dem Tod hätte, nur vor einem schleichenden Siechtum. Zu meinem Geburtstag am 28. November hat er mir eine poetische, sehr liebevolle SMS geschickt, die ich nie löschen werde. Er hat mich geprägt, mir die wichtigste Zeit meines Lebens geschenkt.« Sie sagt noch, er habe, auch nach der Scheidung, gern mal ihre kranke Mutter besucht, die ihren Schwiegersohn bis zuletzt verehrte – trotz der heftigen Scheidungsschlacht.
Am Abend, als die Welt Abschied nimmt von Udo Jürgens, einer Welt, mit der er sich, je älter er wurde, immer kritischer und wütender auseinandergesetzt hatte als die meisten seiner Heile-Welt-Kollegen, klingelt bei der Wiener Juristin Sabrina Burda das Handy. Ihre Sekretärin teilt ihr mit: »Udo Jürgens ist gestorben.« Sabrina Burda schließt die Augen. Auch sie war sechzehn, als Udo sie bei einem Spaziergang im Wienerwald ansprach. Sie zittert nun. Ihre Tochter Gloria, die sich bereits für die Weihnachtsfeier in ihrer Tanzschule anzogen hat, fragt: »Mama, was ist?« Die Mutter sagt: »Dein Vater ist tot.« Gloria, Udos uneheliche Tochter, die vor einem Jahr ihre Matura bestanden hat, klammert sich an die Mutter, schluchzt: »Ich habe nun nie mehr die Gelegenheit, mich mit meinem Vater auszusprechen. Es gab so viele Dinge, die er mir hätte erklären sollen.« Ihre Mutter erzählt mir noch an diesem Abend: »Sie hat ihn so unendlich geliebt, es war keine einfache Tochter-Vater-Beziehung, obwohl Udo insgeheim stolz war auf sie.«
Ich rufe dann noch Hans R. Beierlein an, Udos Schöpfer. Der Manager, der ihn groß gemacht hat. Er ist hörbar erschüttert über den plötzlichen Abschied seines Freundes: »Udo strotzte doch so vor Lebenslust. Jedoch war es der sanfte Tod, den er sich immer gewünscht hat. Aber was heißt das schon? Nur sein Körper ist tot, seine Lieder machen ihn unsterblich. Merci, Udo!«
Als ich in dieser Nacht gegen zwei Uhr früh nach Hause komme, kann ich nicht einschlafen. Ich will aber nicht Udos Nummer-eins-Hits abspielen, muss auch den Fernseher ausschalten mit all den gut gemeinten Nachrufen auf allen Kanälen. Udo unser. Ein Volk unter Schockstarre. Es war, als wäre ein Familienmitglied aus dem kuscheligen Nest gerissen worden, der Mann am Klavier, dessen Konzerte so kommunikativ waren wie eine Nacht am Lagerfeuer. Vater unser, erst am Flügel, dann im weißen Bademantel. Ich war aufgekratzt.
Vor fünfundvierzig Jahren hatten wir uns kennengelernt, damals in einer Schwabinger Wohnung, weit nach Mitternacht, als er plötzlich aufkreuzte. Eine seiner Freundinnen und meine damalige Freundin teilten sich eine WG. Dass ich da war, jemand, den er nicht kannte, schien ihn zu stören. Doch nach ein paar Schoppen Wein duzte er mich und ich, mit fünfundzwanzig Jahren gerade als Lokalredakteur der ostwestfälischen Provinz entkommen, rief gleich am nächsten Tag meine Eltern an. Stellt euch vor, wen ich gestern getroffen habe … und so weiter.
Solche Schnipsel fügten sich in dieser Nacht zu einer Collage. Udo lebte, sein plötzlicher Herztod verblasste, verdrängt von meinen Erinnerungen. Kopfkino. Nach einem Udo-Konzert in Berlin schüttelte mir ein überschwänglicher Harald Juhnke sekundenlang die Hand: »Siehste, Paule, det issen Weltstar.« Noch so ein Bild: Monti Lüftner, der viel zu früh verstorbene Musik-Tycoon, der mit seiner zum Bertelsmann-Konzern gehörenden Plattenfirma Ariola den Jürgens-Boom mit entfachte, nimmt dich mit zum Wörther See. Im Schlosshotel Seefels gibt Udo spontan eine Session. Der Weekend-Flirt, den du gerade erst kennengelernt hast, lässt sich in dieser Nacht nicht mehr blicken. Erst beim späten Frühstück taucht die blonde Schönheit wieder auf, himmelt Udo an, tut so, als ob sie dich nicht kennt, rauscht mit ihm an dir vorbei auf sein Boesch-Boot, das größte am See. Später stößt noch Jörg Haider dazu, der umstrittene Rechtspopulist. Bussi links, Bussi rechts, im Nachhinein distanziert sich Udo: »Politisch geig ich ihm meine Meinung.« Oder: Du sitzt mit Udo an der Bar des Bayerischen Hofs in München. Anfang der Neunziger. Ein Männergespräch über Frauen. Die er hatte, na klar, dann eine überraschende Wendung, seine Stimme wird zärtlicher als zuvor: »Mit Aenne Burda verbindet mich eine tiefe, von Emotionen geprägte Beziehung. Sie ist eine tolle Frau, außergewöhnlich und immer noch wunderschön. Sie ist über achtzig Jahre alt. Sie ist immer noch sexy.«
Ich musste auch an einen heißen Sommertag denken. Einige Kollegen besuchten mich in meiner oberbayerischen Heimat. Sie brachten den inzwischen verstorbenen FAZ-Herausgeber und Autor Frank Schirrmacher mit. Mein Ghettoblaster plärrte: »Griechischer Wein«. Wir plärrten mit. Schirrmacher outete sich als Jürgens-Fan. Und ich dachte, Respekt, auch kluge Köpfe mögen Schenkelklopfer.
Ich erinnerte mich an ein Schreiben seiner Anwälte. Sie wollten meiner damaligen TV-Talkshow Aber bitte mit Sahner gerichtlich den Titel verbieten lassen: »wg. Urheberrecht«. Sein Lied »Aber bitte mit Sahne« sei geschützt. Ich rief Udo an, er kümmerte sich wohl darum. Der Name blieb.
Seltsam, was mir noch alles durch den Kopf ging in dieser Nacht. Auch, dass...